von Susanne Ihsen und Christoph Regner
In Deutschland fehlen Fachkräfte, insbesondere in den Ingenieurwissenschaften und in der Informatik. Das Steigerungspotenzial in der bisherigen Zielgruppe, bei jungen (deutschen) Männern, ist weitgehend ausgeschöpft. Mit verschiedenen Konzepten und Strategien sollen neue Zielgruppen erschlossen werden. So sollen zum Beispiel verstärkt Frauen für technisch-naturwissenschaftliche Studiengänge motiviert, ältere IngenieurInnen länger im Beruf gehalten oder Studierende aus dem Ausland rekrutiert werden. Doch obwohl Deutschland einen steigenden Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund zu verzeichnen hat, wird diese Gruppe in entsprechenden Strategien kaum berücksichtigt. Dabei sind die Ingenieurwissenschaften traditionell eine Fächergruppe, die einen „sozialen Aufstieg“ ermöglicht, d.h. deren AbsolventInnen sind häufiger als in anderen Studiengängen die ersten ihrer Familie, die einen akademischen Abschluss erwerben.
Eine umfassende Potenzialanalyse (1) durch das Fachgebiet Gender Studies in Ingenieurwissenschaften an der TUM im Auftrag von 4ING (Fakultätentage der Ingenieurwissenschaften und der Informatik an Universitäten) und mit Unterstützung des Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft zeigt auf, wo Potenziale bei Migrant/innen verborgen liegen und wie diese erfasst und genutzt werden können. Die Studie beleuchtet den aktuellen Forschungsstand, wertet Interviews mit ExpertInnen und IngenieurInnen mit Migrantionshintergrund aus und gibt Handlungsempfehlungen. Sie unterstreicht, dass es noch immer erhebliche Lücken, aber auch Fortschritte bei der Integration und Förderung von jungen Menschen mit Migrationshintergrund gibt.
Menschen mit Migrationshintergrund: Ein großes Potenzial liegt brach
In Deutschland leben gut 15 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund (2), etwa 18,7 Prozent der Gesamtbevölkerung (BMI: Migrationsbericht, 2007). Die Bevölkerung mit Migrationshintergrund ist mit einem Durchschnittsalter von 33,8 Jahren deutlich jünger als die Bevölkerung ohne (44,6 Jahre). Für das Bildungssystem sind vor allem die Jüngeren mit Migrationshintergrund von großer Bedeutung: Hier bilden die unter 25-Jährigen mit einem Anteil von 37,4 Prozent einen deutlich größeren Anteil als in der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund, in der sie 23 Prozent ausmachen. Betrachtet man die Gesamtbevölkerung, so hat in der Alterskohorte unter zehn Jahren fast jedes dritte Kind (29 Prozent) einen Migrationshintergrund.
Der Anteil von Personen aus unteren sozialen Schichten ist in der Migrationsgruppe deutlich höher und das Bildungsniveau ist deutlich niedriger als in der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund. So besuchen beispielsweise 13,2 Prozent der Migrationskinder ein Gymnasium im Vergleich zu 44,5 Prozent der Kinder ohne Migrationshintergrund. Besonders erschreckend, und das nicht nur bildungspolitisch, ist der hohe Anteil junger Erwachsener mit Migrationshintergrund ohne abgeschlossene Berufsausbildung. In dieser Bevölkerungsgruppe liegt also großes Potenzial brach.
Gute Sprachkenntnisse: Ein Schlüsselkriterium für gelungene Integration
Gute Sprachkenntnisse sind ein Schlüsselkriterium für gelungene Integration. Trotzdem werden SchülerInnen ohne ausreichende Deutschkenntnisse teilweise ohne spezielle Fördermaßnahmen in deutschsprachigen Schulklassen belassen: Ein promovierender Informatiker (28 Jahre) mit kurdischem Hintergrund, der mit acht Jahren nach Deutschland kam, berichtet zum Beispiel, dass es bei ihm zwei Jahre gedauert habe, bis er sich „im Unterricht artikulieren“ und diesem überhaupt folgen konnte.
Eine der befragten Expertinnen benennt ein anderes Problem der Sprachintegration: Die ehemalige Ingenieurin aus Berlin will mit ihrem Projekt „Zauberhafte Physik in Grundschulen“ Kindern mit Migrationshintergrund die Integration erleichtern und sie für Naturwissenschaften begeistern. Sie berichtet von Schulen „mit einem Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund von über 94 Prozent“ und stellt die berechtigte Frage, von wem in solchen Schulen „die Kinder eigentlich Deutsch lernen“ sollen. Auch erwähnt sie, dass manche Kinder wegen ihrer mangelnden Deutschkenntnisse Angst davor hätten, ausgelacht zu werden und sich selbst „als dumm empfinden“.
Petra Norrenbroch (2008) untersuchte, auf welche Hindernisse SchülerInnen mit Migrationshintergrund im deutschen Schulsystem stoßen. Ihr zufolge führt zuallererst die historisch gewachsene Einsprachigkeit des deutschen Schulsystems dazu, dass die Beherrschung der deutschen Sprache die zentrale Voraussetzung für jeglichen Schulerfolg darstellt und Mehrsprachigkeit als Abweichung von der Norm betrachtet wird. Ingrid Gogolin hat dafür bereits 1994 den Begriff „monolingualer Habitus“ geprägt. Eine entscheidende Schwierigkeit für SchülerInnen mit Migrationshintergrund besteht dabei darin, dass sich die deutsche Schulsprache, schriftlich wie mündlich, erheblich von der deutschen Alltagssprache unterscheidet. Daher kann ein Kind, das fließend Alltagsdeutsch spricht, erhebliche Defizite in der Schulsprache aufweisen.
Stereotype: Unreflektiertes Kulturverständnis behindert Integration
Die Integration von MigrantInnen scheitert oft an Vorurteilen. Die Leitung des Diversity Managements der Daimler AG stellt dazu fest, „dass diese Stereotypisierungen die gesellschaftliche Akzeptanz in Deutschland sehr schwer machen“. Eine selbstständige Bauingenieurin mit türkischem Hintergrund untermauert diese Einschätzung: Im Studium wurde sie mit Aussagen wie „du siehst anders aus“ oder „trägst` kein Kopftuch“ konfrontiert. Auch im Berufsleben werde sie „als Ausnahme gesehen“. Die positive Integrationserfahrung einer promovierenden Hochspannungstechnikerin (26) mit schwedischem Hintergrund deutet wiederum darauf hin, dass Integration umso leichter wird, je vertrauter sich die Kulturen des Heimatlandes und Deutschlands sind: „‘Der Deutsche‘ mag halt Schweden und fährt da hin zum Urlaub“, erklärt sie.
In Bezug auf Vorurteile und Stereotype im deutschen Schulsystem kritisiert Petra Norrenbrock (2008) ein „unreflektiertes Kulturverständnis der Lehrkräfte“; LehrerInnen mit einem hegemonialen Kulturverständnis nähmen eher eine diskriminierende Haltung gegenüber SchülerInnen und Eltern mit Migrationshintergrund ein. Sie vergessen, dass Menschen gleicher ethnischer Herkunft von ihrem kulturellen Kontext unabhängige, individuell verschiedene Wertvorstellungen, Handlungsmuster und Lebenspläne entwickeln können. Die Konfrontation mit negativen Stereotypen löst bei den Betroffenen Angst aus, erschüttert Selbstvertrauen sowie Motivation und wirkt sich negativ auf Bildungsleistungen aus (vgl. Ward Schofield, 2006). Nachgewiesen wurden diese Effekte ab einem Alter von fünf Jahren. Solche Effekte können zum Beispiel durch Vorbilder abgefangen werden, wie die Expertin von „Zauberhafte Physik in Grundschulen“ aus der Praxis weiß: Eine ihrer Projektmentorinnen, eine Türkin, „war der Hit in Kreuzberg, weil sich plötzlich alle diese kleinen türkischen Kinder mit ihr identifiziert haben und [...] plötzlich ein Vorbild“ hatten.
Sozialer Aufstieg durch Ingenieurwissenschaften: Chance für MigrantInnen
Wie bereits einleitend erwähnt, gelten Ingenieurwissenschaften als „AufsteigerInnenfach“; damit könne man den „gesellschaftlichen Aufstieg auch dokumentieren“ erläutert die Leitung des Diversity Managements der Daimler AG. Dass die Ingenieurwissenschaften eine große Chance für die Integration von Menschen mit Migrationshintergrund sein können, zeigt ein Vergleich: Etwa 41 Prozent der Studierenden mit Migrationshintergrund, aber nur 13 Prozent aller Studierenden werden hinsichtlich ihres sozialen Hintergrundes der Herkunftsgruppe „niedrig“ zugeordnet (Issersted et al., 2007). Die Ingenieurwissenschaften können aufgrund ihrer Berufsbezogenheit und ihrer spezifischen Fachkultur für diese Gruppe attraktiver sein als andere Disziplinen (vgl. Engler, 1993). Der höhere Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund aus unteren sozialen Schichten bringt jedoch auch Probleme mit sich: Diese Studierenden sind deutlich stärker auf BAföG und eigene Verdienste angewiesen als andere Studierende (vgl. Isserstedt et al., 2007).
Integrationshemmnisse entlang der Bildungskette
Im Schulsystem und entlang der gesamten Bildungskette lassen sich noch weitere Integrationshemmnisse identifizieren. Der Bildungshintergrund beziehungsweise der Informationsstand und der finanzielle Status der Eltern sind häufig die wesentlichen Faktoren für den schulischen Werdegang der Kinder. Dies bestätigt exemplarisch die Aussage des bereits erwähnten promovierenden Informatikers mit kurdischen Wurzeln: Seine Eltern waren in der Landwirtschaft tätig, seine „Mutter ist gar nicht zur Schule gegangen“ und sein Vater lediglich bis zur 5. Klasse, und beide „kannten auch das Schulsystem hier nicht“. Aus Zufall kam ihr Junge deshalb zunächst auf die Hauptschule, weil das die räumlich „nächste Schule“ gewesen sei.
Ein weitreichendes Problem ist auch die Anerkennung ausländischer Bildungsabschlüsse. Dies betrifft nicht nur den Übergang von Menschen mit Migrationshintergrund in den Arbeitsmarkt, sondern auch ihren Studienbeginn. Viele ZuwandererInnen müssen sehr lange auf einen Anerkennungsbescheid warten und der Bildungsföderalismus erschwert die Orientierung im deutschen Bildungssystem zusätzlich. Dies führt, aufgrund individueller wirtschaftlicher Zwänge, zu Beschäftigungsverhältnissen unterhalb der eigentlichen Qualifikation (vgl. Ihsen/Jeanrenaud et al., 2009).
Um bei Kindern das Interesse für Technik zu wecken, sollte möglichst früh in der Bildungskette angesetzt werden. Nach den Erfahrungen der Leiterin des Projekts „Zauberhafte Physik an Grundschulen“ sei man damit „in der dritten und vierten Klasse fast zu spät dran“. Sehr wichtig sei es, „Erfolgserlebnisse zu vermitteln“, gerade Kinder mit Sprachschwierigkeiten hätten ansonsten „ständig Misserfolge“.
Handlungsempfehlungen
Die Qualität frühkindlicher Bildung und vorschulischer Angebote muss gesteigert werden, insbesondere durch eine gezielte Sprachförderung. Generell muss die Bildung stärker auf Menschen mit Migrationshintergrund ausgerichtet werden. Darüber hinaus können Kinder viel stärker für Technik begeistert werden, wenn technisch-naturwissenschaftliche Themen in die frühkindliche und vorschulische Bildung integriert werden. Ein kontinuierliches „Technik-Curriculum“ entlang der Bildungskette, insbesondere bis zu einem Alter von 12 Jahren, ist nötig.
„Role models“ oder Vorbilder, welche selbst einen Migrationshintergrund haben und sich erfolgreich integrieren konnten, können ihrerseits Kindern die Integration erleichtern. Dies können zum Beispiel IngenieurInnen aus Unternehmen sein, die sich in Technikmotivationsprojekten engagieren.
Eine größere kulturelle Vielfalt bei LehrerInnen, ErzieherInnen und später auch bei MentorInnen muss so befördert werden, dass sie die kulturelle Zusammensetzung der Bevölkerung und damit auch der SchülerInnen besser wiederspiegelt; denn Menschen mit Migrationshintergrund empfinden sich dann als integriert, wenn sie sich auch mit dem „neuen“ Land identifizieren können – dazu gehört die Spiegelung der Vielfalt in der Gesellschaft. Außerdem sollten zukünftige LehrerInnen stärker als bislang auf die Heterogenität der SchülerInnen vorbereitet werden.
Universitäten sollten das Thema Migration zu einem Querschnittsthema ihrer Recruitingstrategien machen. Zum Beispiel könnte das Thema im Präsidium verankert werden, mit Arbeitsgruppen aus Studienberatung, Fakultäten und Studentenwerk. Auch sollten Lehrende die Möglichkeit erhalten, ihre interkulturelle Kompetenz weiterzubilden, und Hochschulmitglieder für das Thema sensibilisiert werden. Hier können Erfahrungen aus Gender- und Diversitykonzepten genutzt werden.
Die einschlägigen ingenieurwissenschaftlichen Fakultäten können mit Unternehmenskooperationen finanzielle und berufspraktische Fördermöglichkeiten gezielt für potenzielle StudienanfängerInnen mit Migrationshintergrund anbieten. Außerdem sollten schnell ein vereinfachtes Anerkennungsverfahren für den Zugang zu deutschen Hochschulen entwickelt und die EU-Anerkennungsstandards auch auf Drittstaaten-Angehörige und deren Abschlüsse übertragen werden.
Endnoten
(1) Ihsen, Susanne; Hantschel, Victoria; Hackl-Herrwerth, Andrea; et al. (2010): Ingenieurwissenschaften - Attraktive Studiengänge und Berufe auch für Menschen mit Migrationshintergrund?
(2) Die vorliegende Studie orientiert sich an der Definition des Mikrozensus, der unter den Personen mit Migrationshintergrund vier Teilfälle unterscheidet: I. zugewanderte AusländerInnen, II. AusländerInnen der 2. oder 3. Generation, III. SpätaussiedlerInnen und eingebürgerte ZuwandererInnen, IV: in Deutschland geborene Kinder mit deutscher Staatsangehörigkeit, die mindestens einen Elternteil aus I, II oder III aufweisen.
Literaturverzeichnis
- BMI Bundesministerium des Inneren (2007): Migrationsbericht des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge im Auftrag der Bundesregierung. Berlin.
- Engler, Steffani (1993): Fachkultur, Geschlecht und soziale Reproduktion. Eine Untersuchung über Studentinnen und Studenten der Erziehungswissenschaft, Rechtswissenschaft, Elektrotechnik und des Maschinenbaus. Weinheim.
- Gogolin, Ingrid (1994): Allgemeine sprachliche Bildung als Bildung zur Mehrsprachigkeit. Einige Überlegungen zur Innovation, auch des Fremdsprachenunterrichts. In: Bausch, Karl-Richard; Christ, Herbert & Krumm, Hans-Jürgen (Hg.): Interkulturelles Lernen im Fremdsprachenunterricht. Arbeitspapiere der 14. Frühjahrskonferenz zur Erforschung des Fremdsprachenunterrichts. Giessener Beiträge zur Fremdsprachendidaktik. Tübingen.
- Ihsen, Susanne; Hantschel, Victoria; Hackl-Herrwerth, Andrea; et al. (2010): Ingenieurwissenschaften - Attraktive Studiengänge und Berufe auch für Menschen mit Migrationshintergrund?
- Ihsen, Susanne; Jeanrenaud, Yves (2009): Potentiale nutzen, Ingenieurinnen zurückgewinnen. Drop-Out von Frauen im Ingenieurwesen: Analyse der Ursachen und Strategien zu deren Vermeidung , sowie Handlungsempfehlungen für eine erfolgreiche Rückgewinnung. Wirtschaftsministerium Baden-Württemberg (Hg.).
- Isserstedt, Wolfgang; Middendorff, Elke; Fabian, Gregor & Wolter, Andrä (2007): Die wirtschaftliche und soziale Lage der Studierenden in der Bundesrepublik Deutschland 2006. 18. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks durchgeführt durch HIS Hochschul-Informations-System. Bundesministerium für Bildung und Forschung Bonn, Berlin.
- Norrenbrock, Petra (2008): Defizite im deutschen Schulsystem für Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund. In: Leiprecht, Rudolf; Meinhardt, Rolf; Fritsche, Michael; Schmidtke, Hans-Peter & Grieb, Ina (Hg.): Schriftenreihe des Interdisziplinären Zentrums für Bildung und Kommunikation in Migrationsprozessen (IBKM) an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Nr. 34. Oldenburg: BIS-Verlag der Carl von Ossietzky Universität.
- Ward Schofield, Janet (2006): AKI-Forschungsbilanz 5. Berlin: 2006.
Prof. Dr. Susanne Ihsen leitet das Fachgebiet Gender Studies in Ingenieurwissenschaften an der TU München. Christoph Regner ist Journalist und Mitarbeiter am Fachgebiet.