Auszug aus dem Roman
Tamama rief an. Tamama rief nie an. Die Minuten nach Deutschland waren kostbarer als Gold. Eher hielt sie es aus gar nichts zu wissen, als sich von der ungarischen Telefongesellschaft ausrauben zu lassen. Aber jetzt rief sie doch an, sie sprach hastig, ließ Lále kaum zu Wort kommen. Lále hörte „Urban Krankenhaus“ und eine Zahlenreihe. Sie schrieb sie auf und wie sich später bestätigte, war es tatsächlich eine Telefonnummer. Tamama sagte des Weiteren, dass Lále für sie nach Flugtickets schauen sollte, in ihrem Netz, durch das sie mit allen wichtigen Organen der Welt verbunden wäre. Zum Schluss erwähnte sie, dass ihre Tochter, die nebenbei auch Láles Mutter sei, im Sterben läge, und verursachte auf ihrer Seite einen lauten Knall, dem heftiges Besetztzeichen folgte.
Lále legte auf.
Sie rief die Nummer an und erfuhr von einer wildfremden deutschen Stimme, männlich, dass ihre Mutter Schilddrüsenkrebs hätte, ihre Zimmernummer im Krankenhaus, die Summe ihrer Mietschulden und von seiner Hoffnung, dass Lále sie begleichen würde.
Lále schrieb mehrere Flugverbindungen auf, ging Nathan holen und überredete ihn am Kanalufer einen Spaziergang zu machen. Sie hielt ihn mit Schwänen bei Laune, mit einem weißen Hund, der einige Male wegen seines Balls an ihm vorbeiraste, und schließlich mit einer Kugel nach Wachs schmeckendem Eis von einem rostigen Schiff, das zu einem Café umfunktioniert worden war.
Endlich standen sie vor dem Krankenhaus, in ihrem Rücken der Kanal. Auf der Wiese Fahrräder, Grillständer, auf Decken Sonnenpublikum. Federbälle und Frisbees flogen um ihre Köpfe, im Wasser zogen Schwanenschwärme vorbei, Füße wurden im Wasser getränkt. Vier, fünf junge Männer, glatzköpfig und mit Rastern, alles Weiße, saßen etwas entfernt und schlugen auf afrikanische Trommeln ein, einem Takt folgend, ein einem organischen Miteinander. Dennoch wirkten sie, als wären sie allein auf der Welt, und blickten nicht auf, nicht mal zu einander.
Lále starrte auf die Fenster des Urban Krankenhauses und der Takt in ihrer Brust übertönte die Trommeln. Nathan zog an ihrer Hand und sagte etwas. Wo könnte sie liegen? Hatte sie dieses Urlaubsbild als Aussicht, bemerkte sie überhaupt noch Bruchstücke dieser Schönheit oder schaute ihr Fenster auf die andere Seite? Nathan ließ ihre Hand los, sie sah ihm kurz nach. Er beobachtete Jugendliche, die Karten spielten, Bier tranken und ab und an umhertollten. Lále wendete den Blick zurück. Sie meinte die Anwesenheit ihrer Mutter zu spüren, sie verfolgte die anrollenden Taxen, den Eingang, durch den sie auch ins Gebäude gelangt sein musste. Dann fiel ihr ein, dass sie vielleicht betäubt war von Mitteln, die ihr die Schmerzen nehmen sollten, oder war sie schon gar nicht mehr bei sich. Wie würde Nathan reagieren? Konnte sie ihm zumuten, ihn aus heiterem Himmel mit dem Sterben seiner unbekannten Großmutter zu konfrontieren?
Sie hörte einen Schrei, der sich deutlich vom restlichen Lärm unterschied. Ob dadurch, dass es eindeutig Nathans Stimme war oder tatsächlich viel lauter, konnte sie nicht sagen. Sie drehte sich um und sah zwei Männer im Wasser, die den nassen Nathan hochhoben. Lále rannte hinunter und half ihn an Land zu ziehen. Er war erschrocken und unterkühlt. Damit hatte er beantwortet, ob er seine sterbende Großmutter kennenlernen wollte. Lále packte ihn, legte ihn auf ihre Schulter und näherte sich mit Laufschritten der Bushaltestelle.
Abends rief Tamama wieder an und diskutierte über die Flugmöglichkeiten. Sie schimpfte jedes Mal, wenn Lále den Flugticketpreis nannte, zählte aus dem Stegreif einige der sie getroffenen Schicksalsschläge auf und die Bilanz, was ihr für Begünstigungen vom Schicksal zur Versöhnung zustünden, und beweinte ihr Geld, das sie törichterweise aus den Händen gelassen hatte, um dem rückgratlosen Pit einen netten Schlitten zu spenden.
Lále sagte kein Wort, aber mit jeder Sekunde wuchs ihr Begehren aufzulegen. Aber Tamama konnte sich nicht entscheiden, welchen Flug sie nehmen sollte, den vom nächsten Morgen oder den für die Hälfte in drei Tagen, aber ob die Tochter dann noch lebte, weil wenn sowieso nicht, dann könnte sie gleich auf ihrem Hintern sitzen bleiben.
Dann fragte sie wiederholt, wie es um sie stünde, wie sie aussähe und Lále antwortete zum mindestens fünften Mal, dass sie es doch nicht geschafft hätte bei ihr vorbei zu gehen, obwohl sie schon vor dem Krankenhaus gestanden, schon ihr Fenster gesehen hatte, aber dann hatte Nathan einen Schwan oder Hund entdeckt, wäre ihm oder auch trommelnden Möchtegernafrikanern nachgerannt und im Wasser gelandet. Aber das Ende hörte Tamama nicht ein einziges Mal, weil sie unruhig nach der Zeit schaute, mit deren Voranschreiten ihr Geld erneut angezapft wurde.
Lále sprach aus, was Tamama sie gerne sagen hören wollte. Sie sollte noch abwarten, morgen würde sie ins Krankenhaus gehen, dann könnte man sich erneut wegen der Dringlichkeit ihres Kommens beraten.
Obwohl sie selten träumte, träumte sie jetzt viel und wirr. Sie und ihre Mutter waren gleichzeitig Kinder. Die Mutter zeigte ihr, dass sie einen Penis besäße, aber sie wusste, dass sie sie nur täuschen wollte. Um sie zu verspotten nannte sie sie „Vater“, was die Mutter wütend machte, und plötzlich war Lále sterbenskrank und die Mutter stand neben ihrem Bett und lachte schrill und sie war gar nicht mehr sie, sondern Láles Schwiegermutter.
Am nächsten Tag stand sie auf, schlurfte zur Kaffeetasse und streute Instantpulver hinein. Mit der Tasse in der Hand stellte sie sich unter die Dusche und beobachtete sich beim Wachwerden. Als sie sich abtrocknete kam Nathan, pullerte noch fast im Schlaf, kroch hoch auf Láles Schoß und schlief wieder ein. Mit halbem Arm zog Lále sich und Nathan an, machte Frühstück. Nathan öffnete die Augen, aß einige Häppchen Cornflakes und ließ sich in den Kinderladen bringen.
Lále kam wieder und sah die Jobinserate durch. Sie konnte ihrer Mutter schlecht sagen, dass sie arbeitslos war. Sie wollte zumindest mit Plänen prahlen, wenn sie sie besuchte. Das Telefon klingelte und der Mann mit den Mietschulden sagte, dass es der Mutter ganz schlecht ginge und sie schnell vorbeikommen sollte und warum sie gestern nicht gekommen war, was aber eigentlich egal sei, jetzt sollte sie kommen.
Sie rief schnell Tamama an, die zu jammern begann, warum sie nicht heute geflogen war und warum Lále ihr zum Bleiben geraten hatte. Dann behauptete sie plötzlich ganz genau zu wissen, dass Lále es absichtlich getan hatte, um sie, die Mutter, von ihrer Tochter fern zu halten. Hernach schrie sie, dass Lále etwas tun solle, dass sie nicht zulassen könne, dass ihre Tochter, die nebenbei gesagt Láles Mutter war, hörst du, du Undankbare, deine Mutter, dass sie stirbt. Wolle sie jetzt Schicksal spielen und allen beweisen, dass sie mit ihrer unverschämten Jugend die Mächtigste hier sei? Und vor allem sei sie, Tamama, jetzt dran mit Sterben, und Lále sollte es dem Allmächtigen oder egal wem über ihr Netz mitteilen, dass es so nicht läuft! Man schmeißt nicht einfach die Reihenfolge der Natur um! Sie sei schon oft genug dem Tod entkommen, sie hätte schon im Krieg sterben sollen und wenn man einmal vergessen wird, scheint man immer vergessen zu werden. Lále legte auf und es tat ihr Leid, sie in ihrer Trauer allein zu lassen, aber sie befürchtete sonst nie loszukommen.
Das Telefon klingelte wieder, der Mann schrie, wo sie bleiben würde, hätte er nicht richtig verstanden, dass es sich um ihre Mutter handele? Der Mutter würde das Wasser aus dem Mund blubbern, das aus ihrer Lunge immer neu hochbrechen würde. Dass sie sich wehren würde, wenn man ihr die Lunge absaugen wollte, dass sie sehr stark sei, selbst noch im Sterben.
Auf einmal brachen aus Lále Tränen hervor, Jahrzehnte lang zurückgehaltene Tränen. Sie dachte, alles um sich herum zu fluten, sie hörte, wie die Stimme im Hörer absoff, wie die Muskelkraft aus ihren Gliedern wich, Szenen aus der Kindheit druchströmten ihr Hirn ohne Zusammenhang. Immer hatte sie auf die Mutter gewartet und immer hatte sie geahnt, dass sie sowieso nicht kommen würde, und jetzt hatte sie das Gefühl, dass sie sich zwar auf den Weg zur Mutter machen könnte, es die Mutter aber gar nicht gab. Alle redeten nur über sie, aber der Sinn ihrer Existenz war ihre Abwesenheit. Sie wusste nicht, wie es dazu kam, und wie viel Zeit vergangen war, aber sie lag auf dem Boden. Dicke Regentropfen prasselten gegen ihr Fenster, das eine ganze Zimmerwand ersetzte, es regnete heftig das ganze Zimmer entlang. Es klang, als klänge es aus den eigenen Eingeweiden heraus. Auf der Zimmerdecke über ihr schwammen tanzende Flecken. Es ähnelte einer Krimi-Stimmung, als ob alles vorbei wäre, die Toten tot, der große Schrecken aber erst noch kommen würde. Plötzlich nahm sie Angst wahr, Angst vor dem schreienden Mann, vor Tamamas Beschimpfungen, vor dem Tod ihrer Mutter.
Sie stand auf, nahm den Regenschirm und suchte nach dem Wohnungsschlüssel. Er war nirgendwo. Sie öffnete die Tür und erblickte ihn von außen im Schloss. Das Telefon läutete, sie zog die Tür hinter sich zu, aber sie hörte es immer noch klingeln. Sie öffnete wieder und beschloss, Tamama zu belügen, dass es der Mutter gut ginge, und dem Mann zu erzählen, dass sie in Süddeutschland Opfer von Hochwasser geworden wäre. Auf alles gefasst riss sie den Hörer hoch, und meldete sich mit eiserner Stimme. Die Erzieherin von Nathans Kinderladen fragte, ob sie wohl vergessen hätte, dass heute früher Schluss wäre. Jetzt würde Nathan allein dort sitzen und sie über ihre Arbeitszeit hinaus. Lále fragte, ob sie vielleicht noch warten könne bis Nathans Großmutter endgültig gestorben wäre, das wäre nämlich sehr zuvorkommend von ihr.
Danach ging sie in den Regen hinaus, den Regenschirm hatte sie oben vergessen. Sie lief bis zur Straßenecke Richtung Krankenhaus, dann drehte sie sich um und lief zur anderen Richtung Kinderladen. Das tat sie einige Male, bis sie vor ihrem Haus stehen blieb und ihr einleuchtete, dass sie sich nicht entscheiden können würde.
Sie ging hoch, rief Pit an und sagte heulend, dass er bitte Nathan abholen solle, weil ihre Mutter gerade sterben würde, nebenan, gegenwärtig, sehr. Pit sagte, dass er leider eine Verabredung hätte. Er war sehr höflich und sagte noch mit warmer Stimme „Tschüß“ bevor er auflegte. Daraufhin versuchte sie den Mann zu erreichen, aber er ging nicht ans Telefon, nicht das erste, nicht das zweite, nicht das dritte und auch nicht das vierte Mal.
Lále ging wieder hinunter und beschloss zum Krankenhaus zu laufen. Sie versuchte jegliche Bilder aus ihrem Kopf zu verjagen, über Nathan, über Tamama, über die eigene Kindheit. Sie wollte dem Geschehnis unvoreingenommen begegnen. Ihre Tränen wischte der Regen fort, während sie auf den Kanal starrte, neben dem sie lief. Sie erblickte das Krankenhaus, wegen des Regens viel grauer und dunkler als gestern, der Sturm hatte alles so verdunkelt, dass in jedem Fenster Licht brannte. Ihr Handy surrte tief aus dem Rucksack. Sie suchte mit einer Hand, während sie den Blick nicht von den dunkelgelb erstrahlenden Fenstern riss und immer noch auf das Krankenhaus zulief. Der Mann sagte mit viel ruhigerer und tieferer Stimme als zuvor, dass die Mutter gestorben wäre und sie nicht mehr zu kommen brauche. Sie sagte, dass sie aber schon hier stünde und ihre Mutter sehen wolle, aber sie war sich nicht sicher, ob das aus ihr hervorbrechende Heulen nicht all ihre Worte verwischt hatte. Der Mann sagte noch, dass die Mutter schon ins Leichenhaus geliefert worden wäre, ihm nur noch übrig bliebe, ihr ein herzliches Beileid auszusprechen und er würde ihr die Abmahnung über die Mietschulden via Post zukommen lassen.
Lále erreichte den Eingang, das Telefon klebte stumm an ihrem Ohr, sie war pitschnass, so waren ihr die Tränen nicht anzusehen. Sie drehte sich um und lief direkt zu Nathans Kinderladen. Sie merkte kaum, dass sie weinte, so lange weinte sie schon, das Zwerchfell bebte im Takt ihrer Schritte. Sie klingelte, es wurde geöffnet und Nathan von Kopf bis Fuß in Regensachen gewickelt herausgeschoben.
Sie liefen auf den Straßen, auf denen sie jeden Tag liefen, und Nathan redete über den Regen, der die Toten aus der Erde spülen würde, und über eine Brot-in-den-Mund-Katapultier-Maschine, die er gerade basteln würde. Erst als sie in der Wohnung standen und er das Licht anknipste, merkte er, wie verweint seine Mutter war und wandte sich ihr erstaunt zu:
„Mama, warum weinst du?“
„Meine Mama ist gestorben.“
„Aber du hast gar keine Mama und solang du eine hattest, war sie doch böse zu dir.“
Statt einer Antwort stieß Lále nur einen unartikulierten Schrei aus, worauf sich Nathans Augen angstvoll weiteten.
„Mama, nicht weinen“, sagte er, aber Lále weinte weiter.
Sie rief nochmal Pit an und fragte, ob die Verabredung vorbei sei, und er sagte, er könne leider momentan nicht, aber vielleicht zu einem späteren Zeitpunkt. Daraufhin erwiderte Lále schluchzend, dass es darum ginge, dass er seinen Sohn hier rausholte, weil sie nicht wisse, wie sie sich beruhigen solle und Nathan schon ganz verängstigt sei. Pit schwieg daraufhin verständnislos, warum er all das noch mal hören musste, wo er doch schon gesagt hatte, nicht zu können. Wie schwer doch einige von Begriff waren, und damit legte er auf.
Als Lále auflegte, sah sie, dass auch Nathan weinte. Sie nahm ihn in den Arm und sagte „Wein doch nicht“, aber ihre Stimme brach ab vor Tränen und ihre Körper schüttelten sich ineinandergeflochten in ihrem einsamen Krampf. Das Telefon klingelte irgendwo und Lále wusste, dass es Tamama war, und dass sie das Recht hatte, es zu erfahren.
Léda Forgó, Vom Ausbleiben der Schönheit, Roman, Rowohlt Verlag, Berlin 2010 .
Léda Forgó
"Ich war verwundert, dass man meine Gedanken überhaupt ernst nahm."
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Biographie von Léda Forgó
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