„Juja“ Leseprobe von Nino Haratischwili

 

Auszug aus dem Roman

 

OLGA (1986)

Warum man sie Olga genannt hatte, hatte sie vergessen. Bis zu dem Tag, an dem Olgas Leben sich katastrophal ändern sollte, war nichts Gravierendes passiert.

Olga hatte ihre Vorlesungen besucht und war dann mit ihrem Hund spazieren gegangen, einem goldenen Spaniel, Lydia. Olga war 23 Jahre alt und ein nettes Mädchen, hatte russische Vorfahren, konnte aber kein Wort Russisch und hieß auch nicht Olga, hatte einen noch durchschnittlicheren Namen, einen westeuropäischen, doch das ist jetzt egal.

Sie war früh aufgestanden, hatte schlecht geschlafen und war zur Uni geradelt, wie immer. Hatte auch ihre Bekannten – richtige Freunde hatte sie kaum, wenn man von einer Freundin absah – nicht sehen können (sie besuchten andere Kurse) und war eher etwas gelangweilt mit Lydia spazieren gegangen. Dann hatte sie in ihrem Lieblingsimbiss gegessen, das hatte sie sich gegönnt, da ja sonst nichts Schönes geschehen war, und war ein bisschen durch die Straßen geschlendert. So kam es, dass sie das Buch fand.

Es war ein netter Nachmittag, und es gab nichts Besseres zu tun. Der Antiquar hatte neu eröffnet und sie ging aus purer Langeweile in seinen Laden hinein.

Zwei ältere Damen standen in der Ecke und plauderten miteinander; vor den Regalen stand ein junger Mann, vertieft in ein Buch. Er sah ganz gut aus und Olga ging instinktiv in seine Richtung, doch als sie sich neben ihn stellte und so tat, als suche sie etwas, legte er das Buch aus der Hand und rannte wie verrückt aus dem Laden.

An der Kasse saß keiner, und niemand schien sein abruptes Verschwinden bemerkt zu haben, niemand außer Olga. Aus irgendeinem Grund versetzte seine Handlung sie in großen Aufruhr, am liebsten wäre sie ihm nachgelaufen, doch fehlte ihr die Portion Mut, die sie dazu gebraucht hätte. So ergriff sie das Buch, das er so erschrocken zurückgestellt hatte, und begann darin zu blättern.

Klar, es hätte sein können, dass er nur zu einer Verabredung musste und deshalb so schnell aus dem Laden gestürmt war, doch Olga wollte an Abenteuer glauben. Noch lieber wollte sie sich eine unglückliche Liebesgeschichte zusammenreimen. Es hätte ja sein können, dass er unglücklich verliebt war, und nun hatte er das Buch aufgeschlagen und ihre Initialen darin entdeckt. Und so war er zu ihr gerannt, um ihr alles zu beichten, sein Leid, seine Liebe.

Olga nahm das Buch in die Hand. Die alten Damen schienen nichts bemerkt zu haben. Olga schlug das dünne, alte Buch auf und begutachtete die ersten Seiten, doch sie entdeckte keine Initialen. Absolut nichts. Keine getrockneten Rosenblätter, keine handschriftlichen Anmerkungen. Schon wollte sie das Buch aus der Hand legen, da schaute sie auf das Titelblatt und las: Saré, „Die Eiszeit, Buch 1“

Sie hatte nie von einem oder einer Saré gehört. Das Buch war alt, es roch eigenartig. Sie dachte erneut an den Jungen, der so schnell weggelaufen war und zwang sich, an die Liebesgeschichte zu glauben. Irgendwas musste es mit dem Buch ja auf sich haben. Dieser Gedanke gefiel ihr. Das Buch kostete nur ein paar Francs, das ging – sie würde es mitnehmen, auch wenn sie keine Ahnung hatte, wozu das gut sein sollte. Ein paar nummerierte Kapitel, klein gedruckte Sätze, manchmal war eine ganze Seite nur halb mit Worten bedeckt. Was sollte das schon sein? Ein postmodernes Ding, sie mochte so was nicht, doch würde sie ihre Liebestragödie besser ausschmücken können, wenn sie das Buch besaß.

Olga zahlte, endlich war ein gelangweiltes Mädchen hinter der Kasse aufgetaucht, Kaugummi kauend, mit rötlich gefärbten Haaren. Olga verließ den Laden. Sie hatte eine kleine Papiertüte bekommen, die so angenehm in ihrer Hand raschelte. Der Tag bekam einen ganz neuen Beigeschmack.

Olga ging nach Hause, fütterte Lydia und legte sich auf ihre alte Couch (ein Erbstück von ihrer russischen Großmutter, die ebenfalls Olga geheißen hatte). Sie trank Tee und starrte eine Weile gelangweilt zur Decke - niemand rief an, niemand klopfte an ihre Tür. Olga griff rasch nach der Papiertüte, das Geräusch beruhigte sie, und nahm das Buch heraus...

Es war schon kurz nach Mitternacht, als Olga das Buch zu Ende gelesen hatte. Lydia schlief gemütlich zu ihren Füßen. Olga schwitzte, ihr Rücken schmerzte von der starren Lesehaltung, ihre Füße waren taub – sie hatte fast vier Stunden reglos dagelegen, das passierte ihr sonst nie.

Sie stand vorsichtig auf. Sie hatte Angst, sie wusste nicht wovor. Sie ging zum Fenster. Die Straße war ruhig, fast menschenleer, die Läden hatten geschlossen. Für Pariser Verhältnisse war es unglaublich still. Sie setzte sich ans Fensterbrett, machte das Fenster auf und schnappte nach Luft, sie hatte das Gefühl zu ersticken. Olga hatte Angst, unfassbare Angst. Sie hatte Angst vorm Leben bekommen.

In den letzten vier Stunden ihres Lebens war sie um Jahre gealtert, wenn sie es auch noch nicht verstand. Sie begann zu schluchzen. Sie rannte zum Telefon. Sie musste mit jemanden sprechen und die einzige, die Olga als Freundin bezeichnen würde, auch wenn sie dies nie zugeben würde, war Nadine, eine pummelige, sommersprossige Kommilitonin, die Philosophie studierte und bei Frauendemos mitmachte. Olga bewunderte Nadine tief im Herzen, da sie frei war und so wenig von der Meinung anderer abhängig schien. Doch bei allen anderen Bekannten, die Olga gern als Freunde gehabt hätte, galt Nadine als bescheuert und eingebildet.

"Nadine ... ich muss mit dir sprechen ..."

"Was ist los? Ich meine ... weißt du, wie spät es ist? Ich war schon eingenickt ..."

"Ich komme zu dir, mit dem Rad ... ich kann ..."

"Gut, gut, dann tu’s. Ich bin zu Hause und warte auf dich. Fahr vorsichtig."

Olga hatte im letzten Semester einen Fahrradunfall gehabt, auf dem Weg zu Nadine, sie hatte sich das linke Bein gebrochen. Sich in Paris beim Radfahren ein Bein zu brechen war so ziemlich das Peinlichste, was einem passieren konnte!

Olga küsste Lydia, schnappte sich ihren grünen Frühlingsmantel und rannte die Treppen runter. Plötzlich hatte sie das Gefühl, dass sie genauso rausgestürmt war, wie der Junge aus dem Laden.

Sie nahm den alten Fahrstuhl nach oben und klingelte Sturm. Im Hausflur krochen wild gewordene Schatten auf den Wänden, wie Spinnen.

"Sag mal, was soll das? Was ist in dich gefahren?" Nadine trug einen roten Bademantel. "Verzeih mir ..." Auf einmal wurde Olga klar, dass sie eine schlechte Freundin gewesen war, dass sie sich all die Monate lang nicht getraut hatte, zu Nadine zu stehen, dass sie Nadine auf allen Campuspartys verleugnet hatte, dass sie hinter ihrem Rücken über ihre Demos gelästert hatte. Und weswegen? Für ein paar blöde Typen, die sie ausnutzten und für ein paar Zicken, die nur über Männer und Mode reden konnten.

Olga fing wieder an zu heulen.

Nadine nahm sie in den Arm und führte sie in die Wohnung hinein. Sie setzten sich in ihr klitzekleines Zimmer, aufs Bett. Nadine holte Kekse und eine Wolldecke.

Olga musste erzählen. Olga erzählte. Sie erzählte von ihrem langweiligen Tag, von dem Buchladen, von dem Jungen, von dem Buch, vom Lesen und davon, wie beängstigend das Buch war, davon, was sie beim Lesen vor Augen gehabt hatte und wie es war, diese Angst zu spüren. Dann berichtete sie, dass sie auf einmal wahrgenommen hatte, dass ihr für alles der Mut fehlte, dass sie nicht wusste, warum sie überhaupt studierte, dass sie sowieso alles langweilte, dass sie niemanden hatte, dass sie alle Leute furchtbar fand, dass ihre Eltern soviel für ihre einzige Tochter zahlten und diese nicht mal wusste wozu. Olga redete und redete. Nadine saß dabei, tief atmend, knabberte an ihren Keksen und schaute ab und zu zum Fenster hin. Die Nacht war ruhig. Nadine mochte alles, was Olga sagte, Nadine mochte Olga. Sie war sogar stolz auf ihre Freundin, da diese endlich zu sich gefunden zu haben schien. Obwohl es so merkwürdig schlagartig gekommen war.

Nadine stammte aus einfachen Verhältnissen, finanzierte ihr Leben selbst und lebte schon seit sieben Jahren in Paris. Sie war innerlich stolz auf sich, dass sie unabhängig war und auf all diese "Nullmenschen" runter blicken konnte. Nadine kämpfte und liebte den Kampf, manchmal allerdings war sie einsam, fand sich hässlich und fett. Manchmal erschien ihr all ihr politisches Tun sinnlos. In solchen Stunden wollte sie eine Sicherheit haben. Und dann dachte sie an Olga, an ihre schöne Figur und an ihre Leichtsinnigkeit; an ihre dunklen, langen Haare und wollte so sein wie sie...

"Wer ist dieser Saré?"

»Das ist eine Sie. Da steht nur, dass sie in den Fünfzigern lebte, ihre Schriften erst Anfang der 70er aufgetaucht sind und dass sie sich mit 17 umgebracht hat. Mehr nicht. Ich muss alles wissen.
Das alles ist so absurd, Nadine, so verrückt, was sie schreibt. Sie ist groß und furchtbar, sie ist voller Hass und voller Sehnsucht ... Ich habe so was noch nie gelesen."

"Gib mir das Buch ... ich werde es lesen."

"Ja, ja, Nadine, musst du ... mir zuliebe."

"Ist ja alles gut. Ich bin ja da. Ist gut, dass du gekommen bist. Ich helfe dir."

"Nadine, ich habe Angst."

"Wovor denn?"

"Ich weiß nicht."

Bald schliefen sie eng umschlungen zusammen auf dem Bett ein.

Es war schön. Nadine betrachtete, als sie erwachte, ihre schlafende Freundin. Etwas hatte sich verändert und diese Veränderung gefiel ihr. Nadine hatte plötzlich das Gefühl, jemand würde sie wirklich brauchen.

 

Auszug aus Nino Haratischwilis Debutroman „Juja“, erschienen 2010 beim Verbrecher Verlag Berlin

Bild entfernt.
Nino Haratischwili (Foto: privat)

 

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„Ich kann nichts tun, um zu gefallen. Es würde nichts Gutes dabei heraus kommen.“
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