„Mihriban pfeift auf Gott“ Leseprobe von Hilal Sezgin

Auszug aus dem Roman

Mihriban Erol, 32 Jahre, Berlinerin, von Beruf Nichtskönnerin auf höchstem Niveau, hält überhaupt nichts von Religion. Ihr Bruder Mesut dagegen wird immer frommer, nachdem seine Frau ihn verlassen hat. In den Weihnachtsferien machen Mihriban, Mesut und dessen achtjährige Tochter Suna Urlaub in Ägypten. Im Folgenden begegnen wir Mihriban, während sie den Silvesternachmittag am Strand genießt und dabei die Eltern von Sunas neuer Ferienfreundin kennen lernt.

Während Mesut in seinem Hotelzimmer beten war, ließ es sich nicht vermeiden, dass ich Dinas Eltern kennenlernte, die von ihrer Tochter angeblich schon viel Tolles über uns gehört hatten und mindestens so unsympathisch waren wie ihr Kind. Oder eher: Wenn man die Eltern kannte, verstand man das Kind. Dina war eine brave Neunjährige mit dunkelblonden Haaren und festsitzender Zahnspange, und es hieß andauernd Frau Erol hier und Frau Erol da, obwohl ich mindestens dreimal sagte: »Dina, sag einfach Mihriban zu mir.« Ihre Familie wohnte im Prenzlauer Berg, und nach allem, was ich wusste, war das Siezen von Erwachsenen dort vor Jahrzehnten ausgestorben. Dina aber siezte mich weiter und lächelte artig aus ihrem Zahnspangenmund.

Ihre Eltern Claudi und Michael waren das perfekte Paar von kalter Fisch heiratet glatten Aal, wobei Claudi der Fisch war und Michael der Aal. Beide waren so künstlich höflich zu mir, dass ich sicher war, dass sie noch nie neben einer Türkin unterm Sonnenschirm gesessen hatten und sich sofort in einem anderen Stadtviertel anmelden würden, wenn in Dinas Klasse der Ausländeranteil über soundsoviel Prozent stieg. Er erklärte, er müsse noch Geld abheben gehen, aber sie setzte sich zu mir und bewunderte meine dichten dunklen Haare und meine lila-goldene Flasche süß riechender Sonnencreme, die fand sie wunderbar türkisch, und es nutzte gar nichts, dass ich sagte, dass es bloß die Vanille-Kokos-Lotion aus dem hoteleigenen Laden war. Immerhin hatte Claudi es geschafft, in den Regalen desselben Ladens noch eine Diddelmaus-Haarspange für Suna aufzutreiben, und Suna freute sich so darüber, dass ich dachte, irgendwas müssen die Leute doch Gutes an sich haben, wenn sie zu einem fremden Kind so nett sind.

Darum widersprach ich nicht, als Dinas Mutter meinte, dass wir beim Silvesteressen an einem Tisch zusammensitzen könnten. Ich hatte vor, später so zu tun, als hätte ich diesen Vorschlag vergessen, und uns an einen Tisch zu bugsieren, der zu klein für alle war. Aber dann kam Mesut von seinem Nachmittagsgebet zurück, und später kam Dinas Vater vom Geldabheben und wiederholte die Einladung, und mein höfliches Brüderchen nahm an. Und so hatte ich für mein erstes Silvester, das ich mich nicht in Kreuzberg langweilen musste, zwei schleimige Prenzelberger an der Backe.

"Tausend Dank, Brüderchen", sagte ich später auf dem Weg vom Strand zum Hotel. "Die haben mir gerade noch gefehlt."

"Ich versteh nicht, was du gegen die Leute haben kannst", sagte Mesut verblüfft. Er besitzt nämlich null Menschenkenntnis und glaubt, alle Leute seien nett, wenn sie nur lächeln. Falls sich aber herausstellen sollte, dass sie doch nicht nett oder jedenfalls sterbenslangweilig sind, glaubt er, dass das Gottes Aufgabe für uns ist: Wenn wir auf der Erde zu allen freundlich sind, kommen wir später in den Himmel.

Bloß dass ich halt weder an Gott glaube noch an den Himmel. Deswegen würde ich nur die Langeweile aushalten müssen, während Mesut sich immerhin aufs Paradies freuen konnte. "Die Prenzelberger für mich, vierzig tolle Jungfrauen für dich", zischte ich ihm zu, "fair ist das nicht." Der Ehrlichkeit halber will ich gern zugeben, dass Mesut selbst das mit den Jungfrauen so nie gesagt hatte; aber ich wusste aus dem Fernsehen, dass es im Koran so steht.

Psst, machte Mesut, ich sollte Suna mit meinem Lästermaul nicht die Vorfreude verderben. »Und das mit den vierzig Jungfrauen ist nur eine Metapher, das darfst du nicht wörtlich nehmen. Das ist eine sehr menschliche Art zu denken, genau wie die Vorstellung vom Belohntwerden und Himmel überhaupt. An der Stelle wachte Suna, die stumm hinter uns durch die Hotelhalle getrabt war, aus ihrer Trance auf und fragte: »Wenn das mit dem Himmel nicht ernst gemeint ist, wie soll man es sich denn sonst vorstellen mit der Belohnung und Bestrafung beim Jüngsten Gericht?«

Mir wurde klar, wie oft das Kind schon mit diesem religiösen Unsinn vollgequatscht worden war, und ich fragte mich, ob Eva das bedacht hatte, als sie ihr Kind bei ihrem religiösen Exmann ließ. Mesut war ein gutherziger Mensch und ein toller Vater. Aber er war leider in einer schwierigen Phase – falls wir Glück hatten und es nur eine Phase war! »Wenn wir uns in diesem Leben gut verhalten sollen, dann nicht, weil wir später dafür belohnt werden«, erklärte er Suna mit todernster Miene, mitten in der Lounge, während stinknormale Touristen mit knallroten Rücken in ihren Flipflops an uns vorbeischlappten, »sondern weil Allah es so will. Wir sollen Gutes für Allah tun, so wie du zum Beispiel das Geschirr in den Schrank stellst oder die Füße vom Couchtisch nimmst, wenn ich dich darum bitte. Das machst du auch nicht nur, damit ich dir jeden Monat dein Taschengeld gebe, oder?«

Der Vergleich hinkte so schlimm wie Sunas Stoffgiraffe, hatte. Einen Gott nämlich, der sich daran stört, dass man die Füße auf den Tisch legt, kann nun wirklich keiner gebrauchen (aber vermutlich war Mesuts Allah genau so einer); und um mir vorzustellen, wie im Himmel die Pflichten rund um den Geschirrspüler verteilt sind, reicht meine Fantasie nicht aus. Aber ich hütete mich, das laut zu sagen, denn in dem Moment wollte ich vor allem eins: schnell in den Fahrstuhl und raus aus der Lounge, wo jeder, der vorbeikam, hören konnte, dass mein Bruder meine Nichte über Himmel und Hölle belehrte, zwei Dinge also, an die doch spätestens seit der Mondlandung kein normaler Mensch mehr glauben kann.

Der Fahrstuhl kam, wir drei stiegen ein und mit uns ein älteres Ehepaar; sie hatten Haut wie Leder von ihren vielen Wintern im Süden, und auch sie rochen nach Vanille und Kokosöl. Mesut schwieg. Ich schwieg. Suna sprach weiter: "Aber Papa, mein Taschengeld musst du mir so oder so geben, stimmt’s?" Die älteren Leute warfen sich einen Blick zu: So was von materialistisch, diese Jugend heutzutage. "Es gibt Gesetze, wie man seine Kinder behandeln muss, und schlagen darf man sie auch nicht. Egal was sie tun!" Daraus folgerte Suna: "Also müsste Gott mich auf jeden Fall in den Himmel lassen, auch wenn ich dir nicht beim Geschirr helfe."

Plötzlich sah ich das sesamstraßige Wieso, Weshalb, Warum in einem anderen Licht: War Suna nicht ein scharfsinniges Kind, ein Goldschatz, bei dem sich jede Minute von Evas Erziehungsmethode ausgezahlt hat? Und es wurde noch besser: "Aber ich habe das mit Gott eben nur gesagt, um recht zu haben", ergänzte Suna nämlich ehrlicherweise. "Du weißt ja, ich glaube sowieso nicht daran."

Diese Nachricht hörte Mesut nicht zum ersten Mal, und er verzog keine Miene; der Aufzug blieb stehen und machte pling!, und ich stieg aus und ging mit Suna zu unserem Zimmer mit dem guten Gefühl, dass doch nicht alles verloren war.

 

Auszug aus dem Roman Mihriban pfeift auf Gott von Hilal Sezgin, erschienen im Dumont Buchverlag, Köln 2010.

Bild entfernt.
Hilal Sezgin (Foto: Ilona Habben)

 

Über die Autorin
(weiter)