Interview mit Björn Bicker
Illegalität ist eine in Europa immer mehr zunehmende Existenzform von eingewanderten MigrantInnen. Ihr Buch „illegal. wir sind viele. wir sind da.“ thematisert verschiedene Blickwinkel von Illegalisierten und gibt den vielen Namenlosen eine Stimme. Wie ist dieses Buch entstanden und welchen Bezug haben Sie zu diesem Thema?
An den Münchner Kammerspielen, wo ich als Dramaturg arbeite, haben wir uns sehr intensiv und lange mit dem Thema Migration beschäftigt. Wir haben Stücke, Projekte und Diskurse initiiert, um die Wirklichkeit unserer Einwanderungsgesellschaft in den Mittelpunkt des Interesses zu rücken. In einer Stadt wie München kommt man um das Phänomen der illegalen Einwanderung, oder besser gesagt, um die Lebenswirklichkeit illegalisierter EinwandererInnen nicht drumherum. Nach Schätzungen einer Studie, die die Stadt München in Auftrag gegeben hat, leben in der bayrischen Landeshauptstadt bis zu 50.000 Menschen ohne offiziellen Aufenthaltstitel. Das sind ganz schön viele.
Ich habe mich auf die Suche gemacht nach diesen Menschen. Eine zeitlang habe ich in der Beratungseinrichtung Cafe 104, die der bayrische Flüchtlingsrat und die Ärzte der Welt unterhalten, hospitiert. Dort habe ich viele Menschen kenenngelernt, die illegal in Deutschland leben. Ich habe Interviews geführt, Beratungsgesprächen gelauscht, Behandlungen beobachtet. Und so habe ich immer mehr Kontakte bekommen. Aus meinen Aufzeichnungen ist ein lieterarischer Text entstanden. Ich versuche darin, auf künstlerisch verdichtete Weise, Illegalisierte zu Wort kommen zu lassen. Ihre Stimmen formieren sich immer wieder zu einem sehr ambivalenten Chor. Die Spanne reicht vom Klagelied bis zur politischen Prophetie.
Der Text war zunächst Grundlage für ein Theaterprojekt im Schauspielhaus der Münchner Kammerspiele, wurde dann zur Vorlage für ein gleichnamiges Hörspiel, das wir mit dem Bayerischen Rundfunk, Redaktion Hörspiel und Medienkunst, produziert haben. Für das Buch habe ich die Texte noch einmal stark bearbeitet, erweitert, neu kombiniert, sodass eine lesbare Form daraus geworden ist – ein Roman vielleicht.
Als Dramaturg an den Münchner Kammerspielen haben Sie als Mitbegründer des Theaterprojekts BUNNYHILL, das 2004 zum ersten Mal stattgefunden hat, einen temporären Staat errichtet. Am Beispiel des sogenannten Münchner ‘Problemviertels’ Hasenbergl ging es zwei Monate lang um das Verhältnis von Peripherie und Zentrum. Welche Ziele hat dieses Projekt?
BUNNYHILL war der Auftakt für eine ganze Reihe sogenannter Stadtprojekte, die ich mit meinen künstlerischen PartnerInnen in München ins Leben gerufen habe. Es ging und geht bei diesen Projekten hauptsächlich darum, die BewohnerInnen unserer Stadt dazu zu bringen, sich aktiv mit der politischen und sozialen Realität ihrer Umgebung auseinanderzusetzen. KünstlerInnen, AktivistInnen, SozialarbeiterInnen, PolitikerInnen, Theaterleute, MusikerInnen und andere BürgerInnen tun sich zusammmen, um künstlerische Formate zu entwickeln, die sich mal interventiv und mal beschreibend, aber immer ganz konkret mit der aktuellen Lebenswirklichkeit hier vor Ort beschäftigen.
Das zweite Projet BUNNYHILL2 stellte die einfache Frage „Wem gehört die Stadt?“. Wir haben wieder über mehrere Monate öffentliche Orte besetzt. Bürgerinitiativen gegründet. Theater gespielt. Die neue Metropole MÜNJING ausgerufen. Die wichtigste Frage war: wer wird aus der Stadt ausgeschlossen, wer wird marginalisiert? Warum ist das so? Und könnte die Stadt nicht ganz anders aussehen?
Es ging weiter mit „DOING IDENTITY – BASTARD MÜNCHEN“. Wie sieht es aus mit den Identitäten in einer Stadt, in der jede(r) dritte BewohnerIn einen sogenannten Migrationshintergrund hat? Kann es so etwas wie eine Leitkultur überhaupt geben? Wir haben versucht, herauszufinden, wie der Bastard München eigentlich aussieht. Es wurde Theater gemacht, Begegnungen wurden inszeniert, politische Initiativen gegründet. Aus diesem Festival ist zum Beispiel die Kampagne „Save Me – Eine Stadt sagt ja!“ hervorgegangen. Dabei geht es um eine aktive Flüchtlingsaufnahme durch deutsche Kommunen gemeinsam mit den Resettlement Programmen des UNHCR. Danach kam das Projekt ILLEGAL. Und gerade arbeiten wir an der „Hauptschule der Freiheit“.
All diesen Projekten ist eins zu eigen: die Grenzen zwischen Kunst und politischer Aktion werden verwischt. Die ZuschauerInnen und TeilnehmerInnen sind oft verwirrt, weil sie gar nicht mehr geanu wissen, was jetzt eigentlich gerade passiert. Ist das jetzt Kunst? Oder Sozialarbeit? Oder einfach nur Quatsch? Dahinter steckt natürlich der Versuch, den Kunstbegriff zu erweitern, aufzulösen, anders zu definieren. Kann Kunst nicht auch darin bestehen, soziale wie poltische Wirklichkeiten zu transformieren, nämlich so, dass sie lebbarer sind als zuvor? Bei all diesen Projekten landet man immer wieder bei dem Thema Migration. Warum begreifen die Leute in Deutschland nicht, dass sie in einem Einwanderungsland leben? Wie können wir eine Gesellschaft bilden, die von ihrer Vielheit profitiert und lustvoll mit ihr umgeht?
Was bedeutet Integration für Sie?
Ich mag das Wort Integration überhaupt nicht. Das impliziert immer so eine hierarchische, gönnerhafte Perspektive. Als gäbe es per se eine festgefügte, mächtige, gut funktionierende Gesellschaft von Menschen, die die Regeln dafür aufstellt, wer dazugehört und wer nicht. Das ist mir zu starr und entspricht überhaupt nicht der Wirklichkeit. Ich finde Integration müsste viel mehr mit Gleichberechtigung, Respekt und Teilhabe zu tun haben. Es geht darum, unser Zusammenleben in Deutschland, in Europa, in der Welt, zu organisieren. Und dazu braucht es erst einmal eine gute Kommunikation.
Die Voraussetzung dafür ist Begegnung. Diese Begegnung versuchen wir mit unseren künstlerischen Projekten zu inszenieren, zu initiieren, zu stiften. Es geht darum, ein friedliches Zusammenleben zu organisiseren. Das heißt aber nicht, dass ich alle Vielfalt und Unterschiedlichkeit platt machen muss. Im Gegenteil. Wir sollten uns gegenseitig permanent Angebote machen, wie wir uns kennenlernen können. Das hört sich vielleicht naiv an, ist aber die Grundlage dafür, dass ich den anderen so sein lassen kann wie er ist. Dann kann Zusammenleben gelingen. Warum ist es so vielen EinwanderInnen in Deutschland nicht möglich, sich als Deutsche und als Türken, Kosovaren, Nigerianer etc. zu fühlen? Vielleicht, weil wir das nicht zulassen wollen? Aber warum? Natürlich muss ich diese Frage auch vielen Türken, Kosovaren, Nigerianern stellen! Warum?
Ich glaube, wir müssen uns extrem entspannen. Und dann dafür sorgen, dass alle Leute tatsächlich gleiche Chancen auf Bildung haben!! Es kann nicht sein, dass Kinder von MigrantInnen so dermaßen schlechte Aussichten auf gute Schul- und Berufsausbildung haben. Das geht nicht. Dieser Mangel wird uns in zehn, zwanzig Jahren so dermaßen um die Ohren fliegen, dass uns Hören und Sehen vergeht. Wie soll ich mich als Jugendlicher mit einer Gesellschaft identifizieren, die mir tagtäglich klar macht, dass ich sowieso keine Aussicht auf Weiterentwicklung habe?! Deutsche RentnerInnen, die MigrantInnenkinder vor die U-Bahn schubsen, fördern nicht unbedingt das Zusammengehörigkeitsgefühl in unserem Land.
Öffnet die Kunst Ihrer Meinung nach eine neue Perspektive auf Kultur oder kulturelle Identität? Oder: Kann Kunst einen „Dialog der Kulturen“ führen, den die öffentliche politische Diskussion nicht schafft?
Kunst, egal ob Theater, Literatur, Intervention oder sonstwas, kann die Wahrnehmung der Leute beeinflussen. Kunst kann unseren Möglichkeitssinn schärfen und vergrößern. Das kann viel Wert sein. Gerade in unserem Land, das so sehr in seinem eigenen Phlegma vergeht. Wo ist die große Geste der Veränderung? Alles liegt im Argen: Das Bildungssystem ist starr und undurchlässig; dass wir ein Einwanderungsland sind, ist noch lange nicht in den Köpfen und Herzen der Menschen angekommen; unsere Demokratie und ihre ProtagonistInnen haben überhaupt keinen Kredit mehr bei den Menschen. Kunst kann Politik nicht ersetzen. Auf keinen Fall. Aber Kunst kann, gerade dann wenn sie sich in die Lebenswirklichkeit der Menschen einmischt, neue Perspektiven erschließen, Mut machen, Verzweiflung auslösen, Angst schüren, Freiheit mobilisieren. Das alles können Motoren sein für Veränderung.
Wie geht ihre künstlerische Reise weiter?
Meine Arbeit der letzten Jahre geht immer hin und her zwischen Stadtprojekten am Theater und literarischen Unternehmungen. Zurzeit arbeite ich an dem Projekt „Hauptschule der Freiheit“. Das Theater hat sich mit einer Münchner Hauptschule verbunden, um eine neue Schule zu gründen. Über meherer Monate haben wir mit SchülerInnen, LehrerInnen, Eltern und verschiedenen KünstlerInnen versucht, theatrale Formate und Arbeitsgemeinschaften zu entwickeln, die unseren Vorstellungen von Lernen und Freiheit und Begegnung und Multikulturalität entsprechen. Dabei herausgekommen ist bisher ein theatraler Stundenplan, an dem fast 100 SchülerInnen beteiligt sind.
Wir präsentieren unsere Ergebnisse gerade dem Münchner Publikum. Auch hier steht wieder die Begegnung im Mittelpunkt: Das Theaterpublikum reist in ein von uns besetztes Schulgebäude und lernt den Kosmos Hauptschule kennen. Die große Frage, die unser Projekt bei allen auslöst: Warum werden diese SchülerInnen, die fast alle MigrantInnenkinder sind, und so unendlich viele Möglichkeiten in sich tragen, von den anderen SchülerInnen getrennt? Wie können wir es schaffen, dass wir eine gemeinsame Gesellschaft werden? Wie können wir solche Bedingungen schaffen, dass auch HauptschülerInnen das Gefühl haben, dass sie dazu gehören? Wenn dieses Projekt beendet ist, werde ich mich wieder mehr dem literarischen Arbeiten zuwenden. Fürs Theater. Und Prosa soll auch entstehen. Darüber zu sprechen, wäre aber zu früh und bringt außerdem Unglück.
Was bedeutet Heimat für Sie? - Oder: Wie geht dieser Satz für Sie weiter?: „Mein Deutschland ist...
…ein Land, in dem es alle als Teil ihres eigenen Lebens begreifen, dass so viele Menschen mit unterschiedlicher Herkunft in Deutschland sind, um ein glückliches und freies Leben zu führen. Mein Deutschland wäre ein Land, in dem kaum noch gejammert, sondern mutig und voller Selbstvertrauen aufeinander zugegangen wird. Ein Land, in dem es nicht dauernd darum geht, wer dazugehören darf und wer nicht. Ein Land, das glücklich ist mit seiner Vielheit an Kulturen, Herkünften und Meinungen.
Das Interview führte Sibel Kara im Juli 2009.
Literatur
Bicker, Björn: Illegal. Wir sind viele. Wir sind da., Antje Kunstmann Verlag, 2009.
Björn Bicker
Über Björn Bicker (weiter)
„illegal. wir sind viele. wir sind da.“
Leseprobe von Björn Bicker (weiter)