Auszug aus dem Roman
Der komatöse Deutsche
Ich gab mich nicht leicht geschlagen. Ich bat Gott um eine neue Chance für meine Tochter Sulfia. Meine Enkelin Aminat sollte dort aufwachsen, wo man jederzeit Milch kaufen konnte und nicht nur an Glückstagen. Und dies nicht in der Hitze unter lauter Juden, sondern, zum Beispiel, in Europa.
Gott erhörte mich schneller, als ich erwartet hatte. Genau in diesen Tagen wurde ein Ausländer auf Sulfias Station gebracht. Ein großartiger Ausländer, Anfang vierzig, sauber, im Koma – ein Deutscher.
Ich hörte davon, als sich Sulfia mit Aminat in der Küche über Fremdsprachen stritt. Bald sollte Aminat in die fünfte Klasse kommen und sich zwischen Englisch und Deutsch entscheiden müssen. Aminat sagte, dass Deutsch gar keine Sprache sei, weil kein Mensch sie spreche. Sulfia widersprach: Vor drei Tagen erst sei ein Mann eingeliefert worden, der deutsch sprechen würde, wenn er denn bei Bewusstsein wäre. Ich wurde hellhörig.
"Hat er einen Ehering?" fragte ich sofort.
Sulfia schüttelte den Kopf. Der Deutsche war bewusstlos auf der Straße gefunden worden, offenbar zusammengeschlagen und ausgeraubt, sagte sie. Er hatte keine Brieftasche dabeigehabt, zum Glück aber wenigstens einen Reisepass, möglicherweise hatte man ihm auch den Ehering abgenommen.
"Nein, nein", sagte ich. "Den Ehering kriegt man nicht so leicht ab. Dafür hätte man ihm schon den Finger abhacken müssen."
Sulfia rieb sich müde die Schläfen.
"Wie heißt er denn?" fragte ich.
"Dieter Rossmann."
"Was für ein schöner Name!" sagte ich. "Und du pflegst ihn? Und hat er dir schon was gesagt?"
"Ich sag doch, er ist nicht bei Bewusstsein, Mutter."
"Sulfia", sagte ich. "Das ist deine letzte Chance."
Dieser komatöse Deutsche hat unsere Familie wiederbelebt. Wir hatten wieder ein Thema. Ich fragte Sulfia jeden Tag, wie es ihm ging. Erst winkte sie genervt ab, dann fing sie an, von ihm zu erzählen. Sie machte sich immer Sorgen um ihre Patienten. Dieter schien in unserer Stadt ganz allein zu sein, niemand hatte ihn gesucht, es war nicht einmal klar, ob er in irgendeinem Hotel oder privat untergekommen war und was er hier überhaupt wollte.
"Wenn er aufwacht, musst du unbedingt in seiner Nähe sein", schärfte ich Sulfia ein.
"Ach, Mutter", sagte Sulfia, dabei hatte genau dieses Vorgehen ihr bereits zwei Ehemänner beschert.
"Und wie ist es eigentlich", fragte ich, "wenn so einer aus dem Koma aufwacht, kann er dann gleich reden?"
"Das ist ganz unterschiedlich, Mutter. Meistens nicht."
"Und kann man denn gleich verstehen, ob er sich noch an die Zeit vor dem Unfall erinnern kann?"
"Allmählich, Mutter. Schwerverletzten muss man Zeit lassen."
"Und wenn du ihm sagen würdest, du bist seine russische Verlobte, würde er dir das glauben?"
"Bitte red nicht so einen Unsinn, Mutter", sagte Sulfia. Sie hatte keinen Respekt mehr vor mir. Sie war auch immer beschäftigt. Wir waren es gewohnt, dass warmes Wasser nur an Glückstagen aus der Leitung floss und wir es sonst auf dem Herd heiß machen mussten, ich hatte gedacht, uns könnte nichts mehr erschüttern. Aber dann kam der erste Winter seit längerer Zeit, in dem das Wasser ganz abgeschaltet wurde, immer wieder für Tage, und ich schmerzhaft spürte, wie es war, ohne Männer zu leben. Ich war noch sehr schwach, und es war meistens Sulfia, die zur Wasserstelle einen Kilometer entfernt lief und zwei volle Eimer heimbrachte, mit kleinen Schritten, darauf bedacht, keinen Tropfen zu verschütten. Zu Hause angekommen, rieb sie sich lange die Hände und das Kreuz.
Wenn ich ihr jetzt sagte, sie solle sich das Haar schön hochstecken, wenn sie zur Arbeit ging, aber eine verspielte Strähne in die Stirn fallen lassen, oder wenn ich ihr anbot, sie zu frisieren, und ihr empfahl, einen hübschen Rock unter den Kittel anzuziehen, dann sagte Sulfia überhaupt nichts mehr, sondern verdrehte nur die Augen.
Es stellte sich heraus, dass Dieter Rossmann blaue Augen hatte und ein bisschen Russisch konnte. Er erinnerte sich nicht an seinen Unfall, wusste aber noch, wer er war und welches seltsame Anliegen ihn in unsere kalte Stadt verschlagen hatte.
"Du musst viel mit ihm sprechen", beschwor ich Sulfia, "du musst sein Ein und Alles werden, solange er noch im Bett liegt und von dir gepflegt wird."
"Ach, Mutter", sagte Sulfia, aber endlich hörte sie auf mich. Vor der Arbeit schminkte sie sich die Augen und die Lippen und ließ sich von mir mit dem Lockenstab Wellen in ihr schwarzes Haar drehen. So sah es ein bisschen fülliger aus. Ich erinnerte mich im Eilverfahren an die deutschen Vokabeln, die ich noch in der Schule gelernt hatte, und brachte sie Sulfia bei. "Guten Tag", "Wie geht es Ihnen", "Hände hoch", "Mein Name ist Sulfia, und Ihrer?" und "Es freut mich sehr, Sie kennenzulernen".
Leider wusste ich nicht, wie man "Sind Sie verheiratet oder verlobt?" sagte, aber Sulfia meinte, alles Wesentliche könnte Dieter sowieso auf Russisch sagen.
"Das ist egal", sagte ich. "Wenn du dich bemühst, seine Sprache zu sprechen, hast du sofort einen Schlüssel zu seinem Herzen."
"Ach, Mutter", sagte Sulfia, aber sie war nicht so widerspenstig wie sonst.
"Deutschland ist ein gutes Land", sagte ich ihr, "ich habe gehört, dort werden die Straßen mit Shampoo gewaschen."
Ich versuchte zu verstehen, was Dieter in unserer Stadt wollte. Er war der erste Ausländer, von dem ich je gehört hatte. Sulfia sagte, er sei eine Art Journalist und schreibe eine Art Buch.
"Ein Buch worüber?" fragte ich. Von ausländischen Journalisten hatte ich schon was gehört, aber wenig Gutes. Sie verschafften sich illegal Zutritt zu unseren Waisenhäusern oder Gefängnissen und schrieben über Währungsprostitution und HIV-Infektionen.
Dieter schrieb über Küchen, sagte Sulfia.
"Worüber?" fragte ich
"Über die Nationalküchen", sagte Sulfia. Er hatte bereits den Kaukasus bereist und wollte sich auf den Weg in die Ural-Dörfer machen, um dort alte Rezepte unseres Vielvölkerstaates aufzuspüren.
"Rezepte?" fragte ich ratlos. Wir hatten hier längst alle die gleichen Rezepte: Nudeln mit Butter, Würstchen mit Pellkartoffeln, Haferbrei mit altem Kompott, Tee mit steinharten Lebkuchen. Das waren die einzigen Lebensmittel, die man ohne Beziehungen noch auftreiben konnte.
"Was soll ein Mann mit Rezepten?" fragte ich Sulfia. "Ist er vom anderen Ufer?"
"Er schreibt ein Buch", wiederholte sie.
"Hast du ihm schon gesagt, dass du Tatarin bist?"
Sie schüttelte den Kopf.
"Oh, was bist du dumm, Sulfia. Sag ihm, er soll uns besuchen, dann erzähle ich ihm alles über die tatarische Küche. Sag ihm – alte tatarische Geheimrezepte, die von Generation zu Generation weitergegeben werden."
"Und dann?"
"Sulfia", sagte ich. "Mach es einfach."
Auszug aus Die schärfsten Gerichte der tartarischen Küche, der Roman erschien im August 2010 beim Verlag Kiepenheuer&Witsch.
Alina Bronsky - Bild: Bettina Fürst-Fastré
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