Katalogtext von Jovan Nikolić anlässlich der Ausstellung von Roma- und Sinti –KünstlerInnen im Stadtmuseum Köln
Seit meiner Kindheit faszinierten sie mich.
Die Zeilen, die folgen, sind eine leichte Kontemplation in Zusammenhang mit der Frage, welche Berührungspunkte und Ähnlichkeiten diese „zwei Völker“, Zigeuner und Zirkusartisten, haben und warum!
Die Clowns sind Kinder der Menschheit. Die Sekte, die sich weigerte erwachsen zu werden aus Protest gegen Besatzer und Thronräuber der Wirklichkeit, gegen jene, die dem „Erwachsenwerden“ aufgesessen sind.
Verschwörer, Witzbolde, Komödianten, Possenreißer, Meister der Grimassen, die alles verspotten können, alles auf den Kopf stellen. Die besten von ihnen verließen das Leben freiwillig: Ein Salto mortale ist ein ungeschriebener Code, die letzte Nummer, ein Crescendo der Spitzenclowns.
Unter ihren Masken versteckt, ihre geheime Verabscheuung des konventionellen Lebens, des Dahinvegetierens in der Altersrente.
Zigeuner sind die Stiefkinder dieser Welt. Bis heute haben sie nicht einmal den Kinderstatus erreicht. Obwohl es ihnen nicht an Infantilität mangelt. Im Gegenteil. Doch sie sind im zivilisatorischen Sinne nicht einmal geboren! Sie haben noch nicht einmal die Fötuslage verlassen. Sie verharren zwischen Existieren und Nichtexistieren, unter ihren wie zum Gebet gefalteten Kinderhänden (wie bei einem Fötus), unter den Händen von Bettlerinnen und Bettlern, verstecken sie das Geheimnis ihrer Unzerstörbarkeit.
Zigeuner sind auch Spitzenseiltänzer! Ihr Leben lang tanzen sie auf dem gespannten Seil über dem Abgrund der Existenz, ohne Sicherheitsnetze …
Auf der Saite einer Violine (Pflichtgriff ist g-Moll) halten sie das Gleichgewicht mit einem Bogen, der aus Hengstschweif gemacht und mit Kolophonium geölt ist. Auf der Saite, die zwischen dem Steg und den Wirbeln, zwischen Sein und Nichtsein, zwischen dem Sinn und dem Nichts gespannt ist.
Genau wie die Zirkusartisten leben auch die Zigeuner in Zelten. Der Unterschied besteht in Dimensionen und Lokalitäten. Die einen schlagen ihre dunkelgrauen unscheinbaren Zelte auf den Wiesen an den Stadträndern und an Mülldeponien auf, während die anderen ihre mehrfarbigen und bunten, leuchtenden Arenen aus Stoff auf den Marktplätzen in den Stadtzentren errichten. Der Eintritt in die Zigeunerzelte ist kostenlos, denn dort gibt es viel zu schauen, aber nicht viel zu sehen.
Die anderen verlangen Eintrittsgeld.
Sowohl die einen als auch die anderen verbringen ihr ganzes Leben auf Reisen in Häusern auf Rädern. In Zigeunerwagen oder Wohnwagen. Sie haben begriffen, dass sich nur so überleben lässt: in Bewegung.
Reisewütige, gezwungen auf ewig ihre Spuren mit Pferdehufen und Rädern zu schreiben. Von Siedlung zu Siedlung. Von Stadt zu Stadt. Auf der Suche nach ihrer gemeinsamen Heimat „Nimmerland“!
Denn wenn den Menschen die Routine bis zum Hals steht, Klischees aus dem Alltagsleben unerträglich werden, rufen sie die Zigeuner und Zirkusartisten um Hilfe. Fliehen in die Wirtshäuser und Zirkuszelte, um mit Hilfe von Zerstreuung und Illusionen die schädlichen Substanzen auszustoßen.
Panem et circenses, die plebejische Seelenhygiene.
Zigeuner und Artisten, zeitgenössische Gladiatoren, Hygieniker und Botschafter menschlicher Seelen!
Kinder lieben Clowns und vor Zigeunern macht man ihnen Angst.
Wenn sie erwachsen werden, genauer gesagt, wenn sie ohne Fallschirm in die Welt der Erwachsenen fallen, missachten sie sowohl die einen als auch die anderen. Doch sie beneiden sie auch. Wegen ihres Mutes und ihrer Freiheit. Es gibt keine Freiheit ohne Mut.
Die Clowns tun so, als ob sie falsche Trompeten, Plastikgitarren und Akkordeons spielen, Musikparodien machen zu Gunsten des Witzes. Die Zigeuner verwandeln die Parodie ihrer Halbleben auf rußigen und öligen Lauten, Fiedeln, Trompeten und Kontrabässen in Mollspektren unvergleichlicher Musik. Durch diese Musik flicken sie ihre emotionellen Risse, Seelenschmerzen, Traurigkeiten zu Gunsten unserer kardiovaskularen Organe.
Wenn Menschen die Klänge verzaubernder Zigeunermusik hören, verspüren sie Erleichterung, ihre Verdrossenheit schwindet und sie denken, dass ihr Gehör etwas Heiteres und Heilsames trank. Doch das ist völlig falsch. Fast alle, die der Welt von Seriösen und auf Dauer durch das vorgegebene Leben Infizierten angehören, sind Besitzer von kleinen Narben und Löchern in ihrem emotionalen Wesen. Wenn die Zigeuner durch ihre Musikinstrumente mit ihren Narben und schwarzen Löchern statt mit ihrer Seele auf sie feuern, geht es auch den Zigeunern besser: Momentan werden sie gesund, wenn sie spüren, dass es viel größeres und schwärzeres Unglück gibt als ihr eigenes ... (Zigeuner als autodidaktische Kardiologen).
Auch in Kleidung und Kostümen, die sie benutzen, ähneln sie einander. Sowohl die einen als auch die anderen kränkeln an einer grotesken Buntheit, jenseits aller Modediktate und bürgerlichen uniformen Konventionen. Harlekin, Pierrot, Clown, Trapezkünstlerinnen in glänzenden Trikots, Hand in Hand mit Zigeunerkleidern, Pumphosen, Tüchern, Westen, Hemden, Ohrringen, Ringen, goldenen Dukaten. Beinahe die gleiche Kostümierung.
Als ob sie sich mit diesem Überfluss an Farbigkeit und glitzerndem Schmuck gegen das Grau der Armut wehrten.
Mit einem chromatischen Schrei gegen die Monotonie der schwarz-weißen Rollenaufteilung in Sieger und Verlierer.
Zigeuner sind, wie auch Zirkusleute, kurzlebig. Sie beleuchten wie eine an beiden Enden brennende Kerze ihre eigene und die fremde Dunkelheit und verbrennen dabei. In der Zirkusarena unserer Zivilisation ist für sie, damit sie überleben, jeder Tag ihres Lebens ein neues Schauspiel. Jeder Tag – eine Uraufführung.
Zirkusmenschen, genau wie Zigeuner, tragen eine Maske statt ihres Gesichts. Die Farbe ist natürlich nicht gleich. Bei den Clowns ist das Gesicht zinkweiß gefärbt. Um die Lippen herum ist mit Zinnober ein überstyltes Lächeln aufgemalt. Die Augenbrauen und die Augen werden mit Kohlestift größer gemacht. Unter einem Auge ist eine Träne gezeichnet.
Die Zigeuner haben eine natürlich dunkle Gesichtsfarbe. Ihr Lächeln zeigt einen goldenen Zahn. Die Grimasse der Traurigkeit besteht aus einer natürlichen Anordnung von Falten. Die Augenbrauen sind natürlich dick und die Augen natürlich groß. Unter einem Auge ist eine Träne.
Nichts davon ist aufgemalt...
Jovan Nikolić
Biographie von Jovan Nikolić
(weiter)
Leseprobe von Jovan Nikolić
(weiter)
"Geblieben ist mir nur meine Muttersprache."
Interview mit Jovan Nikolić (weiter)