von Wolfram Weiße
Dialog im Religionsunterricht unter den Bedingungen von Separation?
Wie kann Religion im Bildungswesen so berücksichtigt werden, dass die Potentiale zu Dialog und Verständigung zum Zuge kommen können und nicht Faktoren wie Trennung, Exklusion und Absolutheitsansprüche, die sich gegen andere richten?
Dies ist eine Kernfrage für alle Formen des Religionsunterrichts in unserer Gesellschaft. Religionsunterricht ist seit rund 10 Jahren wieder zu einem öffentlich beachteten Thema geworden – Tendenz steigend. Offensichtlich wirkt sich hier ein neues Bewusstsein im öffentlichen Bereich aus, dass Religion über den privaten Bereich hinaus auch für gesellschaftliche Verständigungsprozesse oder Konfliktkonstellationen eine zunehmende Bedeutung gewinnt.
Auch von Expertinnen und Experten werden Dialog und Verständigung fast durchgehend als Kernziele von Religionsunterricht angesehen. Aber wie sind derartig anspruchsvolle Ziele zu erreichen? Diese generelle Frage betrifft zum einen die Möglichkeiten und Grenzen von schulischem Unterricht insgesamt, sie öffnet aber auch den Blick auf die unterschiedlichen Konstruktionen von Religionsunterricht. Zugespitzt handelt es sich darum, ob und wie Dialog und Verständigung in einem nach Konfessionen und Religionen getrennten Religionsunterricht, wie er in den meisten deutschen Bundesländern favorisiert wird, durchführbar ist. Könnte es sein, dass die guten Intentionen, andere Religionen zu verstehen, in eine Spannung geraten zur Konstruktion dieses Unterrichts? Könnte es für Schülerinnen und Schüler nicht als merkwürdig angesehen werden, wenn sie erst nach Konfession und Religion getrennt werden und dann zusätzlich zur eigenen Religion über die jeweils anderen Religionen unterrichtet werden?
Gleichzeitig ist es verständlich, dass z.B. Muslime dieselben Rechte auf einen eigenen Religionsunterricht zugestanden bekommen wollen, wie er für Katholiken und Protestanten in den meisten Bundesländern selbstverständlich ist. Dieses Moment der Gleichberechtigung wiegt schwer und hat dazu geführt, dass im öffentlichen Raum die Einrichtung von Islamunterricht gefordert und in einigen Bundesländern auch – zumeist in Form von Pilotprojekten – realisiert worden ist. In einem Gedankenspiel entwirft die Soziologin Hasret Karacuban die Vision, dass im Jahr 2020 Islam-Unterricht flächendeckend ordentliches Unterrichtsfach sei und Religionsunterricht in anderen Weltreligionen nach Bedarf eingerichtet werde (1) Dies könnte so werden, aber: Würde die Einlösung dieser Vision auch der angestrebten Integration dienen?
Islamunterricht befindet sich in einem Spannungsfeld: Er steht für Gleichberechtigung dort, wo es evangelischen und katholischen Religionsunterricht gibt. Aber die Aufteilung der Schülerinnen und Schüler nach religiöser Zugehörigkeit hat auch einen strukturellen Nachteil. Dieser Ansatz beruht geradezu auf Trennung und – wo die Minderheiten das Klassenzimmer zu verlassen haben – auch auf Exklusion. Kann dieses Spannungsverhältnis überwunden werden?
Nicht nur auf europäischer Ebene gibt es Konstruktionen von Religionsunterricht, die – wie in Norwegen, Russland oder England – auf eine konfessionelle Trennung verzichten und das gemeinsame Lernen von Schülerinnen und Schülern ungeachtet ihrer religiösen und weltanschaulichen Bindungen wertschätzen. Auch in Deutschland gibt es Ansätze eines dialogorientierten Religionsunterrichts, an dem Schülerinnen und Schüler unterschiedlicher Religion, Kultur und Weltanschauung gemeinsam teilnehmen. Ein solcher Ansatz liegt in Hamburg vor.
Religionsunterricht für alle in Hamburg
„Der gemeinsame Religionsunterrichtsunterricht für alle trägt – besser als ein nach Konfessionen und Religionen getrennt erteilter Religionsunterricht – zu Dialog und Verständigung in der multikulturellen und multireligiösen Gesellschaft bei. (…) Eine Spaltung des Religionsunterrichts nach Konfessionen oder Religionen lehnen wir aus religionspädagogischen und integrationspolitischen Gesichtspunkten ab“ (2).
In diesem Zitat aus einer Grundsatzerklärung von Expertinnen und Experten aus sieben Religionsgemeinschaften sowie aus dem religionspädagogischen Feld in Hamburg spiegelt sich wie in einem Brennglas das Selbstverständnis des Hamburger Religionsunterrichts. Im Vergleich der bundesdeutschen Länder bildet Hamburg einen Ausnahmefall – allerdings nicht im größeren Rahmen Europas. Während in nahezu allen Bundesländern Deutschlands der Religionsunterricht getrennt für katholische, evangelische und in wenigen Fällen auch muslimische Kinder erteilt wird, hat sich in Hamburg seit ca. 30 Jahren eine andere Praxis herausgebildet: Hier wird im Religionsunterricht nicht nach evangelischen, katholischen oder atheistischen Schülerinnen und Schülern getrennt, sondern es gibt einen Religionsunterricht, an dem alle Schülerinnen und Schüler ungeachtet ihrer jeweiligen religiösen und kulturellen Hintergründe gemeinsam im Klassenverband teilnehmen.
Wir bezeichnen diesen Religionsunterricht als einen dialogischen Religionsunterricht. Hiermit ist eine Orientierung verbunden, die religiöse Absolutheitsansprüche oder fundamentalistische, auf Abgrenzung gerichtete Grundhaltungen überwindet. Theologisch und religionspädagogisch sowie erziehungswissenschaftlich gehen wir auf Ansätze zu, in denen der Dialog zentral verankert ist. So stützen wir uns auf den erfahrungsorientierten ökumenischen Dialogansatz von Hans-Jochen Margull, auf den jüdischen Theologen und Philosophen Martin Buber, auf den Erziehungswissenschaftler Helmut Peukert, auf Paulo Freire und andere, um eine dialogische Religionspädagogik in Hamburg auszuarbeiten.
Vor diesem Hintergrund gewinnt der Dialog im Klassenzimmer an Bedeutung: In einem dialogisch verfassten Unterricht können sich Schülerinnen und Schüler mit ihren unterschiedlichen und unterschiedlich stark ausgeprägten religiösen und weltanschaulichen Hintergründen einbringen sowie auch eigene Positionen entwickeln. Fragen nach dem Sinn des Lebens und Sterbens, nach dem letztlich Tragenden, nach dem Heiligen und Göttlichen prägen diesen Unterricht ebenso wie sozial ethische Fragen nach Gerechtigkeit, Frieden und Schöpfungsbewahrung. In diesem Spektrum gibt es viele Gemeinsamkeiten zwischen den verschiedenen Konfessionen und Religionen.
Dialog im Unterricht ist aber auch darauf ausgerichtet, Unterschiede in ihren jeweiligen Verankerungen zur Geltung kommen zu lassen: Eigene Positionen sollen nicht in Vermischung mit anderen erahnt, sondern im Angesicht anderer Positionen gefunden werden. Religionsunterricht sollte – ungeachtet der Wahrnehmung und Respektierung von Differenz – einen Dialog im Klassenzimmer ermöglichen, in dem unterschiedliche religiöse Positionen zur Sprache gebracht werden können, aber religiöse Bindungen nicht die Voraussetzung zur Teilnahme am Unterricht bilden. Der Dialog im Klassenzimmer fördert den Respekt vor den religiösen Überzeugungen Anderer und verweist auf die Relevanz einer möglichen Vergewisserung und Ausbildung eigener Religiosität bei gleichzeitiger kritischer Infragestellung. Ein solcher Religionsunterricht ist im Rahmen eines schulpädagogischen Ansatzes zu verstehen, der angesichts zunehmender kultureller Heterogenität und sozialer Spaltung der Bevölkerung nicht die Aufgabe hat, Trennungen zu spiegeln oder gar zu vertiefen, sondern zu wechselseitigem Verständnis beizutragen.
Ein solcher Religionsunterricht kann nicht auf das Hineinführen in eine Religion ausgerichtet sein, und soll dies ausdrücklich auch nicht. Religionspädagogisch wird in Hamburg davon ausgegangen, dass die Erziehung in eine bestimmte Religion hinein Aufgabe von Elternhaus und Religionsgemeinschaft ist, die öffentliche Schule aber ein andere Aufgabe hat, nämlich: in religiöse Themen so einzuführen, dass damit eine Verbindung zwischen Traditionen verschiedener Religionen und der Lebenswelt von Schülerinnen und Schülern möglich wird. Das Ziel besteht nicht darin, in eine Religion hineinzuführen, sondern in unterschiedliche Religionen einzuführen: in die gelebten Religionen unserer Gesellschaft, in die „Nachbarreligionen“, das bedeutet die Religionen der Nachbarn im Klassenzimmer, in der Schule im Stadtteil, in der Gesellschaft insgesamt.
Hierzu brauchen wir auch in größerem Maße als bisher eine Berücksichtigung dieser Religionen in der Lehramtsausbildung. Auch brauchen wir gangbare, pädagogisch sinnvolle und rechtlich vertretbare Möglichkeiten, den Religionsunterricht nicht nur von christlichen, sondern auch von Lehrerinnen und Lehrern mit muslimischem, jüdischem, buddhistischem etc. Hintergrund erteilen zu lassen. Hierüber denken wir nach und holen Expertisen auf allen Ebenen ein. Und wir benötigen akademische Ressourcen, um Lehrerinnen und Lehrer entsprechend auszubilden. Wir arbeiten hierzu seit Jahren an einer „Akademie der Weltreligionen“ an der Universität Hamburg.
Schülerinnen und Schüler zum Hamburger Religionsunterricht für alle
So weit der generelle Ansatz. Wie wird der Religionsunterricht für alle nun von denjenigen, für die der Unterricht gedacht ist, wahrgenommen: den Schülerinnen und Schülern?
In einer Befragung, die im Rahmen des europäischen Großforschungsprojektes REDCo in Europa durchgeführt wurde, haben wir u.a. in Hamburg Schülerinnen und Schüler im Alter von 14 bis 16 Jahren nach ihren Wünschen zum Religionsunterricht befragt. Solle dieser nach Konfessionen oder Religionen getrennt sein oder für alle gemeinsam angeboten werden? Die Antworten der Hamburger Schülerinnen und Schüler gehen bei wenigen Ausnahmen alle in dieselbe Richtung: Der „Religionsunterricht für alle“ solle beibehalten werden. Das sagen die meisten Schülerinnen und Schüler, egal ob sie einen christlichen, muslimischen oder auch einen konfessionslosen Hintergrund haben.
Einwände gegen einen gemeinsam erteilten Religionsunterricht, die von Einzelnen erhoben wurden, beziehen sich auf die Lehrerrolle, das mögliche Konfliktpotential im religiös-thematischen Bereich, ein generelles Desinteresse und den – nicht weiter begründeten und in sich ambivalenten – Wunsch, in einer religiös homogenen Gruppe unterrichtet zu werden. Derartige Positionen von Schülerinnen und Schülern bieten wichtige Anhaltspunkte für die Weiterentwicklung der didaktischen Konstruktion von Religionsunterricht in Hamburg. Sie verstärken die Notwendigkeit von Überlegungen zur Verbesserung und Pluralisierung der Lehramtsausbildung, sie unterstreichen die Relevanz der Wahrnehmung von Konflikten im Klassenzimmer, die sich auch an religiösen Positionen entzünden können, sie weisen auf eine Unterrichtsentwicklung hin, in der Binnendifferenzierung einen größeren Stellenwert einnehmen könnte.
Die an Zahl weit umfangreicheren und in der Begründung differenzierteren Argumente Hamburger Schülerinnen und Schüler bestärken einen „Religionsunterricht für alle“ in Hamburg. Sicher liegt das auch an der „Macht des Faktischen“, da sie i.d.R. keinen konfessionell getrennten Religionsunterricht kennen. Dennoch ist es erstaunlich, wie klar und aufgefächert Argumente von SchülerInnenseite geäußert werden, die einen gemeinsamen Religionsunterricht favorisieren. Aus der Fülle der Äußerungen greife ich zwei heraus, die sich zum einen auf religionspädagogische, zum anderen auf gesellschaftliche Sachverhalte beziehen (3).
Als erste soll eine muslimische Schülerin zu Wort kommen:
„Ich persönlich finde es besser, wenn Schüler aus verschiedenen Religionen zusammen unterrichtet werden. …Wenn z.B. in meiner Religionsklasse nur Muslime wären, wären wir alle derselben Meinung und würden gar nicht so richtig, also überhaupt nicht diskutieren können oder was Neues lernen. Man lernt dann nur das, was man in der Moschee lernt. Um dies zu lernen, gehe ich doch auch zur Moschee! Es würde für mich nicht sehr interessant sein, wenn ich in der Schule alles, was ich gelernt habe, noch mal wiederholen müsste. Es wäre langweilig.“
An dieser Stellungnahme wird deutlich, wie wichtig für Schülerinnen und Schüler ein Face-to Face Lernen mit MitschülerInnen anderer religiöser Couleur sein kann. Weiterhin werden aus Schülerinnenperspektive die unterschiedlichen religionspädagogischen Aufgabenbereiche von Schule und Gemeinde angesprochen. Dies entspricht unserem religionspädagogischen Grundverständnis in Hamburg, die Schule nicht mit Aufgaben zu überfrachten, die besser in der Familie oder der Gemeinde aufgehoben sind.
Im zweiten Zitat äußert sich eine Schülerin ohne Religionszugehörigkeit folgendermaßen:
„Ich fände es nicht so gut, wenn sie getrennt unterrichtet werden. Dadurch kann man leichter etwas über andere Religionen erfahren. Außerdem denke ich, dass dadurch leichter der Hass auf Leute, die nicht der eigenen oder bestimmten Religion angehören, vermindert werden kann. Außerdem können die Leute, die einer bestimmten Religion angehören, bestimmte Dinge in ihrer Religion erklären. Ich finde, wenn man die Schüler, die verschiednen Religionen angehören, trennen würde, kommt es so rüber, als wenn sie anders wären (als wenn man Ausländer und nicht Ausländer oder Schwarze und Weiße getrennt unterrichten würde).“
Diese Schülerin weist besonders auf die Gefahr durch Separation hin. Sie geht – so wie wir es in unseren Untersuchungen in Europa insgesamt gesehen haben – davon aus, dass Vorurteile, ja Hass zwischen Menschen unterschiedlicher Religion bestehen und hält es für möglich, dass diese Barrieren durch Begegnungen reduziert werden. Sie nimmt damit Elemente eines dialogorientierten Lernens auf, dem nicht nur in Hamburg, sondern auch in anderen Gebieten Europas eine zunehmend wichtige Rolle zugewiesen wird. Mit ihren Hinweisen am Schluss richtet sie das Augenmerk in drastischer Form auf die in ihren Augen nicht begründbare Trennung von Schülerinnen und Schülern im Religionsunterricht. Sie nimmt damit indirekt Grundsätze antirassistischer Erziehung auf.
Stellen wir unsere Überlegungen in einen größeren Kontext: Im Bereich von Unterricht muss generell deutlich werden, dass das Prinzip der Partizipation leitend für die Strukturierung und das Leben in der Schule ist. Wer sich für staatsbürgerliche Gleichberechtigung, Partizipation und Gerechtigkeit einsetzt, wird sich auch für die Rechte von Muslimen und Menschen anderer religiöser Gruppierungen im Religionsunterricht einsetzen. Wenn nun aber im Religionsunterricht nach Konfessionen und Religionen getrennt wird, dann ist eine wechselseitige Wahrnehmung unterschiedlicher Gruppierungen nur schwer möglich. Eine solche Konstruktion ist eher geeignet, nur die jeweils eigenen Rechte wahrzunehmen und nur den jeweils eigenen Hintergrund zur Kenntnis zu nehmen. Wenn aber in einem Religionsunterricht für Alle, wie er in Hamburg und etlichen europäischen Ländern vertreten wird, Schülerinnen und Schüler ganz unterschiedlicher Religionen und Weltanschauungen zusammensitzen, dann kann im sensiblen Bereich von Religion deutlich werden, dass eine wechselseitige Wahrnehmung die Voraussetzung für die Herausbildung eigenen Verstehens und die Wahrnehmungen anderer Positionen notwendig ist, ohne dass damit Diskriminierung verbunden sein muss. Zugespitzt könnte man sagen:
Im Religionsunterricht kann in besonderer Form eingeübt werden, dass kulturelle und religiöse Differenz nicht zu einem Abgrenzungsmechanismus führen muss, sondern dass die wechselseitige Wahrnehmung je unterschiedlicher Hintergründe auch für die Formulierung der eigenen Position förderlich ist, damit aber nicht Vorrechte und Ausgrenzung verbunden sind. Damit kann der Religionsunterricht ein Erfahrungsfeld darstellen, das für die weitere Biografie von Schülerinnen und Schülern einen Anhaltspunkt dafür bietet, dass ohne Angst, Selbstabgrenzung und Ausgrenzung Anderer die je eigenen Überzeugungen vertreten und gelebt werden können und gleichzeitig Respekt vor Auffassungen, Positionen und Lebensweisen anderer Menschen mitsamt ihrer Religion, ihrer Weltanschauung und ihrer Kultur möglich ist. Religionsunterricht, so könnte man in einem weiteren Sinne sagen, ist ein Einübungsfeld, vielleicht auch ein Testfall für die Möglichkeit eines Zusammenlebens, in dem Differenz nicht als auszugrenzende Fremdheit gesehen wird, sondern als der Normalfall im Zusammenleben von Menschen. In dieser Sichtweise kommt dem Religionsunterricht eine erhebliche Bedeutung für die Frage zu, ob Menschen mit unterschiedlichen kulturellen und politischen sowie religiösen Hintergründen friedlich zusammenleben können oder nicht.
Der Horizont Europas
Aus der Sicht von Schülerinnen und Schülern ist es wichtig, dass der Religionsunterricht den Bedingungen von Schule entspricht, aber nicht eng an den Interessen von religiösen Gemeinschaften orientiert ist. Dies zeigen nicht nur unsere Befunde im genannten REDCo-Projekt (4). Dies geht auch aus anderen internationalen Erhebungen eindeutig hervor (5).
Weiterhin ist es für den Religionsunterricht zentral, dass Austausch und Dialog zwischen den Schülerinnen und Schülern ermöglicht wird. In diesem Zusammenhang erscheinen die oben angedeuteten Ergebnisse der Befragung in Hamburg als impulsgebend, zumal sie – bei Berücksichtigung von Einwänden – die Produktivität von Dialog im Klassenzimmer mit einer religiös heterogenen Schülerschaft unterstreichen.
Die Auffassung, Schülerinnen und Schüler im Religionsunterricht nicht nach Religionen und Weltanschauungen zu trennen, wird von Religionspädagoginnen und –pädagogen aus verschiedenen Ländern Europas auch aus konzeptionellen Gründen vertreten. In Europa geht man zunehmend davon aus, dass die interreligiöse Begegnung im Klassenzimmer von entscheidender Bedeutung für die Einbindung von Religion im öffentlichen Schulwesen ist. Aus der Sicht von Expertinnen und Experten aus Spanien, Frankreich, England, den Niederlanden, Norwegen und Russland wird eindrucksvoll argumentiert, dass die interreligiöse Zusammensetzung als Voraussetzung von Dialogkompetenz und interreligiöser Verständigung zentral ist und deswegen der Hamburger Weg des Religionsunterrichts für alle gestärkt werden solle. (6)
Auf europäischer Ebene wird z.B. im Europarat zunehmend Wert darauf gelegt, theoretische und praktische Impulse für interreligiöses und interkulturelles Lernen miteinander zu verbinden. So haben die Regierungen der 47 Mitgliedsstaaten des Europarats jüngst in einem „White Paper on Intercultural Dialogue“ im Mai 2008 die große Relevanz von interkulturellem und interreligiösem Dialog unterstrichen. Hier heißt es z.B.: „Interreligiöser Dialog kann auch zu einem stärkeren Konsens in einer Gesellschaft über die Lösung sozialer Probleme beitragen“. (7)
Fazit
Interreligiöser Dialog ist wichtig für Schülerinnen und Schüler, deren Positionen sich in einem noch unabgeschlossenen Entwicklungsprozess befinden. Für diese ist die Begegnung mit anderen religiösen und kulturellen Standpunkten unabdingbar, um
- andere Standpunkte auch dann zu respektieren, wenn sie nicht den eigenen entsprechen,
- Religionen und Kulturen nicht als monolithisch anzusehen, sondern als bestimmt durch die tägliche Praxis von vielen Menschen und als veränderbar,
- um Barrieren gegen den ideologischen Missbrauch von Religion und gegen die Instrumentalisierung für politische Konflikte aufzurichten.
Ziel kann dabei nicht sein, auf ein uniformes System für Religionsunterricht in Deutschland oder in ganz Europa zuzusteuern. Aber es erscheint wichtig, dass in vergleichender Analyse herausgestellt werden kann, mit welchen Ansätzen Religion im Bildungsbereich Europas gestärkt werden sollte, um zu Verständigung und Dialog beizutragen, wo aber auch Vorsicht angebracht ist vor Konzeptionen und Ansätzen, die eher auf Spaltung und Abgrenzung zielen.
Es gilt, über die unterschiedlichen Konstruktionen von Religionsunterricht in Deutschland offen in einen Austausch zu treten und mit pädagogischer Kreativität, religionspädagogischem Erfahrungswissen und wissenschaftlicher Grundlage nach neuen Wegen zu suchen, die den lebendigen Dialog zu religiösen Themen im Klassenzimmer ermöglichen. Der größere Kontext Europas kann dabei Impulse für Konzeptionen und Konstruktionen liefern, die aufgenommen werden sollten, um beides zu erreichen: das Kennenlernen von Religionen und den respektvollen Umgang mit Menschen eigener und anderer religiöser und weltanschaulicher Positionen.
November 2009
Endnoten
(1) Vgl. Hasret Karacuban, Die Zukunft der Religiösen Vielfalt. Besuche in Deutschland im Jahre 2020, in: Dossier Religiöse Vielfalt & Integration., 2008.
(2) Vgl. „Religionsunterricht für alle“ in Hamburg. Resolution des Gesprächskreises Interreligiöser Religionsunterricht (GIR) und des Expertenkreises am interdisziplinären Zentrum „Weltreligionen im Dialog“ an der Universität Hamburg, Dezember 2006, in: W. Weiße (Hg.) Dialogischer Religionsunterricht in Hamburg. Positionen, Analysen und Perspektiven im Kontext Europas, Waxmann: Münster u.a. 2008, S. 234-236, Zitat S. 234-235).
(3) Die Zitate sind enthalten in Thorsten Knauth, Zur Bedeutung von Religion in Schule und Lebenswelt in Hamburg, in: D.-P. Jozsa, Th. Knauth & W. Weiße (Hg.) Religionsunterricht, Dialog und Konflikt. Analysen im Kontext Europas, Waxmann: Münster u.a. 2009, S. 35-102, Zitate S. 90-91).
(4) Vgl. D.-P. Jozsa, Th. Knauth & W. Weiße (Hg.) Religionsunterricht, Dialog und Konflikt. Analysen im Kontext Europas, Waxmann: Münster u.a. 2009.
(5) Vgl. für Europa H.-G. Ziebert & W. Kay, Religiosity of Youth in Europe – a comparative Analysis, in: H.-G. Ziebertz & W. Kay (Hg.) Youth in Europe II. An international empirical study about religiosity, Berlin 2006, 246-265, bes. 253. Dies trifft auch für Deutschland zu, vgl. H.-G. Ziebertz, Germany: Belief in the Idea of a higher reality, a.a.O., S. 58-80, bes. S. 70f.).
(6) Vgl. diese Positionen in: W. Weiße (Hg.) Dialogischer Religionsunterricht in Hamburg. Positionen, Analysen und Perspektiven im Kontext Europas, Waxmann-Verlag, Münster u.a. 2008, S. 167-216.
(7) Council of Europe: White Paper on Intercultural Dialogue “Living Together as Equals in Dignity”, launched by the Council of Europe Ministers of Foreign Affairs at their 118 th Ministerial Session, Strasbourg, 7 May 2008. Strasbourg: Council of Europe, S. 23.
Wolfram Weiße ist Professor für Erziehungswissenschaft unter besonderer Berücksichtigung der Religionspädagogik und für ökumenische Theologie sowie Direktor des interdisziplinären Zentrums "Weltreligion im Dialog" an der Universität Hamburg.