Geschichtsbilder jugendlicher MigrantInnen in Deutschland

von Viola B. Georgi

Generationenwechsel, Migrationsprozesse und Globalisierung bedingen einen Wandel von Geschichtsbewusstsein und Erinnerungskultur in allen europäischen Gesellschaften. Auch in der deutschen Einwanderungsgesellschaft sind Geschichts- und Erinnerungsbilder, Gegenstand von gesellschaftlichen Pluralisierungsprozessen. Ein beachtlicher Teil der heute in Deutschland lebenden Menschen besitzt ganz andere historisch-politische Erfahrungen, Familien- und Kollektivgeschichten als die Mehrheit der Herkunftsdeutschen. Der nationale Bezugsrahmen kollektiver Gedächtnisbildung stellt deshalb zunehmend eine Herausforderung dar. Denn in Einwanderungsgesellschaften entsteht ein neuer Verhandlungsraum, in dem viele Geschichten koexistieren, miteinander in Dialog treten, sich gegenseitig provozieren und nicht zuletzt auch konkurrieren.

In Einwanderungsgesellschaften gerät Geschichte in Bewegung, wird Gegenstand von gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen im zeitlichen und kulturellen Wandel sowie unter dem Dach der intergenerationellen Tradierung. In Migrationsgesellschaften müssen sich vielfältige kollektive Erzählungen und Erinnerungen unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen (MigrantInnen, Minderheiten, Mehrheitsgesellschaft) miteinander ins Benehmen setzen. Es ist die durch Zuwanderung sichtbar werdende – eigentlich aber immer schon vorhanden gewesene – gesellschaftliche Pluralität, die die althergebrachte Geschichtskultur, traditionell bemühte Geschichtsbilder und vermeintlich vertraute Formen des Geschichtsbewusstseins in Frage stellt bzw. mit neuen Fragen herausfordert.

Dabei darf aber nicht unterschlagen werden, dass es auch in Einwanderungsgesellschaften eine dominante Geschichte gibt, die in der Regel als Nationalgeschichte verfasst ist und an der sich die Neuhinzugekommenen abarbeiten müssen. Problematisch wird es, wenn diese Geschichte als ungebrochene, einzig geltende, identitätsstiftende und gemeinschaftsbildende konstruiert wird.

In Deutschland steht es außer Frage, dass der Nationalsozialismus und die Erinnerung an ihn für das Geschichtsbewusstsein in Deutschland konstitutiv sind. Der Historiker Norbert Frei schreibt der Vergangenheitsbewältigung in Deutschland deshalb sogar eine normativ-einheitsstiftende Bedeutung (Frei 1996) zu. Das Gedenken and die Opfer der NS-Verbrechen und die Auseinandersetzung mit der Wirkungsgeschichte des Holocaust bilden zweifelsohne den zentralen Bezugspunkt des politisch-historischen Selbstverständnisses der Bundesrepublik Deutschland.

Von diesen Überlegungen ausgehend, fragt die hier vorgestellte Studie Entliehene Erinnerung. Geschichtsbilder junger Migranten in Deutschland, ob eine solche national-geschichtlich fixierte Gesellschaft, Menschen aus anderen Traditionszusammenhängen, mit anderen Geschichten integrieren kann? Sie fragt auch, ob man von EinwanderInnen überhaupt erwarten kann, dass sie das negative historische Erbe Auschwitz annehmen. Die empirische Studie sucht Antworten, auf die Frage, wie sich Jugendliche aus Einwandererfamilien im Verhältnis zur Geschichte des Nationalsozialismus und des Holocaust positionieren.

Im Folgenden sollen einige Interviewauszüge aus der Studie skizziert und interpretiert werden:

Hülya: „Irgendetwas hab ich mit den Juden gemeinsam“

Das erste Fallbeispiel handelt von Hülya, einer siebzehnjährigen jungen Frau türkischer Herkunft. Ich lerne sie in einem Schülerprojekt mit dem Titel 'Jüdische Spuren in unserer Stadt' kennen, an dem sie freiwillig mitwirkt. Ihre Eltern kamen als so genannte Gastarbeiter nach Deutschland und leben seit über 25 Jahren in der BRD. Hülya und ihre Schwester sind im Alter von 6 Jahren aus der Türkei nachgeholt worden. Zum Zeitpunkt des Interviews besucht Hülya die 12. Klasse des Gymnasiums in einer deutschen Großstadt.

Die erste Begegnung Hülyas mit dem Thema Nationalsozia¬lismus und Holocaust findet in der Schule statt. Auf Eigeninitiative leihen sich Hülya und einige ihrer migrantischen Freundinnen einen Film zum Holocaust aus der Schulbibliothek aus. Hülya berichtet von den Nachwirkungen des Films:

"Und dann ham wir einen Film ausgeliehen. Ich und drei andere Türkinnen. Und da haben wir uns zu Hause hingesetzt und ham so en Film angeguckt. Ich konnt nicht mehr. Ich hab geheult ohne Ende. Und dann ham wir 's ausgemacht, ham wir alle zusammen geheult, ja. Und wir ham gar nicht mehr gesprochen. Wir waren so deprimiert und so... wie die Leute da verbrannt wurden und wie sie alle in die Züge eingestiegen sind und so. Also, wir hatten gar nicht gedacht, dass es so schlimm ist, ja, dass es so schlimm ausgeht, total krass war das. Ich hab Haß empfunden. Oberkrass so. Mich konnt in dieser Zeit niemand ansprechen. Ich hab die Leute auf der Straße nur so angeguckt, ich hätt auf die kotzen können, ja. So kam mir das hoch. Da war ich froh, dass ich nicht dazugehöre, dass ich Türkin bin."

Die jungen Frauen sind geradezu geschockt, als sie realisieren, dass sie inmitten der ehemaligen TäterInnen-, MitläuferInnen und ZuschauerInnengesellschaft leben. Die Erkenntnis sich in dem Land zu befinden, das Ausgangspunkt und Tatort dieser Verbrechen gegen die Menschheit war, stößt sie ab und stimmt sie misstrauisch. Das Wissen um den Holocaust beeinflusst das Verhältnis zur deutschen Umgebung nachhaltig negativ. Zudem rekurriert Hülya, die sich sonst "ganz deutsch fühlt" hier mit großer Erleichterung auf ihre türkische Herkunft - ist froh, nicht dazu zu gehören. Im nächsten Segment konstruiert Hülya einen Zusammenhang zwischen der Deutschen Staatsbürgerschaft, ihrer muslimischen Glaubenszugehörigkeit und der Gemeinsamkeit, die sie mit den Juden empfindet. Hülya interpretiert ihre persönliche Betroffenheit bezüglich des Schicksals der Juden im Nationalsozialismus als auf einer Gemeinsamkeit beruhend, dem Sachverhalt nämlich, dass Hülya, so sie die deutsche Staatsangehörigkeit annimmt, Deutsche mit anderem Glauben sein wird. Ihren muslimischen Glauben betont Hülya, möchte sie auch als deutsche Staatsbürgerin weiterhin praktizieren. Genau hier gerät sie in ein Dilemma.

"Ich glaube, ich fühle mich so sehr betroffen, weil ich irgendetwas gemeinsam hab mit den Juden. Weil, ich will jetzt die deutsche Staatsangehörigkeit annehmen. Ich hab dann immer noch meine Religion. Bin immer noch Muslim, aber bin deutsch dann, hab ne deutsche Staatsangehörigkeit. Das war ja bei den Juden auch fast so, dass die ne andere Religion hatten, aber trotzdem deutsch waren, ja. Und, dass die dann verfolgt wurden, nur weil sie eine andere Religion hatten, einen anderen Glauben. [...] Ich habe Angst, dass mir als muslimische Deutsche das gleiche passieren könnte, wie den jüdischen Deutschen."


Fallbeispiel Bülent: „Ich kann mich für Dinge interessieren, für die sich jugendliche Deutsche auch interessieren.“

Bülent  ist der einzige Jugendliche aus seiner Klasse, der an einer Gedenkstättenfahrt nach Theresienstadt teilnimmt, die während der Schulferien stattfindet. Ich lerne ihn vermittelt durch die VeranstalterInnen der Gedenkstättenfahrt kennen. Er ist zum Zeitpunkt des Interviews 16 Jahre alt und besucht die 10. Klasse einer Realschule in einem urbanen Ballungsgebiet. Die Mutter ist türkischer Herkunft, aber bereits in Deutschland geboren. Der leibliche Vater stammt ebenfalls aus der Türkei und kam als sehr junger Arbeitsmigrant in die BRD. Die Eltern sind geschieden. Die Mutter lebt seit Bülents achtem Lebensjahr mit einem deutschen Mann zusammen, der die soziale Vaterrolle für Bülent übernommen hat. Interessant erscheint zunächst die Eröffnungssequenz des Interviews. Die Interviewerin fragt, "Wie kam es, dass Du Dich mit dem Nationalsozialismus beschäftigt hast?" Bülent antwortet:

"Ja, wie soll ich sagen - viel durch die Medien, aber auch durch die Schule. Da wird ja auch immer so von geredet - halt bla, bla, bla - auch wegen den ausländischen Kindern, dass die halt anders wären, als die Deutschen, dass die sich dafür nicht viel interessieren würden. Ich weiß nicht, viele Ausländer werden so angesehen wie richtige Ausländer. Zum Beispiel ich: ich bin hier zum Beispiel geboren und aufgewachsen. Ich sprech die Sprache besser als meine. Und ich mein, für mich ist da kein Unterschied. Ich kann mich für Dinge interessieren, für die sich jugendliche Deutsche auch interessieren. Zum Beispiel: Es gibt viele deutsche Jugendliche, die überhaupt keine Ahnung haben von deutscher Geschichte [...] Das interessiert die Leute eigentlich gar nicht. Die sind der Meinung: Ausländer ist Ausländer und deutsch ist deutsch. Und, ob man hier geboren ist, ist egal."

Bülent argumentiert aus einer defensiven Haltung heraus. Die Auseinandersetzung mit der Geschichte des NS und des Holocaust entfaltet er im Spannungsfeld der Gegenüberstellung: Deutsche und AusländerInnen. Er beansprucht das gleiche Recht wie deutsche Jugendliche, sich mit dem Thema zu befassen, und kritisiert, dass man Jugendliche nicht-deutscher Herkunft von vornherein stigmatisiere, in dem man ihnen ein Interesse an der deutschen Geschichte abspreche und sie wie "richtige Ausländer" behandele. Er wehrt sich gegen das Überstülpen der Kategorie AusländerInnen. Bülent strebt nach einer Auflösung der dichotomen Konstruktion - Ausländer - Deutsche.

Dieses Thema der Selbst- bzw. Fremdzuschreibung zieht sich wie ein roter Faden durch das gesamte Interview und greift auf die geschichtsrelevanten Themen über. Bülent befindet sich offenbar an einem kritischen Punkt der Auseinandersetzung mit sich selbst und seinen Zugehörigkeiten. Er kämpft um eine Mehrfachidentität. Der Umgang mit der Geschichte des NS wird dabei zu einem Austragungsort dieses Konflikts um das Dazu-Gehören. Bülent unterstreicht sein Recht an vermeintlich 'deutsch' besetzten Themen in gleicher Weise teilzuhaben wie die deutschen Jugendlichen auch. Dabei bezieht er sich auf die Erfahrung, sich für seine Entscheidung, an der Gedenkstättenfahrt teilzunehmen, rechtfertigen zu müssen und zwar vor den deutschen MitschülerInnen in seiner Klasse:

"Aber dann haben die so gesagt: Die meisten Ausländer würden das nicht tun. Aber das ist Quatsch. Ich mein, in meiner Klasse, die ganzen Deutschen, warum ham die das nicht gemacht. Das frag ich mich. [...] Am Anfang ham se gesagt: Was willst du eigentlich dort. Fahr doch lieber in die Türkei, bla, bla, bla."

Bülent ist enttäuscht darüber, dass ihn seine MitschülerInnen nicht anerkennen. Sie exotisieren ihn und sein Engagement in Sachen NS-Geschichte, in dem sie ihn zur Ausnahme erklären. Sie halten daran fest, dass dieses Thema AusländerInnen nicht interessiere. Hinzu kommt, dass seine MitschülerInnen ihn bereits vor der Fahrt auf sein vermeintliches Heimatland verweisen, nämlich mit der Frage: was er eigentlich in Theresienstadt wolle und warum er nicht lieber in die Türkei fahre? Bülents Versuch, sich die Geschichte des NS anzueignen, wird durch die national-historische Zuschreibung seiner MitschülerInnen sanktioniert. Der Verweis auf die Türkei dient der dortigen historischen Verortung Bülents, so als gelte für dieses Thema „Germans only“. Für Bülent bedeutet diese Erfahrung eine erneute Zurückweisung durch seine deutschen MitschülerInnen, denen er auf diesem Wege doch eigentlich näher kommen wollte.

Während des Aufenthaltes der Gruppe in Theresienstadt gibt es noch eine weitere Szene, die sich in dieses Bild fügt: Einige der deutschen Teilnehmerinnen weinen am Krematorium. Als Bülent ihnen mitteilt, dass ihm nicht zum Weinen zu Mute sei, lassen die Mädchen ihn wissen: "Du als Ausländer - hast ja auch keine Ahnung, worum es hier geht". Bülent reagiert mit Wut und Ohnmachtgefühlen:

"Und das is ein Punkt gewesen, wo ich mich aufgeregt hab, weil ich kann das nicht akzeptieren. Erstens: Ich durfte nicht hierher kommen. Ich bin hier geboren. Zweitens: ich hab den deutschen Paß. [...] Ich fühl mich hier nicht als Ausländer. Das ist meine Heimat. [...] Und ich bin auch en Deutscher. Also, irgendwo bin ich ein Deutscher, aber irgendwo auch türkisch. Ich bin eben beides."

In diesem Zitat - besonders dem letzten Satz "ich bin eben beides" artikuliert sich geradezu der Schrei nach dem gesellschaftlichen Raum, in dem sein bi-kulturellen Selbstverständnis anerkannt wird. Am Ende des Interviews denkt Bülent über historische Last und Schuld nach. Dabei kommt ein kurioser Moment nationaler Selbstzuschreibung zum Vorschein.

"Ich betrachte mich ja selbst auch als Deutscher. Ich sag mal: ich hab gar keine Last. Ich glaub auch nicht, dass irgendein deutscher Bürger eine Last hat, der heute lebt. Also, ich mein, ich sprech mal jetzt als Deutscher. Wir können für damals, für das, was da passiert ist nichts. Dafür können nur die Leute was, die so dumm waren und auf Adolf Hitler gehört haben [...] wir können für damals nichts. Also, das sind die Leute, die damals was gemacht haben, denen sollte man die Schuld in die Schuhe schieben, nicht uns. Als wir in Tschechen waren, dass war eigentlich das einzige Mal, wo ich als Deutscher angesehen worden bin. Also, da hab ich mich als „Reindeutscher“ gesehen. Da hab ich den Türken in mir vergessen, weil da war es was anderes. [...] Da kam ich mir schon so schlecht auch vor, weil die Deutschen da so Schlimmes verbrochen haben. Das sind solche Momente, wo man drüber nachdenkt und wo man auch ein bisschen Schuldgefühl kriegt. Da hab ich mich echt als Deutscher angesehen, also als ein Gast in einem Land, der nicht gern gesehen wird."

Fallbeispiel Murat: „Ich versteh mehr als die anderen, weil ich weiß, was Leiden heißt.“

Murat ist zum Zeitpunkt des Interviews 16 Jahre alt und besucht die 10 Klasse einer Realschule im einem städtischen Ballungsgebiet. Er stammt aus einer kurdischen Familie. Der Vater kam als Arbeitsmigrant zu Beginn der 60’er Jahre nach Deutschland. Murat, seine Mutter und die Geschwister wurden erst später nachgeholt.

Murat macht bereits zu Beginn des Interviews darauf aufmerksam, dass seine spezifische Erfahrung als Kurde ihn ganz besonders für die Geschichte der Juden sensibilisiert habe, und dass er deshalb auch mehr verstehe als seine MitschülerInnen:

"Ich versteh mehr als die anderen, weil ich weiß, was Leiden heißt. (...) Und, was früher mit Deutschland passiert ist, ist fast gleich wie heute mit den Kurden. z.B., wie die Deutschen die Juden verjagt haben. Das ist doch das Gleiche, wie es die Türken mit den Kurden machen. Sie dürfen nicht machen, was sie wollen. z.B. ein Jude durfte kein Bankkaufmann werden. Ein Jude durfte keinen Laden besitzen. Ist ja das Gleiche, wie mit Kurden. Nicht so gleich. Kann ja schon ein Kurde einen Laden besitzen. Aber irgendwann mal wird’s kommen und die Türken sagen: Nein, du darfst hier keinen Laden eröffnen. Irgendwann wird es kommen."

Der Textausschnitt zeigt: Murat setzt die Verfolgungsgeschichte der jüdischen Minderheit im Nationalsozialismus in Beziehung zur Verfolgungsgeschichte der kurdischen Minderheit in der Türkei. Er weist in dieser Passage, mit am historischen Wahrheitsgehalt gemessenen eher problematischen Beispielen auf das Berufsverbot (ein Jude darf  kein Bankkaufmann werden) und das eingeschränkte Eigentumsrecht bzw. die Enteignung der Juden im Nationalsozialismus hin (Juden durften keinen Laden besitzen) und überträgt diese Beispiele der Entrechtung und Enteignung auf die, wie er meint, künftige Lebenssituation der in der Türkei lebenden Kurden. Dann fährt er fort:

"An der Judenverfolgung hat mich interessiert, wie die Menschen da kaputtgingen. Das waren auch Menschen ja, wie die Deutschen. Aber, die ham nicht eingesehen, dass die Menschen, dass die auch Rechte haben. Das hat mich sehr interessiert. Ich hab Schindlers Liste gesehen. Ich konnt es gar nicht glauben, wie das da abgeht. [...] z.B. kommt einer aus dem Haus und erschießt beim Morgensport die Leute da. [...] Und die wurden immer getötet und verbrannt - und wie die Asche da hochging (6. Sekunden, schluckt) das konnt ich gar nicht glauben.

Wir Kurden lassen es nicht so weit kommen, aber wir haben auch viel Angst. Am meisten leidet mein Bruder. Weil mein Bruder hat mein Onkel so sehr sehr geliebt. Mein Onkel war bei PKK-Einsatz. Und wo er auf einmal weg war, war ihm sehr schlimm. Und mein Bruder sucht ihn sehr sehr lange. [...] Jeden Tag weinen wir um ihn. [...] Und das wollen wir auch nicht, dass z.B. so viele Kurden getötet werden, wie damals die Juden. Das wollen wir ja nicht, dass so was passiert immer weiter. [...] Wir wollen doch nur Gerechtigkeit für das kurdische Volk."

Diese Szene enthält einen auf den ersten Blick irritierenden Bruch, der im Wechsel von der Nacherzählung einiger Filmszenen aus Schindlers Liste zur Realgeschichte über das Verschwinden eines Onkels während eines PKK Einsatzes in der Türkei sichtbar wird. Das in Schindlers Liste vorgeführte sinnlose Töten sowie die dramatischen menschlichen Verlusterfahrungen, die Murat im Gedächtnis haften geblieben sind, gleiten übergangslos in die Erzählung über die verzweifelte Suche eines Angehörigen in der eigenen Familie über. Schließlich erfolgt der Appell, dass man es mit den Kurden nicht soweit kommen lassen dürfe.

Murats Thema ist der Kurdisch-Türkische Konflikt. Dieser wird zum Ausgangspunkt aller von Murat im Interview hergestellten Geschichtskonstruktionen. NS-Zeit und Holocaust erscheinen ausschließlich im Zusammenhang der Verfolgung der kurdischen Minderheit in der Türkei. Durch die Entfaltung der Repressionserfahrung der Kurden in der Türkei vor der historischen Kulisse nationalsozialistischer Gewaltherrschaft kann Murat seinem politischen Anliegen besonderes Gewicht verleihen und für sein deutsches Gegenüber dramatisieren. Murat spürt, dass er für die Sache der Kurden werben kann, wenn er sie für das deutsche Gegenüber kontextualisiert.

Kontextualisieren heißt hier vor allem eine vergleichende Perspektive hervorzuheben, etwa die Ungerechtigkeit, die der kurdischen Minderheit in der heutigen Türkei widerfährt, in Beziehung zu setzen, zu Enteignung, Diskriminierung und Verfolgung der jüdischen Minderheit während des Nationalsozialismus. Der Hinweis auf die Vernichtung der Juden dient Murat dazu, auf die Bedrohung, die er für das kurdische Volk sieht Aufmerksam zu machen. Wenn er prophezeit, dass den Kurden ein ähnliches Schicksal widerfahren könne, wie den Juden, appelliert Murat im Grunde an die deutsche Gesellschaft dies zu verhindern. Murat zeigt damit eine bemerkenswerte Einsicht in die Paradigmen und die Funktionsweisen deutscher Geschichts- und Erinnerungsdiskurse. Es scheint, als ahne er, dass der deutsche Sorgehorizont für das Schicksal des kurdischen Volkes sich nur dann öffnet, wenn er die Unterdrückung der Kurden in die Nähe einer Wiederholung von Auschwitz rückt.

Fallbeispiel Fahrhad: „Ich bin immer mehr mit dem Nationalsozialismus zusammengewachsen.“

Farhad ist in Teheran im Iran geboren. Seine Eltern flüchteten nach der iranischen Revolution - als Farhad gerade ein Jahr alt ist in die Bundesrepublik. Die Eltern sind heute geschieden. Die Mutter lebt seit 9 Jahren mit  einem neuen Lebenspartner zusammen, der deutscher Herkunft ist. Dieser und dessen Familie sind für Farhad sehr stark mit dem Nationalsozialismus besetzt und bilden zugleich den Fixpunkt seiner Aneignung dieser Geschichte. Zum Zeitpunkt des Interviews ist Farhad 18 Jahre alt und besucht die zwölfte Klasse des Gymnasiums. Geschichte hat er als Leistungsfach gewählt. Ich lerne ihn während einer Hospitation kennen. Farhad eröffnet das Interview wie folgt:

"Also, […] ich hab mich schon von klein auf mit dem Nationalsozialismus beschäftigt. Und hab auch immer Mal meine Eltern gefragt und die wussten halt nicht sehr viel hier über die Zeit. Und in der Nachbarschaft haben viele alte Leute gelebt. Und ich hab mich halt mit denen gut verstanden. Und die ham mir auch immer so erzählt, was sie erlebt haben, als die Bomben fielen, wie die Männer an der Front waren und so. Und als sich meine Eltern ham scheiden lassen, kam der Freund meiner Mutter. Der ist Deutscher. Und ich hab ihn auch immer gefragt. Er hat ja auch noch seine Eltern gehabt damals und durch ihn bin ich auch mehr mit dem im Nationalsozialismus zusammengewachsen. Wie er erzählt hat, wie er das als kleines Kind erlebt hat, wie seine Eltern da gelebt haben und so, wie hart es war zu der Zeit in Frankfurt. Und durch ihn bin ich dann immer mehr mit dem NS zusammengewachsen."

Auffällig ist in Farhads Erzählung, die Bedeutung der familienbiographischen Dimension für seine Aneignung des Themas. Von den leiblichen Eltern, die aus dem Iran stammen, kann er nur wenig über die Zeit des NS in Deutschland erfahren. In der Absicht dieses Defizit zu kompensieren sucht Farhad die älteren deutschen Nachbarn auf, aus deren Erzählungen er lokalgeschichtliche Informationen aus erster Hand schöpfen kann. Als einen Wendepunkt in der Auseinandersetzung benennt Farhad die Scheidung seiner Eltern und das Zusammenleben mit dem neuen, deutschen Freund seiner Mutter, der den Nationalsozialismus und den Krieg als Kind miterlebt hat. Über dessen Erzählungen und die Erzählungen von dessen Eltern - Farhads deutschen Stiefgroßeltern - erhält er Einblicke in persönliche Motive, das Alltagsleben im NS, das Erleben des Krieges und der Bombenangriffe vor Ort.

In der gleich zweimal verwendeten und in diesem Zusammenhang eher befremdlich klingenden Umschreibung Farhads, dass er auf diese Weise mit dem Nationalsozialismus ‘zusammengewachsen’ sei, drückt sich eine kaum stärker formulierbare Verbundenheit aus. Ausschlaggebend hierfür scheint, dass der deutsche Familienteil Farhad in familienbiographische Erinnerungen einbindet und ihm damit ein kollektivgeschichtliches Identifikationsangebot unterbreitet. Folgende Sequenz zeigt, wie sehr Farhad bereits in einen deutschen Opferdiskurs über die Geschichte des NS und seine Folgen verstrickt ist:

"Krieg hat mich früher immer interessiert, also wer wen angegriffen hat, wer wem den Krieg erklärt hat. Was mich immer gestört hat, das waren die Bombenkriege. Also, das mit dem Bombardement auf Dresden halt. [...] Und wenn ich mal ne Möglichkeit hätte, dann wär das einzige, was ich an der Geschichte verhindern würde, wäre dieser Angriff auf Dresden. Weil der Angriff auf Dresden drei Monate vor Kriegsende - das war ein Verbrechen sozusagen."

Dass Farhad ausgerechnet Dresden als das "Verbrechen" des Zweiten Weltkrieges heraushebt, das er verhindern würde, scheint die eingangs formulierte These, der Verstrickung Farhads in deutsche „Geschichtsgeschichten“ - insbesondere in den deutschen „Wir waren alle Opfer Diskurs“ zu bestätigen. Er nimmt Teil an der Konstruktion einer ganz bestimmten historischen Erinnerung - einem kollektiven Gedächtnis, welches die Ursachen des Krieges und die schuldhafte Verstrickung der Deutschen in das nationalsozialistische Unrechtssystem ausblendet, die wirklichen Opfer der Terrorherrschaft entthematisiert. (Vgl. Rosenthal) und die eigenen Leiden in den Vordergrund schiebt.

Im folgenden Abschnitt spricht Farhad über sein Aufwachsen in Deutschland. Dabei wird ihm seine Verwurzelung in Deutschland - auch bezogen auf die deutsche Geschichte bewusst.
 
"Ich bin hier mit diesen Regeln aufgewachsen und fühl mich auch darin wohl [...] zu meiner Heimat hab ich halt die Verbindung nur über meine Eltern, über meine Großeltern. [...] Ich war noch nie dort im Iran. [...] Ich hab mich auch mit dem Iran beschäftigt. Aber ich hab mich größtenteils intensiver mit der deutschen Geschichte befasst, weil's natürlich hier auch mehr über die deutsche Geschichte gibt, als über die iranische Geschichte zum Beispiel. Aber mein Interesse liegt mehr hier. Hier bin ich mehr drin in der Geschichte."

Fazit

Die vorgestellten Ausschnitte illustrieren die vorhandene Vielfalt der Geschichtsbezüge, die bei aller Unterschiedlichkeit, auch Gemeinsamkeiten aufweisen. Alle Jugendlichen ringen in der Auseinandersetzung mit der NS-Geschichte auch mit Fragen von Zugehörigkeit. Dabei ist auffällig, dass es nicht so sehr die national-kulturelle Herkunft ist, die die Umgangsweise mit der NS-Geschichte prägt, sondern vielmehr die gesellschaftliche Positionierung als Angehöriger einer Minderheit in der deutschen Mehrheitsgesellschaft. Über die Aneignung, Annahme oder Abgrenzung von der Geschichte des Nationalsozialismus wird Zugehörigkeit zur Mehrheitsgesellschaft verhandelt, behauptet, in Frage gestellt oder zurückgewiesen. Dabei geht es darum, sich zu unterschiedlichen historischen Bezugsgruppen in Beziehung zu setzen.

Dabei lassen sich vier verschiedene Typen unterscheiden:

Im ersten Typus (Typ I) geht es um die Verhandlung des historischen Opferstatus über die Strategie von Analogiebildungen. Selbsterfahrene Diskriminierung und Rassismus in der deutschen Aufnahmengesellschaft werden zu den Ausgrenzungs- und Verfolgungsmechanismen des NS-Regimes in Beziehung gesetzt. Die eigene Lebenssituation als Angehöriger einer Minderheit in Deutschland bzw. die Position als AusländerIn wird mit der der jüdischen Opfer nationalsozialistischer Rassenpolitik verglichen.

Im zweiten Typus (Typ II) geht es um die Verhandlung des MitläuferInnen- und TäterInnen-Status. Im Mittelpunkt der Geschichtskonstruktion steht die Bezugnahme auf die ZuschauerInnen-, MitläuferInnen- und TäterInnengesellschaft, deren Sozialperspektiven probeweise eingenommen werden (etwa die Perspektive ehemaliger Wehrmachtsoldaten). Es kommt dabei nicht selten zu einer Reproduktion von Mythen über den Nationalsozialismus.

Der dritte Typus (Typ III) fokussiert auf die eigene minoritäre ethnische Community bis hin zu einer Instrumentalisierung der Erinnerung an den Holocaust für den eigenen Opfer-Status, der in der deutschen Aufnahmegesellschaft auf diese Weise eingeklagt wird. So nutzen junge MigrantInnen, die ihre eigene Verfolgungsgeschichte, die Leidensgeschichte ihrer Familie oder auch ihrer ethnischen Gruppe in der Aufnahmegesellschaft nicht repräsentiert bzw. anerkannt sehen, die Erfahrungen der historische Bezugsgruppe der NS-Opfer als Projektionsfläche für die Abbildung ihrer eigenen Geschichte. Es scheint, als ahnten die Betroffenen, dass sich der deutsche Sorgehorizont für ihre Geschichte(n) nur dann öffnet, wenn diese in eine Nähe zu Auschwitz gerückt werden.

Typus vier (Typ IV) bezieht sich auf die universelle Dimension des ZuschauerInnen-, TäterInnen- und Opferseins. Der Holocaust wird mit aktuellen Phänomenen verglichen: mit Rassismus, Ausländerfeindlichkeit, Rechtsextremismus, Menschenrechtsverletzungen und Genozid. Diese Kontextualisierung im Spiegel globalen Zeitgeschehens findet ihren Ausdruck in einer universalistischen Perspektive. In Auseinandersetzung mit dem negativen historischen Exemplum Auschwitz werden Beurteilungsmaßstäbe und Handlungsstrategien für die Gegenwart entwickelt. Die historische Bezugsgruppe dieses Typus ist die gesamte Menschheit. Hintergrund der Positionierung als Mensch scheint eine in der Migration entwickelte post-nationale bzw. post-ethnische Orientierung (Hollinger 1995) von Jugendlichen aus Einwandererfamilien zu sein.

Typologie in der Übersicht

Typ I 
Fokus Opfer der NS-Verfolgung 

Identifikation mit der historischen Bezugsgruppe der Opfer des Nationalsozialismus

Typ II
Fokus ZuschauerInnen, MitläuferInnen und TäterInnen im Nationalsozialismus

Identifikation mit der historischen Bezugsgruppe der TäterInnen-, MitläuferInnen- und ZuschauerInnengesellschaft

Typ III
Fokus „eigene“ ethnische Gemeinschaft 

Identifikation mit der „eigenen“ ethnischen Gruppe als historischer Bezugsgruppe

Typ IV
Fokus Menschheit

Identifikation mit der Menschheit als historischer Bezugsgruppe

Dezember 2008

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Dr. Viola B. Georgi ist Juniorprofessorin für Interkulturelle Erziehungswissenschaft an der FU Berlin. Zu ihren Arbeitsschwerpunkten gehören Interkulturelle Bildung, Citizen Education, Demokratiepädagogik, Migrationsforschung und Holocaust Education.