von Claudia Lübcke
Infolge von Pluralisierungs- und Modernisierungsprozessen bildete sich in Deutschland seit den 1980er Jahren eine vielfältige und bunte Landschaft jugendkultureller Stile und Szenen heraus. Neben den weiter bestehenden Protestkulturen entwickelte sich eine Fülle an Freizeitstilen und postmodernen Jugendkulturen, die mit ihren zahlreichen Crossover-Varianten heute gleichberechtigt nebeneinander existieren und kaum vollständig erfasst werden können.
Die Relevanz von und Zugehörigkeit zu Jugendkulturen zeigt sich für Jugendliche nach wie vor. Die Ergebnisse einer quantitativen Jugendstudie beweisen dies: Gegenwärtig identifizieren sich 2/3 der befragten 13-16 Jährigen mit Jugendkulturen wie HipHop, der Computer- und Techno-Szene, Punk, der Friedensbewegung, der Antifa- oder Atomkraftgegner-Szene bis hin zur Neonazi- und Hooliganszene, wenngleich die jugendlichen Präferenzen eindeutig auf den Mainstream-Musik-und Medienkulturen liegen (vgl. Pfaff 2006, 116ff.). Die vielfältigen Stile und Szenen sind für die jugendliche Identitätsentwicklung und Selbstverortung somit nach wie vor bedeutsam, da sie zum Einen Abgrenzungsmöglichkeiten von der Elterngeneration und zum Anderen auch Chancen bieten, sich mit familiären Traditionen und gesellschaftlichen Konventionen aktiv auseinanderzusetzen.
Eine meiner Forschungsfragen, denen ich in meinem Promotionsprojekt nachgehe, lautet dahingehend: Gelten diese Bedeutungen und Funktionen von Jugendkulturen prinzipiell auch für junge MuslimInnen in Deutschland?
Um Antworten darauf zu finden, habe ich biografische Interviews, teilweise auch Gruppendiskussionen mit jungen MuslimInnenn in verschiedenen deutschen Städten geführt. Ich traf Jugendliche und junge Erwachsene, in deren Leben eine Jugendkultur eine zentrale Rolle spielt bzw. gespielt hat. Die jungen Frauen und Männer, zwischen 16 und 30 Jahre alt, bezeichnen sich selbst als ‚MuslimInnen’, bilden aber ein breites Spektrum ab, welches sich zwischen säkularen ‚Kulturmuslimen’ und sehr religiösen Jugendlichen bewegt. In den Analysen ihrer Lebensgeschichten interessieren mich folgende Fragen: Wie haben sich die jugendkulturellen Affinitäten im biografischen Verlauf entwickelt? Welche sozialen, gesellschaftlichen, kulturellen und religiösen Einflußfaktoren wirken dabei auf den Verlauf und welche Bedeutung haben die jugendkulturellen Orientierungen letztlich für die Verselbständigungsprozesse der Jugendlichen und ihre biografischen Entwicklungen auch über die Jugendphase hinaus?
Bisher zeigen vorhandene Studien und erste eigene Ergebnisse, dass sich in den jugendkulturellen Bezügen junger MuslimInnen in Deutschland zwar die Vielfalt westlicher Szenen widerspiegelt, aber gleichzeitig entscheidende Unterschiede in der Szenelandschaft bestehen: So scheinen westliche Jugendkulturen, für die ein politischer Protestcharakter oder Abgrenzungen von der Elterngeneration charakteristisch sind, weniger anknüpfungsfähig für muslimische Jugendliche zu sein. Die Gründe dafür können zwar nur vermutet werden, liegen aber wohl in den Entstehungszusammenhängen, Identifikationsangeboten und Stilmitteln dieser Szenen, die weniger den Erfahrungsräumen, Alltagskulturen und Lebenslagen junger MuslimInnen entsprechen. Im Umkehrschluss ist eher von einer größeren Bedeutung ethnischer und religiöser Bezugsszenen für muslimische Jugendliche auszugehen.
Junge MuslimInnen in Deutschland
Muslimische Jugendliche, oftmals im Fokus alarmistischer Berichterstattungen, wachsen einerseits als selbstverständlicher Teil der deutschen Jugendgeneration und damit auch unter gleichen Sozialisationsbedingungen wie Jugendliche ohne familiären Migrationshintergrund auf. Gegenwärtig leben in der Bundesrepublik ca. 685.000 junge MuslimInnen zwischen 16 und 24 Jahren. Diese gehören zu einem großen Teil der Zweiten und Dritten Einwanderergeneration an und stammen zu circa 65 Prozent aus Familien türkischer Herkunft (vgl. Haug u.a. 2009, 81, 105).
Auf der anderen Seite sind sie möglicherweise stärker durch enge Familienbindungen, traditionelle Geschlechterrollen, eine stärker tabuisierende und reglementierende Sexualmoral sowie Diskriminierungserfahrungen geprägt (vgl. Wensierski 2007, 61ff.; Sauer 2007, 339ff.), was Auswirkungen auf ihre jugendkulturellen Stile und Präferenzen haben kann: Denn diese eigenständigen, kreativen Konstruktionsleistungen der Jugendlichen sind zwar ein ständiger Ausdruck gesellschaftlicher Modernisierungs- und Ausdifferenzierungsprozesse, stehen aber gleichzeitig in einem engen Bezug zu den alters-, geschlechts- und milieuspezifischen Erfahrungen der Jugendlichen und damit zu ihrem sozialen und familiären Herkunftskontext.
‚Westliche’ Jugendkulturen als Bezugsszenen
Dekliniert man verschiedene Jugendszenen hypothetisch durch, dann lassen sich mit Blick auf die Attraktivität körperbetont-hedonistischer Szenen, wie beispielsweise Techno, Ambivalenzen vermuten: So kann für einen Teil der jungen MuslimInnen von einer Affinität zu individualistisch-konsumistischen, unpolitischen und medial geprägten Freizeitszenen ausgegangen werden, während die Strukturbedingungen des Aufwachsens junger MuslimInnen für einen anderen Teil gegen die Anbindung an solche expressiven Szenen sprechen: Sexualisierte Körperlichkeit und die ironische Überspitzung sexistischer Stereotype, Akzeptanz von Homosexualität, ein unbefangener Umgang der Geschlechter miteinander, tagelange Raves und Designerdrogen sind Szenemerkmale, die aufgrund einer höheren sozialen Kontrolle in den muslimischen Familien, einer strengeren Sexualmoral und eines religiös gebotenen Alkoholverbotes für viele muslimische Jugendliche wohl keine Option bilden.
Hinweise auf junge MuslimInnen in alternativen bzw. linkspolitischen Szenen (z.B. antifaschistischen und antirassistischen, globalisierungskritischen Szenen etc.) gibt es in wissenschaftlichen Publikationen derzeit kaum. Zwar liefern auch meine Interviews nur Hinweise auf die Bedeutung dieser Jugendkulturen für junge MuslimInnen, allerdings zeigen sich aufgrund der langen Geschichte dieser Gruppen und Bewegungen auch für muslimische Jugendliche Anknüpfungsmöglichkeiten. Gerade die Flüchtlings- und antirassistischen Initiativen, die linken UnterstützerInnen von Exilorganisationen und Befreiungsbewegungen, aber auch die internationale, globalisierungskritische Bewegung stellen meines Erachtens ‚Bezugsszenen’ für Jugendliche aus muslimischen Milieus in Deutschland dar, wenngleich die Gründe dafür vielfältig sein können. Eine Interviewpartnerin, die durch ihre politisch engagierten Eltern schon früh für ‚linke’ Themen sensibilisiert wurde, engagiert sich heute aufgrund familiärer Erfahrungen mit politischer Verfolgung in der Türkei, in einer Flüchtlingsorganisation. Ein junger Deutschtürke begründet in einem anderen Interview seine Zugehörigkeit zur „alternativen Szene“ mit der positiven Einstellung und Offenheit dieses Umfeldes gegenüber seinem türkischen Familienhintergrund.
Expressive und individualisierte Subszenen des Gothic-Spektrums, aber auch Musikszenen wie Heavy-Metal scheinen hingegen aufgrund provokanter Symbole und Stile selten eine biografische Bedeutung für junge MuslimInnen zu haben, spielen aber vereinzelt in den Interviews eine Rolle. Für einen Großteil dieser Jugendlichen ist die Gothic-Szene aufgrund ihrer Anleihen an christlicher Ikonografie und anderen religiösen Symbolwelten (Kreuz, Davidstern, Pentagramm, das ägyptische Ankh etc.), die oftmals religions- und zivilisationskritisch gewendet werden, kaum andockfähig. Diese „retrospektive Jugendkultur“ (Richard 1997, 137) bezieht sich auf historische Epochen sowie Codes und Symbolwelten, die sich in ihrem religiös-magischen Eklektizismus stark vom „kulturellen Referenzhorizont“ (Roth 2002, S. 478) muslimischer Milieus unterscheiden.
Auch die Heavy-Metal-Szene ist für muslimische Jugendliche in Deutschland selten identitätsrelevant – nicht nur aufgrund der teilweise christlich verwurzelten satanischen Symbolwelten. Für die weitgehende Abstinenz junger MuslimInnen in der Heavy-Metal-Szene kann die soziale Stigmatisierung, die viele der Jugendlichen aufgrund ihrer Herkunft oder religiösen Zugehörigkeit erleben, ein Grund sein, diese Ausgrenzungserfahrungen nicht durch gesellschaftlich negativ konnotierte, aggressive und in ihrer Ästhetik extrem wirkende jugendkulturelle Ausdrucksformen verstärken zu wollen. Allerdings gibt es sowohl in Deutschland türkische Bands und Fans dieser Musikszene und ihrer Subgenres als auch in zahlreichen Ländern des Mittleren Ostens und Nordafrika. Die Herausbildung dieser Szenen ist nicht nur dem Lebensgefühl der ‚Metalheads’ vor dem Hintergrund der politischen Situation in diesen Staaten geschuldet, sondern sie haben sich insbesondere seit den 1990er Jahren durch den Zugang der jungen Generation zu Internet und Satellitenfernsehen entwickelt (vgl. LeVine 2008).
Punk scheint ebenso ein wenig adäquater Resonanzboden für das Lebensgefühl junger deutscher MuslimInnen zu sein, nicht nur aufgrund der Geschichte, die eng mit Großbritannien und Deutschland verbunden ist, sondern auch aufgrund der Ästhetik, die trotz der Kommerzialisierungserscheinungen in der Szene, das Hässliche, Groteske und Antichristliche wie auch die Kritik gesellschaftlicher und sozialer Missstände in den Vordergrund stellt. Gleichwohl es auch in den türkischen Metropolen (vgl. Boynik 2007) und vermutlich auch zahlreichen islamischen Ländern entsprechende kleine, eher politische Punk-Szenen gibt, ist die Anhängerschaft dieser Szene unter Jugendlichen aus Migrantenfamilien als eher gering einzuschätzen.
In einem meiner Interviews spielt Punk hingegen eine wichtige Rolle. Für „Bayruk", ist die ‚Punkphase’ eingebettet in seine Suche nach Identität in der gleichzeitigen Auseinandersetzung mit der deutschen Gesellschaft und muslimischen Herkunftskultur.
„Es war ne große Rebellion“ – der 27-jährige Bayruk
Bayruk wächst in einer traditionell orientierten, türkischen Familie auf und wird religiös erzogen; er besucht regelmäßig die Koranschule und ist anfänglich auch von den religiösen Unterweisungen fasziniert. Außerhalb der Familie wächst er ausschließlich mit deutschen, nichtmuslimischen Kindern auf und bemerkt schon als Grundschüler Unterschiede zu den MitschülerInnen, die in ihm Fragen nach seiner Zugehörigkeit auslösen: So muss er in der Schule die muslimischen Speisegebote einhalten und darf in seiner Freizeit nicht bei Freunden übernachten, was für andere Kinder seines Umfeldes eine Selbstverständlichkeit ist. Mit Beginn der Adoleszenz kommt es immer häufiger zu Auseinandersetzungen mit den Eltern, die Bayruk zwar sehr schätzt, die auf seine sich entwickelnden jugendlichen Bedürfnisse und Wünsche aber kaum adäquat eingehen – stattdessen machen sie Bayruks Freunde für die Konflikte verantwortlich: "Ja und die Schuldigen warn dann halt auch plötzlich mein Umfeld. Es warn nämlich nur Deutsche und ich sollt mir doch auch mal türkische Freunde suchen."
Auf der anderen Seite fühlt sich Bayruk auch von seinen Freunden unverstanden, die selbstverständlich ihren jugendtypischen Aktivitäten nachgehen, sich ihrer Privilegien aber nicht bewußt sind. „Bei vielen hatt ich einfach das Gefühl (...) die wissen das überhaupt nich, dass sie so viel Glück haben“. Bayruk versucht einen ‚Spagat’, den er aber nicht als Konflikt zwischen zwei Kulturen beschreibt, sondern als Problem der Identitätssuche in Abgrenzung sowohl zur Herkunfts- wie zur Mehrheitskultur. Die Besonderheit seiner ‚Punkphase’ ist somit nicht nur die symbolische Negation der deutschen Gesellschaft, sondern auch die des muslimischen Herkunftsmilieus und der damit verbundenen Werte und Traditionen. Beide bieten ihm weder Orientierung noch Antworten auf seine jugendtypischen, kritischen Fragen, aber auch keine orientierungsleitenden Modelle für annehmbare biographische Zukunftsentwürfe. Auf dem Höhepunkt dieses Konfliktes stellt Punk einen Ausweg dar – in Form einer Rebellion:
Ja, so im Laufe der Zeit da habe ich mich dann auch äußerlich [...] ähm bisschen von der Masse jo distanziert, abgehoben wie auch immer (..) so dass ich nicht wirklich dem Mainstream der westlichen Kultur entsprach und schon gar nich irgendwie der optischen Vorstellung der türkischen Leute hier. [...] Jo, dann war ma super irgendwie sich die Haare ganz kahl zu rasieren und nur ma son paar Zacken aufm Kopf zu haben, die am besten noch gefärbt. Natürlich hab ich mir damals gewünscht, mich auch überall tätowieren zu lassen und ähm (3 sec.) irgendwelche Stiefel mit roten Schnürsenkel getragen und zerfetzte Klamotten und überall mussten irgendwelche Ketten häng und irgendwo war das doch super. Das war so ne Scheißegal-Stimmung, weil mich diese ganzen Fragen, die ich nicht beantworten konnte, so müde gemacht haben, dass ich gesacht hab: Nö. Jetz mach doch einfach mal das, was dir echt gefällt. [...] Es war ne große Rebellion, vor allem gegen meine Familie dann [...] Weil da hab ich mich eingesperrt gefühlt (..) Bei den Freunden in der Außenwelt war das überhaupt nichts anderes [...] Und das wollte ich auch nich. [...] Sondern ich wollte einfach mal was Eignes entwickeln.
Bayruk distanziert sich nicht nur von den Eltern, sondern auch von den deutschen Freunden, die umgekehrt keinen verständnisvollen Zugang zu seinem türkischen Herkunftsmilieu finden und für ihn damit in gleiche Ferne rücken wie die Familie.
Und (...) dieser innere Konflikt ständig, wissen wollen woher man kommt, wer man überhaupt is und wenn man versucht hat, mit den Leuten darüber zu reden, die dann halt auch [...] aus dem wohlbehüteten Haushalt kam, die überhaupt kein Verständnis dafür hatten, dass meine Eltern so so böse warn und ich wusste, meine Eltern sind überhaupt nich böse, wir denken einfach nur anders und empfinden das Ganze anders. [...] Ich hatte das Gefühl, ich musste [...] überall auftreten und immer ein Dagegen-Schild haben.
Die Distanz zum Elternhaus und Bayruks Drang nach Individualisierung und Selbsterfahrung steigern sich mit weiteren Kontakten zur satanistischen Szene, die durch seine Freundin entstehen. Nicht nur Faszination und Angst, sondern auch die Möglichkeit, religiös konnotierte Symbolwelten umzukehren und gegen sein Umfeld zu wenden, tragen zu Überlegenheit, aber auch zu Zynismus bei, die er gegenüber seinen Eltern, aber auch den deutschen Freunden entwickelt.
Zu Hause wollte ich erst recht nicht mehr sein (...) weil wenn ich mich jetzt eher dem Teufel hingezogen fühl, weil mich das fasziniert [...] ja, dann bin ich im Hause meiner Eltern irgendwie völlig falsch, wo halt alles wohlbehütet sein muss [...] Ich dachte damals: Hass ist doch viel stärker als Liebe.
Mit wachsendem Alter und einer neuen Beziehung, die nach drei Jahren kurz vor der Hochzeit scheitert, beendet Bayruk, der heute als Mediengestalter arbeitet, diese Phase, auch wenn viele seiner „Fragen“ nicht gelöst wurden: „ich hab ähm so Fragen einfach mal weggelassen, auf die ich sowieso keine Antwort kriech“.
Ethnische und muslimische Jugendkulturen
Der Blick auf ethnische und muslimische Szenen verweist vor allem auf die Anziehungskraft des HipHop für viele junge MigrantInnen. HipHop, als ursprünglich ethnische Jugendkultur, erweist sich, trotz starker Kommerzialisierung, immer noch als die zentrale Jugendkultur, in der türkisch-muslimische Jugendliche jenseits starrer kultureller Muster und sozialer Zuschreibungen die Möglichkeit haben, mit neuen Identitäten zu experimentieren und diese öffentlich zu präsentieren – Identitäten allerdings, die einen expliziten Bezug zu den Lebenswelten und Realitäten der Jugendlichen aufweisen (vgl. Nohl 2001, 2002; Kaya 2003, 248; Menrath 2003, 226ff.; Loh/Güngör 2002, 2003; Androutsopoulos 2003).
Neben weiteren Szenen, auf die im Folgenden nur stichwortartig eingegangen werden kann, hat sich zumindest in vielen größeren Städten mittlerweile eine geschlechtsspezifisch strukturierte, multiethnische Disko- und Clubszene etabliert, die nicht zuletzt aufgrund der großen Beliebtheit türkischer Popmusik als Freizeitszene für Jugendliche eine Bedeutung hat.
Daneben orientieren sich Jugendliche an rechtsextremen und ethnisch-nationalen türkischen Bewegungen wie den ‚Grauen Wölfen’, die bewusst an den Diskriminierungs- und Marginalisierungserfahrungen türkischer Jugendlicher in Deutschland anknüpfen (vgl. Bozay 2005).
Es haben sich ebenso kleine Szenen türkisch-muslimischer Homosexueller vor allem in Großstädten gebildet, da sie in den stärker anonymen, urbanen Räumen, trotz der häufigen massiven Ablehnung und Stigmatisierung ihrer sexuellen Orientierung, zum Einen eigenständige Konzepte einer biografischen Lebensführung entwickeln können und zum Anderen freizügige und offene Bezugsszenen, aber auch Beratungsangebote finden. Nicht zuletzt auch aufgrund der Diskriminierungserfahrungen innerhalb der mehrheitsdeutschen Homosexuellen-Subkultur engagieren sich muslimische Jugendliche und junge Erwachsene in diesen Szenen auch politisch, sozial und kulturell für die Belange junger homo-, trans- und bisexueller TürkInnen bzw. MuslimInnen. So entstanden lebendige und vielfältige eigene Bar- und Clubszenen mit Parties und Events, z.B. die seit über 10 Jahren stattfindende Berliner Veranstaltungsreihe „Gayhane“ im SO 36, speziell für homosexuelle MigrantInnen (bspw. Bochow 2004, 2007).
Daneben existieren türkisch-muslimische Kunst-, Kultur- und Filmszenen, die Einfluss auf Jugendkulturen haben – besonders da sie vielfältige Themen der MigrantInnenszene mittels kultureller und politischer Ausdrucksformen aufgreifen und dadurch für junge MuslimInnen interessant sind (vgl. El Tayeb 2004).
Weiterhin gibt es, neben jungen MuslimInnen, die in sozialisationsrelevanten Vereinen und Verbänden, schwerpunktmäßig Sportvereinen (vgl. Fritzsche 2000, 206; Worbs/Heckmann 2004, 152f.; Halm/Sauer 2004) aktiv sind, einen nicht zu quantifizierenden Teil junger Frauen und Männer in religiösen Szenen (vgl. Müller/Nordbruch/Tataroglu 2008). Dazu zählen die engagierten Jugendlichen in den Moscheen, die sich intellektuell von den traditionell-religiösen Milieus distanzieren und die Integration in die deutsche Gesellschaft fordern (vgl. Frese 2002), oder die MitgliederInnen in Organisationen wie der Muslimischen Jugend Deutschlands (MJD), in denen vor allem konservativ-religiöse Jugendbildung im Mittelpunkt steht. In diesen Kreisen engagieren sich auch häufig junge Frauen mit Kopftuch, sogenannte Neo-Muslima, die sich über ihre hohe Bildungsaspiration vom traditionellen Herkunftsmilieu abgrenzen. Besonders ihre intellektuell-reflexive Variante der Religiosität spielt eine zentrale Rolle für Selbststeuerung und die Entwicklung als autonomes Subjekt (vgl. Nökel 2002).
Zu den religiösen Szenen zählen weiterhin Jugendliche, die sich als global, aktions-, integrationsorientierte und fromme ‚Pop-Muslime’ (vgl. Gerlach 2006; Müller/Nordbruch/Tataroglu 2008, S. 9f.) innerhalb pro-westlicher Lifestyle-Konzepte engagieren – ein bekanntes Beispiel sind die „Lifemakers“. Diese Jugendlichen sehen als Fixpunkt ihres Engagements eine idealisierte bessere Welt, die sich an islamischen Werten orientiert und nutzen gleichzeitig Produkte und Ästhetik der westlichen Popkultur, beispielsweise stylische muslimische Klamottenlabels oder einen muslimischen Popmusikmarkt, als ‚Transportmittel’ traditionaler, explizit religiöser Werte und Botschaften.
„Also von meinem Denken muss ich sagen, dass ich schon sehr deutsch bin“ - die 22-jährige Nura
Nura, die seit ihrer Jugend in einer muslimischen Jugendgruppe aktiv ist, wächst als Tochter eines Ägypters und einer Deutschen in einer religiösen Familie auf. Nach der Scheidung der Eltern lebt sie gemeinsam mit zwei älteren Geschwistern bei ihrer bildungsambitionierten Mutter, einer Lehrerin in einer islamischen Grundschule – dort verbringt Nura auch ihre ersten Schuljahre und eignet sich grundlegendes religiöses Wissen an. Auch zu Hause wird ihr die Religion in einer intellektualisierten Form nahe gebracht: „Ich (...) bin gar nicht traditionell aufgewachsen (...) und deswegen kann ich mich auch mit diesen traditionellen Sachen überhaupt nich anfreunden.“
Auf der Oberschule, wo sie eine der wenigen muslimischen Mädchen ist, bemüht sie sich, Vorurteile gegenüber ihrer Religion abzubauen, was ihr besonders nach dem 11. September deutlich wird: „Und die ham auch dann wirklich gesehen, okay, das sind die und du bist nicht so. Diese Unterscheidung war dann schon eindeutig.“ Als sie 13 Jahre alt ist, beginnt sich Nura in einer muslimischen Mädchengruppe zu engagieren, in der auch schon ihre Schwester aktiv ist. Sie ist begeistert von dem Gemeinschaftsgefühl und eignet sich zunehmend religiöses und gruppenpädagogisches Basiswissen an. Parallel dazu orientiert sie sich aber auch stärker an den neuen MitschülerInnen und ihre Religion tritt für einige Zeit in den Hintergrund. Sie beginnt sich zu schminken, enge Kleidung zu tragen, auf Parties zu gehen und verliebt sich in einen Jungen, der auch an ihr Interesse zeigt, wenngleich eine Beziehung zu einem Nicht-Muslim für sie nicht in Frage kommt. „(...) vielleicht auch so, dass man das so nen bisschen genossen hat, weil man (...) Es ist ja auch schwer, (...) weil viele, alle ham nen Freund und all diese Sachen. Und irgendwo will man das ja auch“.
Bereits ab ihrem 14. Lebensjahr reduzieren sich diese Aktivitäten wieder durch den Einfluss einer älteren Freundin in der muslimischen Mädchengruppe. Mit ihr kann sie über ihre Probleme sprechen und findet Wege, ihre Identität im Spannungsfeld zwischen Schule, Freundeskreis, Familie und religiöser Mädchengruppe zu finden: „weil ich auch gesehn habe, wenn ich mich sehr andern angepasst habe und so, dass es nich mehr wirklich ich war“. Nura distanziert sich langsam von ihren Vorlieben für „Rap und R`n`B-Musik“ und ihrem „Baggystil“ und übernimmt immer mehr Verantwortung in der muslimischen Jugendgruppe. Gleichzeitig wird auch eine Lehrerin, zu der sie bis heute Kontakt hat, zu einer wichtigen Bezugsperson, „ne zweite Mama, in gewisser Weise“, die einen großen Wert auf systematisches und kritisches Denken legt und Nura damit nachdrücklich beeinflusst. Nach dem Abitur beginnt Nura ein Ökonomie-Studium – gleichzeitig wird sie Leiterin der religiösen Mädchengruppe. Sie findet zunehmend einen Weg, ihre religiöse Orientierung und auch ihre deutsche Identität überein zu bringen und sich gegen die Zumutungen und Ansprüche beider Seiten quasi emanzipatorisch selbst zu behaupten, „und weiß, okay, gut, es geht beides locker.“
Die Gruppendiskussion mit Nura und ihren Freundinnen aus der Gruppe verdeutlicht das Selbstverständnis der jungen Frauen als deutsch und muslimisch, das sie als Abgrenzungs- und Exklusivitätsmerkmal gegenüber anderen muslimischen Jugendgruppen deutlich hervorheben. Sie entwickeln dabei einen eigenen Stil, der sich explizit an den Interessen ihrer jugendlichen Mitglieder ausrichtet: Interkulturalität, Partizipation der Jugendlichen und Erlebnisorientierung werden zu zentralen Kennzeichen der Gruppe, die Reisen, Feste und einen jährlichen stattfinden geschlechtergemischten Großevent nur für junge MuslimInnen mitorganisiert. Ein säkulares Weltbild liegt dieser Jugendgruppe, wie auch den anderen vielfältigen Strömungen der PopmuslimInnen nicht zu Grunde. Der Alltag dieser Jugendlichen bleibt weiterhin einer muslimischen Ethik und islamischen Verhaltenskodizes verhaftet, und ist gekennzeichnet z.B. durch Geschlechtertrennung im Gruppenalltag, ein orthodoxes Outfit, das Kopftuch für Frauen und sexuele Enthaltsamkeit vor der Ehe.
Ein vorläufiges Fazit
Die bisherige Analyse der Interviews und Gruppendiskussionen macht die Vielschichtigkeit muslimischer Jugendbiografien im Kontext pluraler Jugendkulturen deutlich. Ebenso wie viele NichtmuslimInnen verorten sich auch junge MuslimInnen im Rahmen einer biografisierten Jugendphase (vgl. Böhnisch 1999) innerhalb westlicher Jugendszenen – sie nehmen das eigene Leben jenseits von Traditionen und starren Rollenmustern mit allen Chancen und Risiken selbst in die Hand. Andere wiederum setzen sich stärker mit den Traditionen und Konventionen der Herkunftsmilieus auseinander: Zum Einen grenzen sie sich in dem Bemühen um Selbstbestimmung davon ab, wie an Bayruks Beispiel deutlich wird, zum Anderen können die muslimischen und ethnischen Milieus aber der Orientierung dienen, wie das Beispiel der explizit religiösen Jugendkulturen zeigt, die sich von expressiven westlichen Jugendszenen unterscheiden. Jedoch findet auch in diesem Kontext eine deutliche generationsspezifische Distinktion gegenüber traditionalen Einflüssen religiöser Milieus und – wie Nuras Beispiel zeigt – hierarchisch strukturierten religiösen Organisationen statt.
In vielen Fällen spiegelt sich in den Szenebezügen jedoch die ethnische Komponente der jugendlichen Identifikations- und Strukturbildungsprozesse wider, wie an den weiteren Beispielen der ethnischen und muslimischen Jugendszenen deutlich wird. Allerdings ist mit diesem Befund keineswegs ein bruchloser Import kultureller Muster der vermeintlichen Herkunftsmilieus gemeint. Auch in diesen Szenen werden identitätsrelevante Stile und Ausdrucksformen im Kontext kommerzieller Freizeitwelten generiert und dienen der Entwicklung persönlicher Autonomie. Allerdings bearbeiten die Jugendlichen darüber nicht nur die Beziehungen zur Mehrheitsgesellschaft, sondern setzen sich auch mit der Kultur, den Werten, Traditionen und religiösen Orientierungen der Eltern- und Großelterngeneration auseinander, die sich vom kulturellen Bezugssystem westlicher Jugendszenen unterscheiden. In den biografischen Prozessen und jugendkulturellen Aktivitäten muslimischer Jugendlicher spiegelt sich somit die subjektive Verarbeitung von und kulturelle Auseinandersetzung mit gesellschaftlicher Komplexität wider, wenngleich in vielen Fällen der Bruch mit der Herkunftsfamilie nicht vorgesehen ist.
Oktober 2010
Literatur
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Claudia Lübcke ist Erziehungswissenschaftlerin und Stipendiatin der Heinrich Böll Stiftung. Sie promoviert derzeit an der Universität Rostock zum Thema „Jugendkulturen junger MuslimInnen in Deutschland“. (Foto: M. Mühlhaus/attenzione)