Generation Heimweh Die türkischen Akademiker und Studierenden im Kontext des Fachkräftemangels

von Kamuran Sezer

Demografischer Wandel: Sterben die Deutschen aus!?
Obwohl seit den 1960er Jahren bekannt, hat sich erst vor einigen Jahren in Deutschland die Erkenntnis durchgesetzt, dass die deutsche Gesellschaft erst altern und anschließend schrumpfen wird. Dieser demografische Wandel stellt einen alle Gesellschaftsbereiche durchdringenden Veränderungsprozess dar, der das soziostrukturelle Gefüge der deutschen Gesellschaft radikal wie fundamental verändern wird.

Folgt man dem Mainstream in der Diskussion um den demografischen Wandel, so werden mit ihm teilweise apokalyptisch anmutende Voraussagen getroffen. Demnach werden die Deutschen „aussterben“ und die Sozialsysteme kollabieren, wodurch schlussendlich die Daseinsberechtigung einer ganzen Nation infrage gestellt wird.

Spätestens seit den Diskussionen in den 1960er und 1970er Jahren zu den Folgen der Individualisierung auf den Bestand einer Gesellschaft sollte man (übrigens auch die Sozialwissenschaft) in der Formulierung solcher Apokalypsen zurückhaltender sein. Die so genannte „Atomisierung“ der modernen Gesellschaft, deren Ursache u.a. in den Individualisierungstendenzen erkannt worden ist, trat rückblickend nicht ein. Die Familien sind nicht zerbrochen, die Ehen sind nicht aufgelöst, die gesellschaftsweite Solidarität wurde nicht durch das egozentristische und postmaterialistische Individuum zertreten. Gleichwohl hat die Individualisierung einen Wertewandel bewirkt, der diese Gesellschaftsbereiche veränderte.

Nach wie vor ist die klassische Kernfamilie das dominante Familienmodell in Deutschland. Neben ihm haben sich aber andere Familienformen, die so genannte „Patchwork-Familie“ durchgesetzt (Büderle 2004). Heute wird zwar weniger geheiratet und auch das Heiratsalter ist angestiegen, die Ehe aber existiert weiterhin. Und neben ihr entwickelten sich durch die sexuelle Revolution und Aufklärung sowie einem angepassten Toleranzkonzept andere Partnerschaftsmodelle, die von eheähnlichen über gleichgeschlechtlichen bis hin zu Lebensabschnittspartnerschaften reichen.

Kurzum: Unter dem Druck des Wandels findet das Leben immer eine soziale Nische, in der es seinen Fortbestand gewährleisten kann.

Auch der demografische Wandel wird nicht zur Auflösung der deutschen Gesellschaft führen. Sie wird aber eine nachhaltige Veränderung seiner ethnischen und soziostrukturellen Gefüge bewirken. Und diesem Wandel ist man nicht ohnmächtig ergeben: Er ist eine gestaltbare, steuerungspolitische Dimension.

Eine dieser gestaltbaren steuerungspolitischen Größen stellt das Potenzial der Studierenden und AkademikerInnen mit Migrationshintergrund dar, das der deutschen Gesellschaft zwar innewohnt, aber kaum genutzt wird – so ein zentrales Ergebnis der Sozialstudie über die türkischen AkademikerInnen und Studierenden in Deutschland (TASD-Studie). Bevor hierauf näher eingegangen wird, sollen im Folgenden die Charakteristika und Konsequenzen des demografischen Wandels auf die deutsche Gesellschaft dargestellt werden.

Fachkräftemangel – Fakt oder Mythos!?
Eine der herausragenden Folgen der demografischen Entwicklung ist der so genannte Fachkräftemangel. Fachkräftemangel existiert, wenn Positionen in Wirtschaft und Gesellschaft, die bestimmte Qualifikationen und Kompetenzen erfordern, nicht durch Personen besetzt werden können, die über diese Qualifikationen und Kompetenzen verfügen. Dieser Zustand führt zur Verminderung der Leistungs- und Innovationsfähigkeit einer Volkswirtschaft und der Standortqualität. (vgl. Hug 2008) Daher ist die Sorge über die Folgen des Fachkräftemangels durchaus berechtigt.

Fakt ist aber, dass ein solcher Fachkräftemangel gegenwärtig in Deutschland nicht existiert. In manchen Branchen und Regionen ist in der Tat zu beobachten, dass es an nötigen qualifizierten Fachkräften fehlt. Dies betrifft beispielsweise die Regionen Baden-Württemberg, Berlin/Brandenburg und Sachsen sowie für bestimmte Branchen wie z.B. wirtschaftsnahe Dienstleistungen und Baugewerbe. Aber relativ wenige Betriebe geben an, dass sie durch den Arbeitskräftemangel eine Einschränkung erfahren. (vgl. Kettner / Spitznagel 2007)

Die Dauer bis eine vakante Arbeitsstelle durch eine geeignete Arbeitskraft besetzt werden kann, ist angestiegen. Damit wird ersichtlich, dass für Unternehmen zunehmend schwieriger wird, geeignete Arbeitskräfte zu finden. Dieser Zustand stellt aber keine die breite Wirtschaft betreffende Gefahr dar. (vgl. Kettner 2007)

Es muss hervorgehoben werden, dass die Ursache für den zuvor beschriebenen Mangel an Arbeits- und Fachkräften marginal in der demografischen Entwicklung liegt. Er ist vielmehr auf die Defizite in der deutschen Bildungspolitik zurückzuführen. Es wurde in der Vergangenheit versäumt, die absehbaren Qualifikationsbedarfe in Wirtschaft und Gesellschaft zu decken, indem die wirtschaftlich relevanten Fähigkeiten und das benötigte Wissen ausgebildet wurden. (vgl. Reinberg / Hummel 2003)

Der durch die demografische Entwicklung bedingte Fachkräftemangel wird ab dem Jahr 2020 in voller Stärke durchschlagen. Die geburtenstarken Jahrgänge der Baby-Boom-Generation wird allmählich das aktive Erwerbsleben verlassen und in die Rente gehen. Das Durchschnittsalter in der Erwerbsbevölkerung wird ansteigen. Der Anteil der 50- bis 64jährigen wird von gegenwärtig 24% auf 32% im Jahr 2050 anwachsen. Gleichzeitig verringert sich die Zahl der jüngeren Erwerbstätigen: Waren 1990 über 14 Millionen Erwerbstätige jünger als 30 Jahre, sank ihre Zahl 2005 auf etwa 10 Millionen. 2020 wird diese Altersgruppe ca. 9 Millionen Erwerbstätige zählen. Und nach Schätzungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) werden es ab 2050 7 Millionen Erwerbstätige unter 30 Jahren sein. (vgl. Fuchs / Reinberg 2007)

Akademisierung: „Deutschland braucht doch nicht so viele Akademiker…“
Über die Altersstruktur der Erwerbsbevölkerung hinaus wird der künftige und absehbare Fachkräftemangel durch die Qualifikationsstruktur verstärkt. Der wirtschaftliche Strukturwandel in Deutschland führt dazu, dass bei gleichzeitiger Abnahme des Bedarfs nach Personen ohne Berufsabschluss die Nachfrage nach AkademikerInnen zunehmen wird.
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Die Akademisierung moderner Gesellschaften ist aber wenig überraschend: Jean Fourastié hat in seiner Drei-Sektoren-Hypothese dargelegt, dass ein Wirtschaftssystem sich von der Agrargesellschaft über die Industriegesellschaft hin zur Dienstleistungsgesellschaft fortentwickelt (Tertiarisierung). Der Anteil von Beschäftigten im tertiären Sektor (Dienstleistungsgesellschaft) hat ab den 1970er Jahren den des sekundären Sektors (Industriegesellschaft) überflügelt. Auch im Dienstleistungssektor werden nach wie vor niedrig qualifizierte Arbeitskräfte benötigt. Der Trend geht jedoch zunehmend in Richtung Höherqualifizierung. (vgl. Seyda 2004) Die Planung und Logistik von Gütern und Dienstleistungen hat inzwischen einen höheren Stellenwert als ihre Produktion.

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Mythos De-Industrialisierung: „Oh Gott, wir verlieren unsere Arbeitsplätze…“
Seit einigen Jahren wird darüber geklagt, dass immer mehr Arbeitsplätze aus Deutschland in die so genannten „Billiglohn-Länder“ verlagert werden. In der Tat ist es ein schmerzlicher Vorgang, durch den viele Arbeitsstellen nicht mehr dem deutschen Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen. Es wird aber hierbei außer Acht gelassen, dass die Standort-Verlagerungen oft einfache Tätigkeiten der Produktion betreffen, die überwiegend durch angelernte Arbeitskräfte verrichtet werden. Tätigkeiten, die hingegen eine Qualifizierung der Arbeits- und Fachkräfte voraussetzen wie z.B. Marketing, Vertrieb, Planung oder Forschung und Entwicklung, bleiben in Deutschland. (vgl. Kroker / Kuhn 2009)

Die Standort-Verlagerung stellt damit einen Prozess der Reallokation von Ressourcen zugunsten des Dienstleistungssektors in fortgeschrittenen Ökonomien dar, durch die komparative Vorteile in einer internationalen Arbeitsteilung erzielt werden. Hieraus kann relativ stabil prognostiziert werden, dass weiterhin niedrigqualifizierte Tätigkeiten aus Deutschland in Entwicklungs- und Schwellenländern verlagert, wohingegen hochqualifizierte Tätigkeiten in Deutschland verbleiben und sogar an Bedeutung zunehmen werden. (vgl. Sezer 2005)

Auf dem Weg zur Wissensgesellschaft: „Ich kann sehr gut mit Word umgehen…“
Ein anderer Zugang, der die zunehmende Bedeutung von Hochqualifizierten in modernen Ökonomien erklärt, ist auch unter dem Begriff der so genannten Wissensgesellschaft zusammengefasst. Hierbei handelt es sich sowohl um einen strukturellen Wirtschaftswandel als auch um eine gesamtgesellschaftliche Entwicklung moderner Industriestaaten zu einem Wirtschaftssystem, in dem das Wissen die Produktivkräfte Boden, Arbeit und Kapital überflügelt und als vierte Produktivkraft anerkannt ist.

Wissen durchdringt die Gesellschaft dermaßen, dass die Produktpalette, die Produktionsweise, die Arbeits- und Innovationsfähigkeit einer Gesellschaft nachhaltig verändert wird. In diesem Zusammenhang wird oft der Begriff des Wissensarbeiters eingebracht. (vgl. Bittlingmayer 2001; Böhret / Konzendorf 1996/1997; Willke 2001)

Die Hauptaufgabe des Wissensarbeiters besteht – vereinfacht ausgedrückt – darin, Informationen und Wissen in der elaborierten Organisation derart zu verarbeiten, so dass durch Interpretation und Analyse sowie Einsatz von Kreativität eine Wertschöpfung erzielt wird, indem neues Wissen generiert und kommuniziert wird. (vgl. Drucker 1998; Willke 2001; North / Güldenberg 2008) Es ist offensichtlich, dass der Wissensarbeiter über gehobene Qualifikationen (einschließlich formale Bildungsabschlüsse) verfügen muss, um diese Aufgaben wahrnehmen zu können. „Organisierte Wissensarbeit, soviel ist heute schon zu sehen, wird ein Kernstück der Transformation der Arbeits- und Industriegesellschaft zur Wissensgesellschaft sein.“ (Willke, 1998)

Sowohl die Drei-Sektoren-Hypothese von Jean Fourastié als auch die vielfältigen Arbeiten zur Wissensgesellschaft demonstrieren, dass im Rahmen des Übergangs von der Industrie- zur Wissensgesellschaft der Bedarf an AkademikerInnen bzw. hochqualifizierten Fachkräften in der nahen Zukunft wachsen wird. Es wird zwar erwartet, dass das Angebot höher qualifizierter Arbeitskräfte steigen wird, jedoch es wird nicht ausreichen, um den Bedarf der Wirtschaft zu decken. (vgl Reinberg / Hummel 2003; OECD 2008)

Auch die OECD-Studie „Bildung auf einen Blick 2008“ kommt zum Schluss, dass trotz der gestiegenen Studierendenzahlen das Fachkäfteangebot in Deutschland sowohl im internationalen Vergleich als auch im Hinblick auf den Bedarf der deutschen Wirtschaft unzureichend ist. Fazit der Studie: Das deutsche (Aus-) Bildungssystem ist gefordert, mehr Hochqualifizierte auszubilden. (OECD 2008)

Zu- und Einwanderung von ausländischen Hochqualifzierten: „..das Boot war doch mal voll, oder!?“
Die Zu- bzw. Einwanderung von ausländischen Hochqualifizierten nach Deutschland wird als ein Lösungsansatz diskutiert, um den Fachkräftemangel zu bewältigen. Die jüngst veröffentlichten Zahlen des Bundesamts für Statistik zur Zu- und Abwanderung belegen, dass die bisher praktizierte Zuwanderungspolitik der Bundesregierung nicht die gewünschten Wirkungen erzielt hat. Zwar ist die Zahl der Zuwanderungen nach Deutschland konstant geblieben ist, aber die Zahl der Abwanderungen ist im gleichen Zeitraum gestiegen. Den 682.000 Zuzügen nach Deutschland stehen 738.000 Fortzüge ins Ausland gegenüber. (vgl. Statistisches Bundesamt Deutschland 2009)

Bereits im Mai 2009 hat der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Migration und Integration darauf hingewiesen, dass es in der „Firma“ Deutschland eine migratorische Verlustrechnung gibt. Seit über 15 Jahren überwiegt die Zahl der Fortzüge von Deutschen die der Rückkehrer. (Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Migration und Integration 2009)

Des Weiteren konnte offen gelegt werden, dass ein großer Teil der deutschen Abwanderer sich auf dem Höhepunkt ihres Erwerbslebens befinden. „Das aus der Wanderungsstatistik gewonnene Ergebnis ist eindeutig: Mehr als 75% der deutschen Abwanderer sind 18 bis 65 Jahre alt und damit im erwerbsfähigen Alter; über 50% der Abwanderer liegen mit 25 bis 50 Jahren sogar im Kernbereich ihrer erwerbsbiografischen Aktivität. Ein Vergleich dieser Altersstruktur mit der der deutschen Bevölkerung zeigt, dass vor allem die Altersgruppe zwischen 25 und 50 Jahren bei den Abwanderern deutlich überrepräsentiert ist.“ (ebd.)

Nach einer Studie der Prognos AG zur Auswanderung und Rückkehrbereitschaft von deutschen Auswanderern planen lediglich 7% der deutschen Exilanten nach Deutschland zurückzukehren. 46% stehen einer Rückkehr in die Heimat offen, wohingegen über 46% der Auswanderer nicht in absehbarer Zeit zurückkehren möchten. Erfreuliches Ergebnis ist, dass insbesondere die hochqualifizierten bzw. akademischen Auswanderer eine Rückkehrbereitschaft in Betracht ziehen. (vgl. Prognos AG 2007)

Migranten als stille Reserve: „Die sind doch integrationsunwillig…“
Ein dritter Aspekt, der über die Auswirkung des bereits heute absehbaren Fachkräftemangels beeinflusst, stellen die in Deutschland lebenden Migranten und Migrantinnen dar. Dass Deutschland ein Einwanderungsland ist, wird inzwischen als politische und gesellschaftliche Realität anerkannt, die von der Politik aber lange Zeit abgelehnt und durch Ersatzbegriffe wie Zuwanderungsland, De-Facto-Zuwanderung oder Integrationsland verschleiert wurde. Inzwischen können die Zahlen, die den Status Deutschlands als Einwanderungsland belegen, nicht mehr von der Hand gewiesen werden. (vgl. United Nations 2006)

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Da das Bundesamt für Statistik im Mikrozensus seit 2005 auch den Migrationshintergrund der in Deutschland lebenden EinwohnerInnen erhebt, ist inzwischen bekannt, dass über 15 Millionen Menschen einen Migrationshintergrund haben. Dies entspricht einem Anteil von über 18% an der Gesamtbevölkerung. Insbesondere in westdeutschen Regionen (und Berlin) beträgt der Anteil von Personen mit Migrationshintergrund unter 10 Jahren mindestens 30% und in manchen Regionen sogar über 40%. Diese Altersverteilung lässt erkennen, dass der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland in den nächsten Jahren und Jahrzehnten weiter zunehmen wird.

Aus dem Blickwinkel des Humankapitals bewertet, wird die deutsche Gesellschaft in den folgenden Jahren über ein großes Reservoir an Arbeitskräften mit Migrationshintergrund verfügen, die das Arbeitskräfteangebot der Zukunft – insbesondere in den Metropolen - bestimmen wird. Aktuelle Studien belegen aber, dass hierzulande dieses Potenzial unzureichend nutzt wird. Oder anders formuliert: Das volkswirtschaftlich verwertbare Potenzial der in Deutschland lebenden MigrantInnen liegt brach. (vgl. Veith / Koehler / Reiter 2009; PISA-Konsortium Deutschland 2007)

„Nur 4 von 100 Gymnasiasten sind Ausländer und 8 von 100 Realschülern haben eine nicht-deutsche Nationalität. Sind ausländische Schüler damit an jenen Schulformen unterrepräsentiert, die gute bis sehr gute Aussichten auf einen Ausbildungs- oder Studienplatz ermöglichen, so ist ihr Anteil an jenen Schulen besonders hoch, die erheblich weniger Chancen eröffnen: An Hauptschulen ist jeder fünfte Schüler Ausländer, an Förderschulen sind es 16 Prozent.“ (Veith / Koehler / Reiter 2009)

Die türkischen AkademikerInnen und Studierenden in Deutschland: „Schön, dass es euch gibt…“
Angesichts der oben dargestellten Entwicklungen sollte man froh darüber sein, dass es die TASD gibt, also die türkischstämmigen Jugendliche und jungen Erwachsene, die sich den Sogkräften der Abwärtsspirale in der Bildungsmisere der deutsch-türkischen Gemeinde entziehen konnten und das deutsche Bildungssystem erfolgreich durchlaufen haben. Sie gehören zweifelsohne der Bildungselite dieses Landes an. Als (angehende) AkademikerInnen sind sie hochqualifiziert, weswegen sie über Kompetenzen und Qualifikationen verfügen, die heute und besonders auch in der Zukunft am deutschen Standort benötigt werden.

Angesichts dessen neigt man ebenfalls dazu, dieser Bevölkerungsgruppe pauschal zu attestieren, dass sie hervorragend integriert sei und sich in Deutschland heimisch fühle. Denn: In der deutschen Integrationsdebatte existieren Automatismen, die sich in den Erwartungshaltungen der integrationspolitischen Entscheidungsträger und Meinungsmacher manifestieren. Demnach sei ein Migrant integriert, wenn er die deutsche Sprache beherrscht. Ein Schul- und ein Berufsabschluss sei ebenfalls eine Garantie für seine Integration in die deutsche Gesellschaft. Folglich besteht kein Bedarf dafür, sich Sorgen über diese Bevölkerungsgruppe zu machen.

Die „Sozialstudie über die türkischen Akademiker und Studierenden in Deutschland (TASD-Studie)“ (1) aber zeigt, dass in dieser Bevölkerungsgruppe die oben dargestellten gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklungsstränge (Fachkräftemangel, Abwanderungsbereitschaft von Hochqualifzierten, Akademisierung der Wirtschaft, Migrantenqualifzierung zur Mobilisierung einer stillen Reserve) und die Defizite der Integrationspolitik gespiegelt sind: mehr als ein Drittel der gut ausgebildeten TASD beabsichtigt oder plant mittelfristiig Deutschland in Richtung Türkei zu verlassen!

Die Gründe hierfür werden unten näher vorgestellt. Zunächst muss aber hervorgehoben werden, dass es in der deutschen Integrationspolitik keine Automatismen existieren. Dies ist definitiv zu kurz gedacht und demonstriert zugleich, dass in der deutschen Integrationsdebatte – und hierzu zähle ich auch die deutsche Integrationsforschung – Schlussfolgerungen auf subjektivem Empfinden und jenseits empirischer Verifizierung gefällt werden, die Folgen auf die Gestaltung der Integrationspolitik haben. (2) Die deutsche Sprache einwandfrei zu beherrschen und auch einen Schul- sowie Berufsabschluss zu besitzen, erhöht lediglich die Wahrscheinlichkeit, dass die MigrantInnen in die deutsche Gesellschaft integriert werrden. Sie sind keinesfalls Garanten.

Die Integration von Migranten in Deutschland hängt von mehreren Erfolgsfaktoren ab: Als häufigstes Abwanderungsmotiv haben die TASD „fehlendes Heimatgefühl zu Deutschland“ angegeben. An zweiter Stelle rangieren „berufliche Gründe“. Die „wirtschaftlichen Gründe“ und „familiären Gründe“ nehmen bei den TASD nur eine marginale Position ein. Obwohl dieses Ergebnis signifikant ist, wäre es zu kurzsichtig, den Hauptgrund für die hohe Abwanderungsbereitschaft der TASD in ihre geringe Identifikation mit Deutschland zu sehen. Eine differenzierte Analyse der Daten zeigt, dass die Abwanderungsmotive je nach der eingenommenen Perspektive unterschiedlich stark pointiert sind.

Für die TASD-Männer sind die fehlenden Heimatgefühle zu Deutschland ein stärkeres Abwanderungsmotiv als für die Frauen. Zwar haben auch die Frauen das fehlende Heimatgefühl als einen wichtigen Abwanderungsgrund angegeben, doch im Unterschied zu den Männern ist dies gleich wichtig wie berufliche Gründe. Dabei sind die Frauen eher bereit, innerhalb den ersten fünf Jahren in die Türkei abzuwandern, wohingegen die Männer längerfristig planen.

Auch bei den Studierenden ist das fehlende Heimatgefühl ein wichtiger, jedoch nicht der wichtigste Abwanderungsgrund. Für sie sind berufliche Gründe von großer Bedeutung. Bei den AkademikerInnen hingegen begründet fast jede/r zweite seine/ihre Abwanderungsbereitschaft mit fehlendem Heimatgefühl.

Diese Ergebnisse führen zu der Frage, ob die Abwanderungsabsicht der TASD durch weitere Faktoren beeinflusst wird. Offensichtlich spielen die Eltern bei der durch die Studie diagnostizierten Abwanderungstendenz eine sehr wichtige Rolle. Beherrschen die Eltern die deutsche Sprache schlecht, haben sie ein niedriges Bildungsniveau, sind sie mit ihrem Leben in Deutschland unzufrieden oder bereuen gar ihre Migration nach Deutschland, so scheint diese negative Einstellung der Eltern auf ihre hochqualifizierten Kinder abzufärben. Diese Annahme wird zudem durch die starke Familienorientierung bei den TASD gestützt, die durch die empirischen Daten belegt werden.

Auch die Religion erklärt die Abwanderungstendenz bei den TASD: Hat die Religion einen hohen Stellenwert bei den TASD, und sind sie der Ansicht, dass sie ihren Glauben in Deutschland nicht frei ausüben können, dann ist die Abwanderungsbereitschaft sehr hoch. Diese Bevölkerungsgruppe kann durchaus als „gläubig“ gewertet werden. Dabei muss aber darauf hingeweisen, dass die TASD ihre Gläubigkeit auf vielfältige und individuelle Weise ausleben. Die Religion ist für diese Bevölkerungsgruppe durchaus wichtig, aber in der Ausübung und Auslegung der religiösen Vorschriften sind sie inkonsistent. Der regelmäßige Besuch des Freitagsgebets, das Verrichten der fünf Gebete am Tag, das Einhalten der Fastenzeit oder konsequente Beachtung der so genannten halal-Vorschriften beim Verzehr von Fleischprodukten erfolgt scheinbar unter der Maßgabe der Vereinbarkeit mit den Anforderungen der modernen Arbeitswelt. Interessant ist, dass die TASD ihre „Gläubigkeit“ sehr gut mit einem säkularen Ordnungssystem vereinbaren können.

Fazit: Aus Generation Heimweh eine Generation Deutschland machen…
Diese Highlights aus dem Innenleben der türkischen AkademikerInnen und Studierenden in Deutschland belegen eindrucksvoll, dass die erfolgreiche Integration von MigrantInnen von mehr Faktoren als von Sprachkompetenzen und Bildungsabschlüssen abhängt. Dazu gehören eine verbesserte Bildungs- und Berufssituation und auch eine im weitesten Sinne „Kultur der Anerkennung und Akzeptanz“, damit sich die Migranten im Allgemeinen und die TASD im Besonderen mit Deutschland identifizieren können.

Dabei muss deutlich werden, dass eine im Hinblick auf den Fachkräftemangel sinnvolle und nutzstiftende Integrationspolitik nicht bei den TASD sondern bei ihren Eltern beginnt. Die Einstellungen der Eltern gegenüber Deutschland, ihre Bildungssituation und Sprachkompetenzen haben offenbar Einfluss auf die Einstellung und Loyalität ihrer hochqualifizierten Kinder gegenüber Deutschland.

An dieser Stelle drängt sich die Frage auf, inwiefern es sinnvoll ist, die Eltern, die überwiegend der ersten Einwanderergeneration angehören, verstärkt versuchen zu integrieren. Die Analyse der Daten zu den Eltern der TASD (3. Teilstudie), die in Kürze veröffentlicht wird, zeigt auf, dass insbesondere bei den Müttern ein Qualifizierungspotential existiert, das auch im fortgeschrittenen Alter aktiviert werden kann.

Auch die Religion ist eine gestaltbare Handlungsdimension, die positiv auf die Einstellung der türkischen Hochqualifizierten auswirkt. Die Religion ist offensichtlich ein wichtiger Bestandteil der eigenen Identität.In der Mehrheit sind die TASD gläubig, aber in der Ausübung ihres Glaubens sind sie pragmatisch. Wenn auch die TASD in der Ausübung ihres Glaubens inkonsistent sind, fördern ein toleranter Umgang und die Akzeptanz ihrer Religion die Identifikation mit Deutschland.

Den TASD müssen außerdem berufliche Aufstiegsmöglichkeiten eröffnet werden. In die Türkei möchten nämlich insbesondere jene TASD abwandern, die dem aufstiegsorientierten Typus zugeordnet wurden. Sie möchten Führungspositionen einnehmen und damit einen beruflichen Aufstieg erreichen. In Anbetracht dessen wird dem Diversity Management eine wichtige Bedeutung beigemessen, um Anreize gegen eine Abwanderung der TASD zu schaffen.

Die Analyse der Karrierebiografien, die in der vierten Teilstudie im vierten Quartal 2009 veröffentlicht wird, hat ergeben, dass der TASD mehrheitlich in Großunternehmen beschäftigt sind. Hingegen ist der Anteil der TASD in kleinen und insbesondere in mittelständischen Unternehmen (KMU) sehr gering. Berücksichtigt man, dass der Bedarf an Hochqualifizierten in der Zukunft in diesen Unternehmen zunehmen wird, wird offensichtlich wie wichtig es ist, dass Diversity Management in KMUs stärker implementiert wird.

Dass TASD dem Land ihrer Kindheit besonderen Wert beimessen, ist dadurch erkennbar, dass das Interesse an dem politischen Geschehen in Deutschland sehr groß ist, das bürgerschaftliche Engagement beachtlich ist und die Zufriedenheit mit dem Leben in Deutschland insgesamt als gut eingeschätzt wird. Die Chancen stehen also für die Akteure der deutschen Integrationspolitik sehr gut, um aus der Generation Heimweh eine Generation Deutschland zu machen und deren Potenzial im Sinne der deutschen Gesellschaft einzusetzen und zu nutzen.

Endnoten
(1) Die TASD-Studie wurde im Frühjahr 2008 durchgeführt. Die Erhebung erfolgte mithilfe einer Online-Befragung, an der 254 Personen teilgenommen haben. Ziel der Studie war es, erstmals nach wissenschaftlichen Kriterien eine Bestandsaufnahme über die Lebenssituation, Einstellungen, Erwartungen und Verhalten der türkischen Akademikern und Studierenden in Deutschland durchzuführen. Hierfür wurde ein umfangreicher Fragebogen entworfen, der über 800 Items (Erhebungseinheiten) bzw. 350 Fragen zu 12 Fragebatterien (Migrationsgeschichte, Bildung, Beruf, Konsum, Freizeit, bürgerschaftliches Engagement, politische sowie religiöse Einstellungen usw.) umfasste.
Anlass für dieTASD-Studie war die Annahme, dass das Potenzial von Hochqualifizierten mit Migrationshintergrund in Deutschland nicht ausreichend erschlossen und im Sinne des deutschen Standorts genutzt wird. Das Erkenntnisziel besteht darin, das Potenzial dieser Bevölkerungsgruppe auf der Grundlage von zuverlässigen steuerungspolitischen Erkenntnissen zu aktivieren und zu mobilisieren.

(2) Bei der deutschen Integrationsforschung muss diese Aussage differenzierter gewertet werden, da sie zahlreiche empirische Studien vorweisen kann. Dass aber die deutsche Integrationsforschung trotzdem mit dieser Aussage pauschal in Verbindung gesetzt wird, liegt daran, dass in vielen Forschungsarbeiten und -studien kaum die Migrantenpersepktive vertreten ist, weswegen die Interpretationen und Schlussfolgerungen aus diesen unvollständig oder - polemisch ausgedrückt – amüsant sind.

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Kamuran Sezer, Jg 1978, hat Sozialwissenschaft mit Schwerpunkt Organisationssoziologie und empirische Sozialforschung studiert. Er gründete das futureorg Institut für angewandte Zukunfts- und Organisationsforschung mit Sitz in Dortmund.