Oft kommt es vor, dass ich von Schulklassen eingeladen werde. Nach der Lesung stellen mir die Schüler Fragen, allerdings wollen sie nie Näheres über den Inhalt meiner Geschichten wissen, sondern immer nur, was ich im Jahr verdiene und wie ich das ganze Geld ausgebe. Einige wenige fragen mich auch, ob ich auf Deutsch träume. Auch andere neugierige Leser versuchen, eine Verbindung zwischen mir und der deutschen Sprache herzustellen.
„Warum schreiben Sie auf Deutsch?“, fragen sie mich während der Lesungen und in ihren Briefen. „Haben Sie schon in Moskau in der Schule Deutsch gelernt? Sprechen Ihre Kinder Deutsch? Was lieben Sie an der deutschen Sprache?“
Ich verteidige mich mit aller Kraft. „Nein, ich habe Deutsch nicht in der Schule gelernt, sondern nur hier, aus Not“, erkläre ich. Als Schriftsteller und Journalist war ich an einem großen Lesepublikum interessiert, habe aber den Übersetzern immer misstraut. Und in Deutschland bleibt trotz aller Einwanderungsmassen Deutsch noch immer mit Abstand die einzige Sprache, die von den meisten verstanden und gelesen wird. Ein Sprachkünstler bin ich nie gewesen, für mich ist die Sprache nur ein Werkzeug, ein Hammer, der mir hilft, Verständigungsbrücken zu anderen zu schlagen. Der Umgang mit der Sprache kann unterschiedlich sein. So wie Musiker ihre Gitarren auch sehr unterschiedlich quälen – der eine kann mit zwölf Fingern und der Nase darauf spielen, der andere haut mit der Faust auf sein Instrument. Wenn er aber tatsächlich etwas zu sagen hat, kann er mit zwei Akkorden große Begeisterung beim Publikum hervorrufen. Selbst die verdorbensten Musikkritiker schütteln dann den Kopf und sagen: „Diese zwei Akkorde sind zwar total abgenutzt und belanglos, aber wie der Kerl auf die Saiten haut, das ist doch bemerkenswert. Ein großer Musiker.“ Und so haue ich auf mein Deutsch, das bei weitem nicht perfekt ist, aber ausreicht, um sich damit Gedanken über das Leben zu machen und sie zu Papier zu bringen.
Meine erste Bekanntschaft mit der deutschen Sprache fand in der sowjetischen Schule Nr. 701 statt. Dort durften wir in der fünften Klasse auswählen, welche ausländische Sprache wir lernen wollten. Deutsch und Englisch standen zur Auswahl – alle Kinder entschieden sich für Englisch. Deutsch war als Nazisprache verpönt. Irgendjemand musste aber auch Deutsch lernen, immerhin lebten wir in einer Planwirtschaft. Also wurden die schlechten Schüler und Rowdys zum Deutschunterricht verdonnert.
Die beiden Sprachlehrerinnen kamen am Ende der großen Mittagspause in die Schulkantine. Die Englischlehrerin war eine junge gefärbte Blondine mit langen Fingernägeln. Sie hatte außerdem eine tiefe, erotische Stimme: „Ladies and gentlemen“, rief sie, „come on please – to the classroom!“ Das klang für uns damals sehr cool, das war die Sprache unserer Propheten, die Sprache von Ozzy Osbourne, Manfred Mann und KISS. Die Deutschlehrerin war eine ältere Dame mit Hornbrille und einem grauen Zopf auf dem Kopf, sie trug eine selbst gestrickte graue Bluse und sah aus wie eine große alte Krähe.
krähte sie in der Kantine. Alle bekamen eine Gänsehaut von diesem „“.
Nicht nur die Schüler, auch die russischen Klassiker standen der deutschen Sprache kritisch gegenüber. Leo Tolstoi verglich sie mit den unendlichen Gleisen der Eisenbahn – bis an den Horizont. Nabokov ging noch weiter und behauptete, dass sich die deutsche Sprache so anhört, als würde einer Nägel in Bretter treiben. Ich war zwar kein guter Schüler, aber nicht schlecht genug für den Deutschunterricht. Also verbrachte ich meine jungen Jahre im classroom: „Desmond has a barrow in the market place / Molly is the singer in a band.“
Als ich 1990 nach Deutschland aufbrach, hatte ich nur einen alten russisch-deutschen Sprachführer aus der Bibliothek meiner Mutter dabei, extra für diesen Anlass enteignet. Das dünne Heft von 1957 bewies schon in den ersten Sätzen seine Nutzlosigkeit: „Wie komme ich zur Sowjetischen Botschaft?“, stand dort; und: „Ich muss dringend den sowjetischen Botschafter sprechen.“ Die Sowjetische Botschaft stand nicht auf meiner Liste der Berliner Sehenswürdigkeiten, und der sowjetische Botschafter war der Letzte, den ich sprechen wollte. Meine Englischkenntnisse hatten sich zu diesem Zeitpunkt bereits auf natürliche Weise aus dem Kopf verflüchtigt. Wer war noch mal Desmond gewesen, und als was hatte Molly gearbeitet? Also fing ich in Berlin auf der Straße und in den Kneipen noch einmal von vorne an, die neue Sprache zu lernen. Später ging ich in einen Sprachkurs der Humboldt Universität. Schnell erkannte ich dort das System. Anders als in meiner Heimatsprache kann man im Deutschen alle Worte zusammensetzen, Substantive mit Adjektiven verbinden oder umgekehrt, man kann sogar neue Verben aus Substantiven ableiten. Dabei entstehen völlig neue Redewendungen, die aber von allen sofort verstanden werden. Anfangs experimentierte ich viel in der U-Bahn. Meine ersten Versuchskaninchen waren die Fahrausweiskontrolleure, die sich immer wieder gerne auf einen komplizierten Wortaustausch einließen. „Ihr Kurzstreckentarif ist nach einer Zwanzigminutenstrecke abgelaufen“, sagten sie zum Beispiel.
„Ich habe den Langstreckentarif nicht gefunden und wollte nur einmal kurzstrecken, habe aber die
Ausstiegsgelegenheit leider verpasst“, antwortete ich.
„Die können wir für Sie organisieren“, meinten die Kontrolleure, „steigen Sie bitte mit aus.“
Mit oder aus? Aus oder mit? Ich war begeistert von der Flexibilität und Sensibilität dieser Sprache. Später, als ich zu schreiben anfing, betitelte ich alle meine Geschichten, ja sogar Bücher mit diesen zusammengeklappten wunderbaren Worten, die immer wieder neue Farben in die Sprache brachten. Die Russendisko zum Beispiel würde auf Russisch nur flach als „Russkaja Diskotheka“ ausfallen. Und Militärmusik ist ebenfalls im Russischen nicht sagbar.
Inzwischen ist meine Bekanntschaft mit der deutschen Sprache dreizehn Jahre alt. Und ich weiß, dass das einst begehrte Englisch – die Sprache unserer damaligen Propheten wie Ozzy Osbourne – bloß eine Entgleisung des Plattdeutschen ist. Meine Heimatsprache Russisch ist sehr bildhaft und ausdrucksreich, man kann im Russischen für alles dutzende von treffenden Wörtern finden, die aber hier im Westen keiner versteht. Im Deutschen reimt sich dafür alles auf den Endungen, wenn man nur will. Diese Sprache hat mit den Gleisen bis an den Horizont nichts zu tun, sie ist vielmehr eine Art Lego-Baukasten, in dem alle Teile zueinander passen.Was man daraus baut, ist jedem selbst überlassen. Neulich zum Beispiel zeigte meine Schwiegermutter, die kein Deutsch kann, unserer siebenjährigen Tochter ein Foto von mir mit der Bildunterschrift „Schriftsteller Kaminer“ und fragte sie, was da steht. „Ist doch klar“, sagte Nicole, „Schriftsteller – das ist ein Teller mit Schrift.“ Meine Schwiegermutter guckte sich daraufhin das Foto noch einmal genauer an, konnte aber nirgendwo einen Teller entdecken. Deutsch bleibt nach wie vor geheimnisvoll.
Deutsch für Anfänger ist zuerst erschienen in dem Buch: „Ich mache mir Sorgen, Mama“, in der Reihe Manhattan Bücher im Wilhelm Goldmann Verlag, München, 1994
Wladimir Kaminer wurde mit dem Erzählband "Russendisko" international bekannt und schreibt Kolumnen für verschiedene Zeitungen. Er lebt seit 1990 in Berlin und moderierte zuletzt die Sendung "Russendisko unplugged" auf RBB Radio Multikulti.