Interkulturelle Psychiatrie/Psychotherapie und Integration psychisch kranker MigrantInnen

von Wielant Machleidt

Die Notwendigkeit der Öffnung des Gesundheitswesens für die Versorgung von ZuwandererInnen wird nicht zuletzt durch die Tatsache unterstrichen, dass ein Fünftel der Bevölkerung in Deutschland einen Migrationshintergrund hat. Psychische Störungen nehmen bei der Morbidität in westlichen Gesellschaften nicht zuletzt in Deutschland eine vorrangige Rolle ein und stellen eine Herausforderung für ein modernes psychiatrisch-psychotherapeutisches Gesundheitssystem dar. Die seelische Gesundheit von MigrantInnen und deren Integration in das Versorgungssystem ist Aufgabe der interkulturellen Psychiatrie/Psychologie und Psychotherapie.

Was versteht man unter interkultureller oder transkultureller Psychiatrie und Psychotherapie?

Unter interkultureller oder transkultureller Psychiatrie/Psychologie und Psychotherapie versteht man eine Ausrichtung der psychologisch medizinischen Kompetenzbereiche, die sich mit den kulturellen Aspekten der Entstehung, der Häufigkeit und der Art psychischer Erkrankungen sowie mit der Behandlung und Nachbehandlung der Kranken innerhalb gegebener kultureller Gruppen befasst. PsychiaterInnen und PsychotherapeutInnen sind die jeweils kulturtypischen Vertreter ihres Faches und können Menschen aus dem eigenen Kulturkreis und mit derselben Ethnizität fraglos am besten einschätzen und vielleicht auch behandeln. In mehrkulturellen Gesellschaften, wie der deutschen, entsteht die Herausforderung für einheimische TherapeutInnen, sich den Erfordernissen kulturübergreifender Behandlungen zu stellen.

Es geht für Einheimische darum, die Kompetenz zu erwerben, psychische Erkrankungen unter einem gewandelten kulturellen Erscheinungsbild zu erkennen und unter Berücksichtigung individueller und sozio-kultureller Bedingungen behandeln zu lernen. Daneben gibt es zunehmend gut ausgebildete FachkollegInnen mit einem Migrationshintergrund der 2. Generation, die ihre – ehemaligen – Landsleute muttersprachlich behandeln können. Dies ist bei der Bedeutung der Sprache in der „sprechenden Medizin“ und der Psychologie für ca. 70% aller PatientInnen besonders erwünscht, insbesondere bei der schwierigen Artikulation seelischer Befindlichkeiten, aber selbst in Großstädten wie Berlin bei weitem noch nicht flächendeckend darstellbar (s.a. Berliner Initiative und Erklärung).

Fragestellungen und Ziele der interkulturellen Psychiatrie/Psychologie und Psychotherapie

Seit ihrer Begründung als kulturvergleichende Psychiatrie Anfang des 20. Jahrhunderts werden die Fragen im Grundsatz unverändert wie folgt gestellt:

  • Gibt es die Krankheiten, die die Psychiatrie herausgearbeitet hat, überall in der Welt?
  • Kommen psychische Störungen in gleicher Häufigkeit in verschiedenen Kulturen vor?
  • Welche psychischen Erscheinungen werden in den verschiedenen Kulturen als pathologisch, welche als normal eingestuft?
  • Werden psychische Störungen in verschiedenen Kulturen unterschiedlich behandelt?
  • Haben psychische Störungen unterschiedliche Verläufe in verschiedenen Kulturen?

Der Fokus des Interesses hat sich in den letzten beiden Jahrzehnten, in denen sich in Deutschland, wie schon in früheren Jahrhunderten, das Bewusstsein gebildet hatte, ein Einwanderungsland zu sein, jedoch auf die ZuwandererInnen verlagert. Heute steht die Förderung der seelischen Gesundheit von MigrantInnen aus den unterschiedlichen europäischen und außereuropäischen Kulturen im Vordergrund. Ergänzend treten deshalb folgende Fragestellungen hinzu, die der interkulturellen Psych¬iatrie/Psychologie und Psychotherapie eine zunehmende Bedeutung in der alltäg¬li¬chen Versorgungspraxis zuweisen:

  • Welche psychischen Erkrankungen entwickeln MigrantInnen in den Aufnahmekulturen und mit welcher Häufigkeit?
  • Welche Behandlungsformen der Herkunftsländer erweisen sich bei MigrantInnen mit psychischen Störungen als wirksam?

Schwerpunkt Versorgung, aber wie?

Dieser veränderte Blickwinkel geht mit einem Wandel der Gesellschaften in europäischen und außer¬europäischen Ländern zu multikulturellen Gesellschaften einher. Die Integration von MigrantInnen in die nationalen Gesundheitssysteme kann als ein Beitrag zur Integration von MigrantInnen in die Aufnahmegesellschaften angesehen werden. Die Rahmenbedingungen für die Integration psychisch kranker MigrantInnen bilden die europäische Einwanderungspolitik, das deutsche Zuwanderungsgesetz und die Politik der interkulturellen Öffnung im deutschen Gesundheitswesen. Auf die Behandlung von MigrantInnen mit psychischen Störungen sind die psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgungssysteme in Deutschland nur ungenügend vorbereitet. Ziel ist die Öffnung und Qualifizierung des Gesundheitssystems im Bereich der psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgung, um MigrantInnen mit denselben hohen Qualitätsstandards und Heilerfolgen zu behandeln wie Einheimische.

Im Referat für Transkulturelle Psychiatrie der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde sind Grundsätze zur Förderung der seelischen Gesundheit von MigrantInnen erarbeitet worden und in den „12 Sonnenberger Leitlinien zur psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgung von MigrantInnen in Deutschland“ formuliert worden (Machleidt 2002; Machleidt et al. 2006; Machleidt   ).

Die 12 Sonnenberger Leitlinien

  1. Erleichterung des Zugangs zu der psychiatrisch/psychologisch-psychotherapeutischen und allgemeinmedizi¬nischen Regelversorgung durch Niederschwelligkeit, Kultursensitivität und Kulturkompetenz.
  2. Bildung multikultureller Behandlerteams aus allen in der Psychiatrie/Psychologie und Psychotherapie tätigen Berufsgruppen unter bevorzugter Einstellung von MitarbeiterInnen mit Migrationshintergrund und zusätzlicher Sprachkompetenz.
  3. Organisation und Einsatz psychologisch geschulter FachdolmetscherInnen als zertifizierte ÜbersetzerInnen und Kulturmediatoren „face-to-face“ oder als TelefondolmetscherInnen.
  4. Kooperation der Dienste der Regelversorgung im gemeindepsychiatrischen Verbund und der Allgemeinmediziner mit den Migrations-, Sozial- und sonstigen Fachdiensten sowie mit Schlüsselpersonen der unterschiedlichen MigrantInnengruppen, -organisationen und -verbänden. Spezielle Behandlungserfordernisse können Spezialeinrichtungen notwendig machen.
  5. Beteiligung der Betroffenen und ihrer Angehörigen an der Planung und Ausgestaltung der versorgenden Institutionen.
  6. Verbesserung der Informationen durch muttersprachliche Medien und Multiplikatoren über das regionale gemeindepsychiatrische klinische und ambulante Versorgungsangebot und über die niedergelassenen PsychiaterInnen/PsychologInnen und PsychotherapeutInnen sowie AllgemeinärztInnen.
  7. Aus-, Fort- und Weiterbildung für in der Psychiatrie/Psychologie und Psychotherapie und in der Allgemeinmedizin tätige MitarbeiterInnen unterschiedlicher Berufsgruppen in transkultureller Psychiatrie und Psychotherapie unter Einschluß von Sprachfortbildungen.
  8. Entwicklung und Umsetzung familienbasierter primär- und sekundärpräventiver Strategien für die seelische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen aus Migrantenfamilien.
  9. Unterstützung der Bildung von Selbsthilfegruppen mit oder ohne professionelle Begleitung.
  10. Sicherung der Qualitätsstandards für die Begutachtung von MigrantInnen im Straf-, Zivil-, (Asyl-) und Sozialrecht.
  11. Aufnahme der transkulturellen Psychiatrie und Psychotherapie in die Curricula des Unterrichts für Studierende an Hochschulen.
  12. Initiierung von Forschungsprojekten zur seelischen Gesundheit von MigrantInnen und deren Behandlung.

Migration, Integration und seelische Gesundheit

Der Migrationsprozess und seine Folgen

Migrationsprozesse haben eine kultur- und situationsübergreifende Regelhaftigkeit (Abb. 1). Diese findet sich sowohl bei Vertreibung durch Gewalt wie bei Kriegsflüchtlingen und politisch Verfolgten als auch bei freiwilligen Zuwan¬derern wie ArbeitsmigrantInnen. Es lassen sich sechs Stadien des Migrationsprozesses voneinander unterscheiden, in denen jeweils besondere psychische Befindlichkeiten und Erkrankungsrisiken auftreten können. Die ersten 3 Stadien sind für die seelische Gesundheit meist nicht problematisch: Die Vorbereitungsphase, der Migrationsakt und die erste Begegnung mit dem Aufnahmeland – der „Honeymoon“. In dem 4. Stadium der kritischen Integration kann es im Zusammenhang mit dem Ringen um die Lebensgrundlagen und die Absicherung der beruflichen und familiären Existenz zu einer Ernüchterung und häufig durch übermässigen Stress zu psychischen Befindlichkeitsstörungen kommen. Auch geht es darum, die Trauer um den Verlust der Heimatkultur und der vertrauten soziokulturellen Vernetzungen zu bewältigen.

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Abb.1: Die Emotionslogik des Migrationsprozesses besteht regelhaft aus zwei komplexen Abschnitten, dem Migrationsakt mit seinen Vor- und Nachbereitungen und der Akkulturation im Aufnahmeland, verbunden mit den Integrationsleistungen im Rahmen der „Kulturellen Adoleszenz“. In diesem Zeitabschnitt besteht beim Auftreten von unlösbaren Konflikten und Befindlichkeitsstörungen (s. grüne Punkte) Beratungs- und Behandlungsbedarf. Mit der schrittweisen Entstehung einer bikulturellen Identität wird eine neue Beziehung zur Aufnahmekultur begründet.

Aber es geht noch um sehr viel mehr, um etwas, das Einheimische sich nicht genügend vergegenwärtigen, nämlich um einen Schritt in der Individualentwicklung, um die „subjektive Seite“ der Migration, die „kulturelle Adoleszenz“: Die Metapher von der „kulturellen Adoleszenz“ geht von der Hypothese aus, dass die Krisen der Adoleszenz in vielfacher Hinsicht den Krisen gleichen, die die Migrationsprozesse auslösen.

Es besteht eine Analogie zwischen den Entwicklungsleistungen der MigrantInnen bei der Integration in die Aufnahmekultur und denen, die Adoleszenten bei der Integration in die Gesellschaft erbringen müssen (Abb. 2) (Machleidt und Heinz, 2008). Wer diese Individuationsleistungen verweigert oder meidet, wird sich statt in integrierten sozialen Netzwerken in der Segregation, Ghettoisierung, Parallelgesellschaft oder Marginalisierung wiederfinden.

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Abb.: 2: Die spezifischen Unterschiede bei den Grenzüberschreitungen bei Geburt, Adoleszenz und Migration als „kultureller Adoleszenz“ sind entwicklungspsychologisch und kulturell determiniert. Der Individuationsschritt der Migration findet auf einer konkreten und einer symbolischen Ebene statt, mit der Konsequenz der Ablösung von der Ursprungskultur wie der Muttersprache, dem Vaterland und dem Verlassen des primären kulturellen Raumes.

Schließlich werden in der Phase der generationsübergreifenden Anpassungsprozesse die tradierten und familientypischen Stile, Regeln, Sitten, Werte und auch Mythen, die von der Generation der EinwandererInnen gepflegt werden, von der nachfolgenden Generation, die im Aufnahmeland aufwuchs, in Frage gestellt, verändert und adaptiert. Entsprechend der jeweiligen Phase des Migrationsprozesses muss für geeignete Beratung und therapeutische Interventionen Sorge getragen werden (Abb. 1).

Psychische Morbidität

In den 70er Jahren lag die psychische Morbidität von „GastarbeiterInnen“  unter der der deutschen Bevölkerung. Dies war auf die Selektion junger gesunder Migrationswilliger zurückzuführen. Heute zeigt sich nach Zuzug der Familien und aufgrund der Alterung ein differenziertes Bild. Es kann davon ausgegangen werden, dass die psychische Morbidität von MigrantInnen mindestens so hoch ist wie die der einheimischen Bevölkerung mit gewissen Abweichungen. Gemäss einem international beobachtbaren Trend gleichen sich die Morbiditätsraten der ZuwandererInnen denen der Einheimischen an. Es müssen jedoch die unterschiedlichen Migrantengruppen und Migrationsumstände unterschieden werden. Bei gewaltsam vertriebenen Kriegsflüchtlingen, Asylsuchenden, politisch Verfolgten und illegalen ZuwandererInnen wird aufgrund von Traumatisierungen im Herkunftsland eine höhere psychische Morbidität angenommen insbesondere hinsichtlich posttraumatischer Belastungsstörungen (PTBS).

MigrantInnen aus der Türkei insbesondere auch Jugendliche haben im Vergleich zu Deutschen eine geringere Rate an Alkoholmissbrauch und -abhängigkeit als AussiedlerInnen aus Osteuropa, die über dem deutschen Durchschnitt liegen. Depressive Störungen sind vermutlich bei türkischen MigrantInnen häufiger als bei Deutschen, auch mit einer Akzentuierung hinsichtlich körperlicher Ausdrucksformen für seelische Befindlichkeitsstörungen („Somatisierung“: Bauch-, Kopf-, Rückenschmerzen etc.).

In einer europäischen Studie über die Häufigkeit und die Risikofaktoren für eine depressive Erkrankung bei älteren türkischen und marokkanischen MigrantInnen in den Niederlanden zeigte sich das Folgende: Die Prävalenz depressiver Symptome war bei älteren MigrantInnen aus Marokko 33,6 % und aus der Türkei 61,5 % und damit erheblich höher als bei eingeborenen Niederländern mit 14,5 %. Darüber hinaus war der Ausbildungsgrad und das Einkommen von MigrantInnen sehr niedrig, und sie hatten eine hohe Zahl körperlicher Behinderungen und chronischer medizinischer Erkrankungen. Die ethnische Herkunft war allein für sich mit dem Vorliegen bedeutsamer klinischer depressiver Symptome assoziiert (van der Wurff 2004).

Psychotische Störungen, insbesondere Schizophrenie, sind bei weissen EinwandererInnen in England der 1. Generation um gut das Doppelte erhöht und abhängig von der Hautfarbe bei schwarzen ZuwandererInnen aus der Karibik um bis zum Vierfachen. Dies könnte in Deutschland ähnlich sein. Der internationale Trend besagt, je dunkler die Hautfarbe des/r Zuwanderers/iIn ist, umso grösser ist das Risiko für die Entwicklung einer psychotischen Störung (normal in Deutschland ca. 1%, bei schwarzen MigrantInnen der 2. Generation ca. 4%). Während die meisten bekannten psychischen Krankheitsbilder ubiquitär in allen bekannten Kulturen gefunden werden, gibt es auch solche, die nur in bestimmten Kulturen auftreten. Dies sind die so bezeichneten „Kulturgebundenen Syndrome“ (CBS), wie z.B. „Brain fag“/„Gehirnermüdung“ bei StudentInnen in Afrika südlich der Sahara, „Susto“/„Seelenverlust“ in Südamerika, etc.

Beispiel: Depressive Störungen im Kulturvergleich

Psychische Symptome

Als transkulturell verbindliche Kernsymptome depressiver Störungen gelten heute intensive „vitale“ Traurigkeit, die Unfähigkeit, Freude zu erleben, Interesseverlust und Energielosigkeit, Gefühle eigener Wertlosigkeit, Angst sowie kognitive Einbußen wie Konzentrationsstörungen. Dies war auch das Ergebnis einer von der WHO initiierten internationalen Studie zur depressiven Symptomatologie in verschiedenen Kulturen (Übersicht s. Machleidt und Calliess 2009). Zusätzliche psychotische Symptome wie Halluzinationen oder depressiver Wahn werden bei PatientInnen im euro-amerikanischen Raum häufiger als in anderen Kulturen angegeben.

Wahninhalte beziehen sich bei Euro-AmerikanerInnen vorrangig auf die Themen Schuld, Verarmung und Krankheit, im Nahen und Fernen Osten eher auf Hypochondrie und Verfolgung. Diese müssen sorgfältig von traditionellen Glaubensinhalten abgegrenzt werden und magischen Auffassungen, bei denen traditionell Krankheitsverursachungen durch „aggressive Geister“, „Ahnengeister“, „Hexerei“, „Fluch“, „bösen Blick“ u.a. angenommen werden.

Wertlosigkeits- und Schuldgefühle, führende Symptome im euro-amerikanischen Bereich, haben im Vorderen Orient und in Asien eine geringere Häufigkeit, genauso wie Versündigungsgefühle. Es lassen sich also durchaus jenseits der depressiven Kernsymptome interkulturelle Symptomvarianten erkennen.

Somatische Symptome: „Körper-Organ-Metaphorik“

Im euro-amerikanischen Kulturraum gibt es eine typische „Körper-Organ-Metaphorik“ für psychische Belastungssyndrome und Befindlichkeitsstörungen (Lynn Payer 1993). Der Körper dient in diesem Kontext interkulturell als Austragungsort für psychische Belastungen und Konflikte. Eine metaphorische Sprache erleichtert durch ihre Bildhaftigkeit den interpersonellen Austausch über die damit assoziierte Belastungsform.  Die Deutschen bevorzugen es, psychische Belastungen mit Beschwerden des Herzens zu artikulieren, die Franzosen/-innen mit Beschwerden der Leber („Avoir les foies“ (le foie – die Leber): „Angst haben“), die EngländerInnen mit Beschwerden des Darms und die US-AmerikanerInnen mit dem „Virus“.
 
Diese Form kultureller Somatisierungsneigung schlägt sich auch auf den Medikamentenverbrauch nieder. Im Spiegel der Arzneimittelstatistik wurden Deutschen sechsmal mehr Medikamente für das Herz verschrieben als EngländerInnen und US-AmerikanerInnen, obwohl die Deutschen in der Statistik der Herzerkrankungen mit den beiden Ländern gleichauf lagen. Ähnlich verhielt es ich bei den „Organvorlieben“ der Franzosen/-innen und EngländerInnen und den Befindlichkeitsstörungen durch allerlei „Viren“ bei den AmerikanerInnen. Das Wissen um die kulturelle Wahl des Prädilektions- oder Wahlorgans für psychische Belastungen eröffnet der Diagnostik einen breiten interkulturellen Horizont, der über den euro-amerikanischen Kulturraum weit hinausreicht.

In der oben zitierten WHO-Studie wurde bei depressiven iranischen PatientInnen die höchste und bei kanadischen PatientInnen die niedrigste Rate somatischer Symptome festgestellt. In anderen Ländern ist die Körper-Organ-Metaphorik ebenso verbreitet, so dass im internationalen diagnostischen Klassifikationssystem DSM-IV darauf explizit Bezug genommen wurde. Bei SpanierInnen und LatinoamerikanerInnen werden bei ängstlich depressiven Syndromen über Störungen der „nervos“ oder Kopfschmerzen geklagt, in arabischen Kulturen über Beschwerden des Herzens, bei ChinesInnen vor dem Hintergrund der antizipierten Ying-Yang-Inbalance Schwäche, über Müdigkeit und Kraftlosigkeit.

Diese Reihe ließe sich fortsetzen: TürkInnen geben häufig Beschwerden des Magen-Darmtrakts (ver-rückte Organe) an und Schmerzsymptome in unterschiedlichen Körperregionen, Russen Schmerzen in der Brust etc. Diese Symptome lassen sich prinzipiell in allen Kulturen finden, allerdings mit großen Unterschieden im Hinblick auf den Sinn und der Bedeutung der Körpersprache für die Art der ausgedrückten Befindlichkeitsstörung. Die Diagnostik ist darauf angewiesen der „irrationalen“ Logik der Körper-Organsprache zu folgen, um deren Bedeutung für seine diagnostischen Kategorien in geeigneter Weise zu berücksichtigen.

Bei asiatischen, insbesondere chinesischen PatientInnen in Deutschland ist dies z.B. ausgeprägt. Arthur Kleinman, der sich besonders eingehend mit psychischen Störungen bei ChinesInnen beschäftigt hat, betonte, dass viele depressive ChinesInnen nicht über ein Gefühl von Traurigkeit klagen, sondern vielmehr über Langeweile, Unbehagen, Gefühle innerer Spannung und Symptome wie Schmerz, Schwindel und Erschöpfung berichten. Diese kulturell kodierten Symptome mögen für die Depressionsdiagnostik bei chinesischen MigrantInnen in Deutschland verwirrend sein und sollen möglicherweise auch diese Funktion haben. Chinesische ImmigrantInnen empfinden die Diagnose einer Depression aus moralischen Gründen als inakzeptabel und von ihrer persönlichen Erlebnisevidenz her als nicht nachvollziehbar. In China werden solche Syndrome deshalb mit Vorliebe unter mehr körperbezogenen Diagnosen wie Neurasthenie („Erschöpfungssyndrom“), Hypochondrie oder unter vielfältigen Somatisierungen (Somatoforme Störung), aber nicht unter Depression klassifiziert (Kleinman, 1980).

Psychiatrisch-psychotherapeutische Versorgung psychisch kranker MigrantInnen

Erklärtes Ziel der Gesundheitspolitik in Deutschland ist die Chancengleichheit für MigrantInnen bei der Gesundheitsversorgung. Die Öffnung und Qualifizierung des Gesundheitssystems im Bereich der psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgung soll MigrantInnen ermöglichen, mit denselben hohen Qualitätsstandards und Therapieerfolgen behandelt zu werden wie Einheimische. Allerdings ist dies noch nicht alltägliche Realität  (Machleidt et al. 2007). Es ist plausibel, davon auszugehen, dass in Deutschland MigrantInnen eine etwa gleich hohe allgemeinpsychiatrische Morbidität aufweisen wie Einheimische und eine erhöhte Morbidität für depressive und vielleicht auch somatoforme Störungen, psychische Traumen sowie für Schizophrenie und je nach Alter und ethnischer Herkunft für Suchtstörungen. Das Auftreten psychischer Symptome muss in einem frühen Stadium ernst genommen werden, weil dieses ein Signal dafür ist, dass ein Integrationsprozess vom Scheitern bedroht ist.

Die folgenden Fakten kennzeichnen die derzeitige Behandlungssituation im psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgungssystem: MigrantInnen sind in vielen offenen stationären und teilstationären psychiatrischen Bereichen unterrepräsentiert, in den geschlossenen Bereichen und der Forensik inzwischen wie Einheimische repräsentiert (Koch et al. 2007, 2009). MigrantInnen erhalten mehr Notfallleistungen, aber weniger ambulante psychotherapeutische sowie rehabilitative Behandlungen, deren Qualität häufig unterhalb der Standards bei Einheimischen liegen. Eine Verbesserung der psychotherapeutischen Versorgung wird gefordert (s. Berliner Initiative 2008).

Als Gründe sind dafür anzuführen: Schamgefühle und Stigmatisierungsängste sind bei psychischen Erkrankungen von MigrantInnen insbesondere MuslimInnen nicht geringer als bei Deutschen. Zur Unterrepräsentation in den offenen stationären und teilstationären Bereichen sowie in den Ambulanzen tragen Unkenntnis und Aversionen gegenüber psychiatrischen und kommunalen Institutionen bei. Ein Teil der Betroffenen kommt deshalb nur zur Notfallbehandlung und häufig unter Zwang in die Klinik, andere Betroffene kehren zur Behandlung in ihre Heimatländer zurück oder werden von den Großfamilien selber versorgt (Machleidt 2005).

Die Institutionen in Deutschland sind noch zu wenig MigrantInnen freundlich (s. WHO Aktion „Migrant-friendly hospitals“;  ) organisiert und es fehlt u.a. an muttersprachlichen TherapeutInnen.

In den „Sonnenberger Leitlinien“ zur psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgung von MigrantInnen in Deutschland sind, wie oben aufgeführt, die 12 Leitsätze für eine angemessene Versorgung von MigrantInnen und die dafür notwendigen Umsetzungsschritte formuliert worden. Die folgenden Empfehlungen müssen zur besseren Integration von MigrantInnen in das psychiatrisch/psychologisch-psychotherapeutische Versorgungssystem regional umgesetzt werden: Die interkulturelle Öffnung der Regelversorgung durch Kultursensitivität und Kulturkompetenz der MitarbeiterInnen, die Bildung mehrkultureller BehandlerInnenteams, den Einsatz von DolmetscherInnen und KulturmediatorInnen, die engere patientenInnenbezogene Kooperation mit den MigrantInnengruppen sowie die Verbesserung mehrsprachiger Informationen über den Aufbau des psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgungssystems in Deutschland und dessen Aufgaben.

April 2009

Literatur

  • Diagnostisches und statistisches Manual psychischer Störungen DSM-IV. Hogrefe, Göttingen, 1996
  • Kleinman A.: Patients and Healers in the Context of Culture. Berkeley CA: University of California Press, 1980
  • Machleidt, W., Die 12 Sonnenberger Leitlinien zur psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgung von MigrantInnen in Deutschland. In Der Nervenarzt, 73: 1208-1209, 2002
  • Machleidt W.: Ausgangslage und Leitlinien transkultureller Psychiatrie in Deutschland 
  • Machleidt W., Calliess I.T.: Transkulturelle Psychiatrie und Migration – Psychische Erkrankungen aus ethnischer Sicht. Die Psychiatrie 2, 77-84, 2005
  • Machleidt W., Salman R., Calliess I.T. (Hg.): Sonnenberger Leitlinien. Integration von Migranten, in Psychiatrie und Psychotherapie. VWB Berlin, 2006
  • Machleidt W., Behrens K., Calliess I.T.: Integration von Migranten in die psychiatrisch-psychotherapeutische Versorgung in Deutschland. Psychiat. Praxis 34:325-331, 2007
  • Machleidt W., Heinz A.: Psychotherapie bei Menschen mit Migrationshintergrund. In: Herpertz S.C., Caspar F., Mundt Ch. (Hrsg.): Störungsorientierte Psychotherapie. Urban und Fischer Elsevier, München, 628-637, 2008
  • Machleidt W., Calliess I.T.: Behandlung von Migranten und transkulturelle Psychiatrie. In: Berger (Hrsg.): Psychische Erkrankungen. Urban und Fischer Elsevier, München, Jena, S. 1119-1143, 2009
  • Payer L.: Andere Länder, andere Leiden, Campus, Bd. 1065, 1993
  • Wurff van der F.B., Beekman A.T.F., Dijkshoorn H., Spijker J.A., Smits C.H.M., Stek M.L., Verhoeff A. Prevelance and risk-factors for depression in elderly Turkish and Moroccan migrants in the Netherlands, J Affective Disoders 83: 33-41, 2004.

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Prof. Dr. med.Wielant Machleidt war bis 2007 Inhaber des Lehrstuhls für Sozialpsychiatrie an der Medizinischen Hochschule Hannover. Er ist Initiator der "Sonnenberger Leitlinien" zur Früherkennung und -behandlung psychischer Erkrankungen bei MigrantInnen.