Integrierter Religions- und LER-Unterricht an einer staatlichen Reformschule in Brandenburg

von Ulrike Kegler

Das erste Gespräch in meiner Funktion als Schulleiterin im Land Brandenburg führte ich mit einem Vertreter der evangelischen Kirche. Es ging um die Frage, wie wir den evangelischen Religionsunterricht in den Schulalltag integrieren könnten. Dies war vor 14 Jahren in einem neuen Bundesland noch eine Pionieraufgabe, denn für Fragen der Religion fehlte eine Tradition nicht nur in den offiziellen Lehrplänen der ostdeutschen Schulen. Nun gab es rechtliche Grundlagen. Auch das Ansinnen, die Montessori-Pädagogik an einer staatlichen Schule zu verankern, führte zu einer Auseinandersetzung mit dem kulturanthropologischen Hintergrund.

Es folgte eine lange Zeit, in der nur evangelischer Religionsunterricht angeboten wurde, für den sich die Kinder und Jugendlichen, bzw. ihre Eltern, freiwillig entschieden. Durch die allseits bekannte Debatte um die Einführung des Faches Lebensgestaltung, Ethik, Religion im Land Brandenburg, die letztlich zugunsten des neuen Faches höchstrichterlich entschieden wurde, verschoben sich die Schwerpunkte. Das zensierte neue (Ausgleichs)Fach warb SchülerInnen ab. Mit der Einführung der Zensierung im Religionsunterricht wurde dieser dem anderen gleich gestellt. Viele Schüler und Schülerinnen entschieden sich nun nach den Lehrpersonen. Katholischer Religionsunterricht wurde erst einige Jahre später etabliert. Andere Religionsgemeinschaften bieten bis heute keinen Unterricht an.

In einer reformpädagogisch geprägten Schule mit einem fächerübergreifenden Ansatz und einem christlich geprägtem Menschenbild führten beide Unterrichtsangebote über Jahre immer wieder zu Problemen. Diese bestanden darin, dass für wesentliche philosophische und allgemein menschliche Fragen Lehrer oder Lehrerinnen für wenige Stunden von außen kamen, ihren Unterricht abhielten und dann wieder gingen. Und auch die Integration beider Fächer in den Stundenplan war so lange eine logistische Herausforderung wie die Religions- und Ethiklehrer nicht Mitglieder des Kollegiums waren. Trotz des proportional sehr geringen Stundenanteils musste der gesamte Wochenstundenplan um Ethik und Religion „gebaut“ werden, was nicht selten zu kontraproduktiven Einschnitten in den ansonsten rhythmisierten Tagesablauf führte. Aber nicht diese logistische Herausforderung war es, der wir zunehmend überdrüssig wurden. Wir hatten den Stundenplan der gesamten Sekundarstufe einmal auf zwei Schülerinnen abgestimmt, damit diese am Lateinunterricht eines Potsdamer Gymnasiums teilnehmen konnten. Es ging also nicht um organisatorische Unbequemlichkeiten.

Vergleichbares hatten wir auch erlebt, als Sonder-PädagogInnen noch für die Förderung einzelner Kinder oder Jugendlicher oder kleiner Gruppen für wenige Stunden aus ihren Förderschulen anreisten und danach wieder gingen. Sie erlebten die SchülerInnen nur flüchtig und hatten nur einen selektiven Blick auf sie. Erst mit der Integration dieser Lehrerinnen in das Kollegium, also der Verlegung ihres Arbeitsplatzes an unsere Schule, lernten sie die Kinder und Jugendlichen aus vielen Perspektiven zu betrachten, nahmen sie in ihren Lerngruppen wahr und überdachten ihren Status als „Sonder“ Pädagogen, in dem auch sie sich für alle verantwortlich fühlten.

Um dieses Konzept auf den Religions- und LER Unterricht zu übertragen, brauchte es einige Zeit. Viele Gespräche mit den zuständigen Stellen, wechselnde Lehrpersonen und die Öffnung der gesamten Schule gegenüber religiösen und ethischen Fragen konnten nicht von heute auf morgen geschehen. Heute wird der evangelische Religionsunterricht sowie LER von Lehrerinnen der Schule unterrichtet. Damit sind gute Voraussetzungen gegeben, unsere eigentlichen Vorstellungen von der Integration religiöser und ethischer Fragen in den gesamten Unterricht immer mehr zu verwirklichen.

Denn die großen Themen der Menschheitsgeschichte sollten in den Gesamtkontext des Unterrichts eingefügt werden. Alle Kinder und Jugendliche stellen sich die wesentlichen Fragen der Menschheit: „Woher komme ich, wohin gehe ich und wie können wir zusammen leben?“ Hinzu kommt, dass es unmöglich ist, die Kulturgeschichte zu verstehen, ohne einen tief greifenden Einblick in die Religionen der Welt gewonnen zu haben. Wie soll man Geschichte ohne Religion verstehen, und auch alle anderen Fächer bieten unendliche Bezüge zu ethischen Fragen: Wie sprechen wir miteinander und wie sind unsere Sprachen geprägt, welche Mystik verbirgt sich in den  Zahlen, wie viel Glaube herrscht in den Naturwissenschaften, welche Rolle spielen Musik, Kunst und Bewegung in verschiedenen Kulturen und Ritualen oder wie manifestieren sich Glaubensansätze in den handwerklichen Produkten, der Architektur und letztlich auch in der Technik?

Diese Sinn-Fragen stellen sich nicht einmal in der Woche zu einer bestimmten Zeit, sondern sie bestimmen in einer lebendigen Schule geradezu das Curriculum. Ständig schwingen sie mit, sie erst geben dem Lehrstoff den notwendigen Gehalt und verknüpfen ihn mit den Erfahrungen jedes einzelnen Kindes oder Jugendlichen. Das Fachwissen der Religions- oder Ethiklehrer sollte darum in die gemeinsame Planung von Unterricht einfließen. Indem sie  ihre Präferenzen einbringen, werden  Sinnfragen und Werte immer mitgedacht, besprochen und vermittelt. Der Besucherstatus von Religions- und Ethiklehrern, ihre Beschränkung auf und Instrumentalisierung für alle zwischenmenschlichen und seelischen Fragen ist nicht sinnvoll. Werte, Gefühle, Glaube, menschliches Verhalten und deren Beziehung zur Kulturgeschichte sollten Inhalt jedes Unterrichts sein.

Die Religions- oder EthiklehrerInnen haben wie  alle anderen LehrerInnen die Kompetenz Wissen zu vermitteln. Und wie diese sind sie nur überzeugend, wenn sie selbst als Vorbild das leben wovon sie sprechen, verlässlich da sind und die Fragen der Kinder und Jugendlichen ernst nehmen und in ihre Unterrichtsplanung einbeziehen.

Ich habe es immer kritisch gesehen, wenn im Religions- oder Ethikunterricht  Themen besprochen werden sollten, für die in den anderen Fächern angeblich keine Zeit ist. Wertefragen lassen sich nicht in den Religions- oder Ethikunterricht wegdelegieren, oder auf diesen beschränken. Gefühle kann man aus dem anderen Unterricht nicht ausschließen oder gar den persönlichen Glauben eliminieren. Die Überzeugungen und Haltungen aller Menschen in einer Gruppe sind immer anwesend. In jedem Unterricht müssen sie berücksichtigt werden.

Wenn auch im Religions- oder Ethikunterricht wertvolle Zeit mit traditionellen und fragwürdigen Methoden wie z.B. dem Ausfüllen von Arbeitsblättern oder mit normierten Bastelarbeiten vertan wurde, habe ich das immer besonders bedauert. Denn die großen Geschichten der Menschheit bieten ja ein unerschöpfliches Reservoir für Gesprächsanlässe. Und die originalen spirituellen Orte wurden nach meiner Erfahrung viel zu selten für einen lebensnahen Unterricht aufgesucht.

Was bedeutet dies nun für die Praxis des Religions- oder Ethikunterrichts?

In einer zunehmend multikulturellen (Schul-)Gesellschaft ist es wichtiger als je zuvor, die Glaubenshintergründe der Kinder und Jugendlichen in den Unterricht einzubeziehen. Eine Trennung nach Glaubensrichtungen in der Schule führte bei konsequenter Umsetzung zur Zersplitterung der sozialen Gemeinschaft, immer dann, wenn es um Wesentliches geht. Die Alternative kann aus meiner Sicht nur ein perspektivreicher Unterricht sein, der die verschiedensten Religionen und Werte diskursiv behandelt, d.h. im Austausch und in dem ständigen Bemühen um Toleranz und Verständnis.

Dazu ist es von großem Wert, wenn Experten und Glaubensvertreter zeitlich begrenzt in die Schule kommen und dort, ohne ihrer subjektive Überzeugung künstlich zu vertuschen, einen Einblick in ihre Religiosität geben. Auch hier, wie bei allen anderen Experten, die in die Schule kommen, gilt, dass die kompetentesten und geachtetsten Mitglieder einer Glaubensgemeinschaft die vornehme Aufgabe des Dialogs mit der heranwachsenden Generation übernehmen sollten. Gerade die Überzeugung eines Menschen und seine Streitbarkeit ist das, was besonders die älteren Schülerinnen und Schüler fasziniert, nicht seine vermeintliche Neutralität.

Auf diese Weise könnte ein großes Spektrum von Religionen authentisch in der Schule zur Anschauung kommen. Unerlässliche Ergänzung dieses Vorgehens ist der Besuch in verschiedenen Gotteshäusern oder Kultstätten und die Auseinandersetzung mit religiösen Ritualen an originalen Orten. Denn auf diese Weise wird das unverwechselbare Kulturgut religiöser Überzeugungen sinnlich erlebbar und konkret anschaulich. Die Fremdheit und Vertrautheit dieser Orte bindet sich dann an Individuen, MitschülerInnen und SchulfreundInnen, und kann in dieser Konkretheit zu fruchtbaren Erweiterungen des eigenen Weltbildes führen.

Ein Beispiel hierfür ist unsere Partnerschule in Portland /Oregon /USA, mit der wir seit 6 Jahren einen kontinuierlichen Schüleraustausch pflegen. Die Fransiscan Montessori Earth School wird von Franziskanernonnen geleitet. Als die  Superiorin der Schule zum ersten Mal mit ihrem braunen „habit“ zwei Wochen durch unsere Schule lief und immer wieder die Fragen der über alle Maßen interessierten Kinder und Jugendlichen beantwortete, konnte man Staunen, Kreativität, Zurückhaltung und intensive Auseinandersetzung mit vielen religiösen Fragen beobachten.

Nicht nur die Kinder und Jugendlichen, auch wir Erwachsenen haben in der Freundschaft mit dieser Schule die Welt nicht nur geografisch von einer anderen Seite kennen gelernt. Wir sind von Vorurteilen abgerückt und haben unseren Horizont erweitert. Und dies liegt an den persönlichen Beziehungen und der Authentizität der beteiligten Personen. Auch ein Schüleraustausch mit der Heinrich von Stephan Oberschule in Berlin, bei dem mehrere türkische Jugendliche eine Woche am Unterricht unserer Schule teilnahmen, hatte eine ähnliche Wirkung: Fremdheit wurde zum Anlass miteinander über verschiedene Kulturen, Glaube und Rituale zu sprechen.

Maria Montessori hat ihre pädagogische Praxis bewusst von ihren religiösen Überzeugungen als Katholikin frei gehalten. Wenn auch ihr christliches Menschenbild in ihrem Denken fest verankert ist und die Philosophie des Umgangs mit Kindern prägt, hat sie doch in ihren Texten eine einseitige religiöse Ausrichtung vermieden. Sie ging davon aus, dass die körperliche und geistige Entwicklung der Kinder und Jugendlichen auf der ganzen Welt in bestimmten Phasen verläuft, die sich unabhängig von Religion oder Überzeugung ihrer Umwelt durchsetzen. Für die rituellen Erfahrungen der christlich erzogenen Kinder hat sie ein eigenes Buch geschrieben: „Kinder, die in der Kirche leben“.

Ich bin davon überzeugt, dass die VertreterInnen der Religionsgemeinschaften ein ungleich höheres Interesse bei jungen Menschen wecken würden, wenn sie für einen begrenzten Zeitraum die Möglichkeit hätten, mit allen Kindern oder Jugendlichen einer bestimmten Lerngruppe ins Gespräch zu kommen, ihnen spirituellen Orte und Rituale zeigen und erläutern zu können und sie so um die Auseinandersetzung mit dieser Glaubensrichtungen bereichern würden. Zukünftig wird es immer wichtiger sein, andere Grundüberzeugungen zu kennen und zu tolerieren. Religiöse Fragen sollten vor dem Hintergrund von Kenntnissen diskutiert werden können. Hier liegt ein wichtiger Auftrag der Schule in einer multikulturellen Gesellschaft.

 

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Ulrike Kegler ist Schulleiterin der Montessori-Schule in Potsdam.