von Martin Greve
Die Wanderbewegungen aus der Türkei nach Deutschland haben die Musiklandschaft in beiden Ländern extrem bereichert. Heute ist sowohl Musik in Deutschland als auch Musik in der Türkei in ihrer Vielfalt kaum noch überschaubar.
Klein-Istanbul hat man Kreuzberg früher genannt, weil es so türkisch ist. Sechs Jahre lang habe ich dort gewohnt, und das auch immer gedacht. Nun schaue ich aus dem Fenster meines neuen Istanbuler Büros und versuche mich an Kreuzberg zu erinnern. Unten fließt der Bosporus vorüber, ein Tanker fährt vom Norden kommend ins Marmarameer ein, gegenüber auf der anatolischen Seite befindet sich der Containerhafen von Kadiköy. Unten vor mir liegen drei riesige Kreuzfahrtschiffe, davor die alten Lagerhallen, wo seit letzter Woche die Istanbuler Biennale läuft. Auf der Uferstrasse staut sich wie so oft der Berufsverkehr. Etwa 15 Millionen Menschen leben hier, doppelt so viele wie in Berlin, Hamburg, Köln und München zusammen.
Klein-Istanbul? Dieses winzige Kreuzberg, mit seinen wenigen türkischen Geschäften, Vereinen und Banken? Seit ich vor drei Jahren nach Istanbul zog, kommen mir die angeblich so türkischen Viertel deutscher Großstädte klein, deutsch und verwirrend vor, und ebenso ihr Musikleben. In jeder Großstadt kennt man den Anblick dunkelhaariger Jugendlicher, die auf dem Rücken eine Instrumententasche mit einer lang gezogenen Laute tragen, man kennt auch die bonbonfarbenen Musikshows bei TRT INT, dem öffentlich-rechtlichen türkischen Fernsehen im deutschen Kabelnetz. Und im deutschen Fernsehen ist keine Fernsehserie mehr ohne türkische SchauspielerInnen und Rollen, keine Casting Show ohne türkisch-stämmige Sänger vorstellbar.
Was soll man also heute unter „Türkischer Musik in Deutschland“ verstehen? „Türkische Musik“ an sich ist allenfalls ein politischer Begriff und als solcher umstritten und musikalisch vollkommen unklar. Aber ist „Musik aus der Türkei“ besser? Gibt es in der Türkei nicht längst neben anatolischen bağlama-Lauten oder osmanischen Liedern auch Oper, Klavier, Hiphop und selbst Flamenco und Tango? Und erst recht kann in Deutschland jemand mit „Migrationshintergrund Türkei“ natürlich jede weltweit existierende Musik mögen und auch aktiv selbst pflegen. Verbal und inhaltlich ist das Thema heute kaum mehr zu fassen, und immer stärker drängt sich die Frage auf, welchen Sinn die Suche nach „türkischer Musik in Deutschland“ heute noch hat, und ob sie nicht auch Teil einer andauernden Ethnisierung ist.
Ostwestliche Aufbrüche
Wie hat die Migration von Musik aus der Türkei einst begonnen, und wann? Die ersten türkischen MusikerInnen kamen um 1900 nach Deutschland und waren ausschließlich an europäischer Kunstmusik interessiert. Musa Süreyya Bey (1884-1932) beispielsweise, der spätere Direktor des Istanbuler Konservatoriums, studierte vor dem Ersten Weltkrieg in Berlin. Seit ihrer Gründung 1923 förderte die Türkische Republik, die sich nun erklärtermaßen als europäischer Staat verstand, westliche Musik und schickte zahlreiche junge MusikerInnen zum Studium nach Paris, Wien, Prag und Berlin. 1935 lud das türkische Kulturministerium den deutschen Komponisten Paul Hindemith als Berater in die Türkei ein. Durch Vermittlung Hindemiths wurden weitere deutsche Musiker nach Ankara gerufen, etwa Eduard Zuckmayer als Direktor der Nationalen Musik- und Schauspielakademie oder Ernst Praetorius als Leiter des Symphonieorchesters Ankara. In den 1950er Jahren lief der deutsch-türkische Austausch von MusikerInnen weiter, und heute haben die meisten musikalisch westlich orientierten MusikerInnen der Türkei - InstrumentalistInnen, SängerInnen, TänzerInnen und DirigentInnen - internationale Erfahrungen.
Mit Inkrafttreten des türkisch-deutschen Anwerbevertrages am 30. Oktober 1961 begann die Migration türkischer ArbeitnehmerInnen nach Deutschland in großem Umfang. Einen ersten musikalischen Niederschlag fanden die Erfahrungen der MigrantInnen in den sogenannten gurbetçi-Liedern, Liedern über Heimweh und Auswanderung, die an ähnliche Volkslieder von SaisonarbeiterInnen im Osmanischen Reich anknüpften (Öztürk 2001, Anhegger 1982). Einige âşık, SängerInnen zentral- und ostanatolischer Tradition, waren als ArbeiterInnen nach Deutschland gekommen, und sangen nun Lieder über das Leben in Deutschland, die Anwerbung, das Heimweh im Wohnheim und schließlich über die „merkwürdigen“ Deutschen. In der Türkei entstanden gleichzeitig Volkslieder über die Trauer der Zurückgebliebenen und ihre Sehnsucht nach dem Vater, dem oder der Verlobten, der Mutter in der Ferne, wie etwa ”Avrupada Neler Var” von Metin Türköz.
Arabesk bedeutet Sehnsucht
Im Laufe der 1970er Jahre wandelte sich bei vielen MigrantInnen die Idee, rasch in die Türkei zurückzukehren, unmerklich von einem konkreten Lebensplan zu einem Mythos. Der Vergleich des „kalten Deutschland“ mit einem idealisierten Leben in der Türkei bestimmte nun das allgemeine Lebensgefühl.
Musikalisch fand die Sehnsucht nach der „Heimat“ in den 1970er und 1980er Jahren ihren Ausdruck im arabesk, einer Mischung aus anatolischer Volksmusik, westlichem und urbanem türkischen Schlager sowie Arrangements arabischer Unterhaltungsmusik (Stokes 1992, Güngör 1990). Auch viele Deutsche lernten die arabesk-Musik zumindest von weitem kennen: Es war die Musik der Kebab-Buden - bunt, kitschig mit verzweifeltem Ausdruck und begleitet von schmachtenden Streicherklängen. Tatsächlich handelten die Liedtexte, später auch die arabesk-Filme, von den Schmerzen unglücklicher Liebe, von Heimweh, von der Kälte der Großstädte, von Schicksalsergebenheit und Verzweiflung. Erfolgreich war arabesk nicht zuletzt aber auch deshalb, weil Musik durch die in dieser Zeit aufkommenden Musikkassetten erstmals für ärmere Schichten bezahlbar wurde. (Beispielsweise: Orhan Gencebay, „Bir teselli ver“)
Noch die folgende Generation wuchs mit arabesk auf, und wie ein ironisches Echo auf diese schwermütigen Zeiten klang 2005 der R’n Besk des Köln/Berliner Sängers Muhabbet. „Du hast geschworen“ sang Muhabbet im Verzweiflungston des arabesk – aber auf Deutsch.
Parallel zu den sogenannten „Gastarbeitern“ kamen in den 1960er und 1970er Jahren auch türkische Musiker und Musikerinnen nach Westeuropa, die vor allem an internationaler Zusammenarbeit interessiert waren. Besonders Paris wurde Ausgangspunkt internationaler Karrieren, etwa für Tülay German oder Timur Selçuk. Seit Ende der 1960er Jahre versuchten einige junge türkische Beat- und Rockmusiker in Europa Fuß zu fassen, in Paris die Gruppe Moğollar, in Köln die Popgruppe Apaşlar mit dem Sänger Cem Karaca. Andere MusikerInnen studierten an Deutschen Musikhochschulen, in den 1970er Jahren beispielsweise der Gitarrist Erkan Oğur in München.
Am 12. September 1980 putschte sich in der Türkei eine Militärjunta an die Macht. Es folgte eine Fluchtwelle politisch engagierter Intellektueller und KünstlerInnen nach Europa. Im Bemühen um internationale Solidarität traten MusikerInnen wie Selda Bağcan, Melike Demirağ, Şanar Yurdatapan, Fuat Saka, Sümeyra oder Cem Karaca damals auf politischen Veranstaltungen verschiedenster Art auf, häufig gemeinsam mit politisch aktiven deutschen und anderen nicht-türkischen MusikerInnen. 1984 entstand am Westfälischen Landestheater Castrop-Rauxel das deutschsprachige Musical Die Kanaken von Martin Burkert und Cem Karaca.
Während einige ExilantInnen, etwa Cem Karaca, Melike Demirağ, Şanar Yurdatapan oder Zülfü Livaneli, in die Türkei zurückkehrten, als die politische Situation dies wieder zuließ, blieben andere ganz in Deutschland. Fuat Saka besuchte die Türkei nach seinem Fortgang 1980 erst zwanzig Jahre später wieder, die Sängerin Sümeyra lebte von 1981 bis zu ihrem Tod 1990 in Frankfurt.
Türkisches Musikleben in Deutschland seit den 1970er Jahren
Bereits in den 1970er Jahren eröffneten in zahlreichen deutschen Großstädten türkische Musikrestaurants und Musikgazinos. Auch türkische Hochzeiten wurden erstmals in Deutschland gefeiert, und noch heute existieren in den meisten deutschen Städten türkische Hochzeitssäle (düğün salonu) mit festen Hochzeitsbands (Schlagzeug, Keyboard, saz, E-Gitarre, bisweilen auch E-Bass) oder zumindest KeyboarderInnen. Hinzu kommen die traditionellen anatolischen Duos aus Trommel und Schalmei (davul und zurna).
Bunte, rein türkischsprachige Plakate kündigten damals (wie heute) immer wieder Konzerte populärer Sänger aus der Türkei an, und so manche dieser GastmusikerInnen blieben jahrelang in Deutschland. Migrantenvereine schossen aus dem Boden, und viele von ihnen organisierten Volkstanz- oder bağlama-Kurse. Aber auch MigrantInnen, die nicht als GastarbeiterInnen nach Deutschland gekommen waren, wuchsen in dieses entstehende türkische Musikleben hinein. In Berlin beispielsweise gründete der junge Geiger Tahsin Incirci, der 1973 als Stipendiat des Deutschen Akademischen Austauschdienstes gekommen war, seinen Westberliner „Türkischen Arbeiterchor“.
In den 1980er Jahren nahm die deutschland- und europaweite Vernetzung von Migrantenvereinen zu. Die meisten dieser Vereine veranstalteten große, oft überregionale Vereinsabende, an denen sie die gemeinsame Identität inszenierten, beispielsweise mit kurdischen, türkischen und alevitischen Liedern oder Volkstänzen ihrer anatolischen Herkunftsregionen. Zu den großen zentralen Veranstaltungen und Festivals, die die Dachverbände alljährlich ausrichteten, wurden Mitglieder und Anhänger aus ganz Deutschland oder sogar aus anderen europäischen Ländern mit Bussen zusammengebracht (zum Beispiel: Trabzon Dernegi).
Damals wie heute waren im türkischen Musikleben Deutschlands vor allem alevitische Vereine bedeutend. Anders als im sunnitischen Islam nämlich, dem die Mehrheit in der Türkei angehört, spielt Musik in der esoterisch-heterodoxen anatolischen Konfession des Alevitentums eine zentrale Rolle (Kehl-Bodrogi 1992). In den zentralen Zeremonien des traditionellen Alevitentums (den cem-Versammlungen) wird der geistige Führer, dede, stets von einem Sänger oder einer Sängerin und einem bağlama-Spieler (zakir) begleitet, der verschiedene Lieder religiösen bis philosophischen Inhalts (deyiş), singt, sowie die meditativen semah-Tänze der Gemeindemitglieder begleitet. In praktisch allen Vereinen existieren daher saz-Gruppen für Jugendliche, manchmal auch Volksliedchöre oder Volkstanzgruppen. Bei alevitischen Großveranstaltungen nehmen semah–Tänze allerdings den Charakter von Vorführungen an und werden meist in durchchoreographierten Inszenierungen mit speziellen Kostümen von speziell angelernten semah-Gruppen dargeboten. Im Jahr 2000 wirkten bei einer monumentalen alevitischen Zentralveranstaltung in Köln, dem „Epos des Jahrtausends“, neben zahllosen SolistInnen insgesamt 1246 bağlama-SpielerInnen und 674 semah-TänzerInnen mit.
Weiterhin entstanden seit den 1980er Jahren vielerorts türkische Chöre zur Pflege von Volks- und vor allem Kunstmusik. Der Chor war eine neuartige Aufführungspraxis, die in der Türkei erst kurz zuvor im Zuge der allgemeinen Europäisierung entstanden war und bald auch in Deutschland übernommen wurde. Die Mitglieder der Chöre sind musikalische Laien, die sich an Wochenenden unter der Leitung meist halb- oder vollprofessioneller MusikerInnen zum gemeinsamen Singen treffen. Diese ChorleiterInnen, oft mit solider Musikausbildung aus der Türkei, versuchen meist, den SängerInnen Grundlagen der hochentwickelten osmanisch-türkischen Musiktheorie und Gesangstechnik zu vermitteln. Einige der Chöre treffen sich einfach privat, andere sind an Vereine, Kulturzentren oder Konsulate angeschlossen.
Seit den 1990er Jahren schließlich entstanden in vielen deutschen Städten seriöse türkische Privat-Musikschulen. Im Ruhrgebiet gibt es inzwischen in beinahe jeder Stadt derartige Einrichtungen, und alleine in Berlin waren es zwischenzeitlich sieben. Als ein Beispiel kann das „Konservatorium für Türkische Musik Berlin“ genannt werden. Noch in den 1980er Jahren wussten nur wenige Deutsche von diesem türkischen Musikleben deutscher Städte mit seinen Vereinen, MusiklehrerInnen und Konzerten (Greve 2003, Uysal 2001). Immerhin aber begannen damals erste deutsche Sozialprojekte oder städtische Musikschulen, sich für die türkische Musik ihrer Nachbarschaft zu interessieren.
Transstaatliche Verbindungen: Radio, TV, Internet und Reisen
Es scheint erstaunlich, dass zumindest bis zu diesem Zeitpunkt - trotz wachsender Aufenthaltsdauer der MigrantInnen- anstelle einer allmählichen Assimilierung eher das Gegenteil, nämlich der Ausbau eines rein türkischen Musiklebens eingetreten war. Entscheidende Ursache hierfür war die zunehmende transstaatliche Vernetzung: Die Möglichkeiten für Reisen zwischen Deutschland und der Türkei hatten sich seit 1960 drastisch verbessert. Seit den 1970er Jahren machte sich alljährlich im Sommer ein Großteil der türkischen Bevölkerung Deutschlands auf die Reise, um möglichst den gesamten Jahresurlaub am Stück in ihrem Dorf, ihrer Stadt oder am Strand zu verbringen. Umgekehrt fliegen Geschäftsleute oder KünstlerInnen aus der Türkei nach Westeuropa und bleiben einige Stunden, Tage oder auch viele Wochen. Alle großen MusikerInnen der Türkei, welcher Stilrichtung auch immer, treten regelmäßig in Deutschland auf, sowie ebenso viele nicht ganz so bedeutende Musikschaffende.
Verstärkt wird der direkte Austausch bis heute durch den stetigen Ausbau der Massen- und Kommunikationsmedien. Seit 1991 ist der staatliche türkische Export-Fernsehsender „TRT-INT“ in deutschen Kabelnetzen verfügbar. Die Deregulierung des türkischen Fernsehmarktes ab 1993, sowie die Entwicklung des Satellitenempfangs brachten zudem dutzende türkische Fernsehsender nach Deutschland. Praktisch jedes einst noch so entlegene anatolische Dorf ist heute von Deutschland aus telefonisch erreichbar, daneben dürfte Facebook zum wichtigsten Medium deutsch-türkischer Kommunikation geworden sein.
In den 1990er Jahren – bevor Raubkopien und Internet den Plattenmarkt in die Knie zwangen – wurden in Deutschland schätzungsweise 5 bis 6 Millionen Kassetten und CDs aus der Türkei verkauft (Greve 2003, S. 82). Zahllose türkisch-deutsche MusikerInnen versuchten in dieser Zeit, eigene Kassetten bzw. CDs zu produzieren. Oft von kaum erfüllbaren Erwartungen beflügelt, waren viele bereit, dafür große Summen zu investieren. Ermutigend waren die wenigen Vorbilder tatsächlich erfolgreicher MusikerInnen aus Deutschland wie Özlem Özdil aus Bünde/Westfalen oder die Gruppe Yurtseven Kardeşler aus Hamm. Die ersten Demo-Aufnahmen entstanden oft in türkischen Studios in Deutschland, während Herstellung und Vertrieb der Kassetten fast immer in der Türkei erfolgtten. Die für türkische Verhältnisse wohlhabenden DeutschlandtürkInnen gelten im Istanbuler Musikproduktionsviertel Unkapanı als lukrative Einnahmequelle.
Neue Wechselwirkungen: Aleviten, Kurden, Türken, Deutsche
Medien und Reisen also hielten mit der Türkei verbundene Identitätsteile frisch. Auf der anderen Seite erschwerten die Diskriminierung von Teilen der deutschen Gesellschaft sowie vor allem die fehlende Integration türkischer Musik ins deutsche Musikleben die Identifizierung der türkeistämmigen EinwanderInnen mit Deutschland.
Stattdessen geschah etwas anderes: Mit dem Ausbau der transstaatlichen Verbindungen zwischen Deutschland und der Türkei wurde der verklärende Blick auf die Türkei der Vergangenheit, wie er die erste Generation prägte, abgelöst von einem direkten Bezug auf die reale Türkei der Gegenwart. Spätestens in den 1980er Jahren reagierte das türkische Musikleben in Deutschland immer schneller auf aktuelle Entwicklungen der Türkei. Heute ist jede Neuerung in der Türkei - neue Musikstile, Instrumente oder aktuelle Hits - praktisch ohne Zeitverlust auch in Deutschland präsent.
So löste in den 1980er Jahren in beiden Ländern eine kürzere, klanglich kräftigere bağlama die ältere Langhals-Variante ab - wie zum Beispiel bei Arif Sag Osmanisch-türkische Kunstmusik gelangte überhaupt erst nach Veränderungen in der Türkei nach Deutschland. Jahrzehntelang hatte die Türkische Republik diese Tradition als zu orientalisch abgelehnt. Ende der 1970er Jahre gründete der türkische Staat Konservatorien sowie Chöre für „Klassische Türkische Musik“ mit einer neuartigen Ästhetik. Kurze Zeit danach erschienen auch in Deutschland die ersten Chöre. Umgekehrt wirkte die türkische Musikdiaspora Europas auch in die Türkei zurück. An der Renaissance des Alevitentums in den 1990er Jahren etwa hatten europäische AlevitInnen von Anfang an starken Anteil (Rittersberger-Tilic 1998).
Noch deutlicher ist der Fall des kurdischen Nationalismus. Während der Gebrauch der kurdischen Sprache in der Türkei seit 1982 verboten war, konnten sich kurdische Organisationen in Europa frei entfalten. Zahlreiche kurdische MusikerInnen leben bis heute in Europa, beispielsweise Şivan Perwer, Nizamettin Arıç, Ciwan Haco oder Yılmaz Çelik (Skalla & Amiri 1999). In den 1980er Jahren wurden in Deutschland zahlreiche Kassetten kurdischer MusikerInnen produziert, um dann in der Türkei unter der Hand vertrieben zu werden. Erst nach 1991, als das Verbot der kurdischen Sprache in der Türkei aufgehoben wurde, ging ein Großteil der kurdischen MusikproduzentInnen nach Istanbul. Spätestens seit den 1990er Jahren aber nahm die musikalische Interaktion zwischen Deutschen und Deutsch-Türken dennoch zu.
Aufschwung durch „Weltmusik“, Orientalismus als Marke
Direkte Begegnungen deutscher und türkischer MusikerInnen ergaben sich ab den 1980er Jahren vor allem im Kontext der sogenannten „Weltmusik“. Deutsche WeltmusikerInnen reisten damals nach Indien, Ägypten oder in die Türkei auf der Suche nach unbekannten exotischen Klängen und Traditionen. Viele türkische oder kurdische MusikerInnen wie Derya (Berlin), Tan (Düsseldorf), Kazım Çalışgan (Bochum) oder Nurê (Berlin) nahmen diese Entwicklung dankbar auf und vermischten in „interkulturellen“ Gruppen anatolische Volkslieder mit Rock oder Jazzrock. Allerdings blieben türkische MusikerInnen im Umfeld der Weltmusik bis in die jüngste Vergangenheit seltene Ausnahmen, erst im Jahr 2011 gewann mit Kavpersaz erstmals eine deutsch-anatolische Musikgruppe den bundesweiten Weltmusikwettbewerb Creole.
Türkisch-deutsche MusikerInnen der dritten Generation, geboren und aufgewachsen in Deutschland, verstanden inzwischen besser, wie man mit mehr oder weniger türkischer Musik auch ein deutsches Publikum erreichen konnte. Die Erwartungen an eine orientalische Musik - alte Traditionen aus einer geheimnisvoll, ursprünglich und gefährlich vorgestellten Welt - mussten ernst genommen werden. Vor allem der Islam passte in dieses Orient-Bild. Kaum ein Thema erweckt bis heute so schnell Überfremdungsängste deutscher NachbarInnen wie der Bau einer Moschee, andererseits jedoch findet sich in deutschen Weltmusikabteilungen insbesondere Musik türkischer Sufis. Gerade viele interkulturell orientierte MusikerInnen und Musikensembles haben sich künstlerisch mit dem Sufismus auseinandergesetzt, beispielsweise die Gruppe Salsabil aus Berlin oder die Sängerin Sema, die zwischen Berlin und Istanbul pendelt.
Viele Musikgruppen und EinzelmusikerInnen, die sich nicht an ein türkisches, sondern explizit an ein deutsches Publikum wenden, etikettieren sich daher inzwischen häufig - mehr oder weniger ironisch – als orientalisch, so die Berliner Gruppen Orient Express, Orient Connection oder Orientation, ähnlich das Bochumer Dervish Kulturmanagement oder das Label Oriental Media Network. Das interkulturelle Musikfestival Kemnade bei Bochum warb 2001 mit dem Bild eines türkischen Sufis, verfremdet in schrillen Farben (mittlerweile ein geläufiges Motiv). Musikalisch findet sich die selbstbewusste, spielerische Orient-Inszenierung beispielsweise in den Klangcollagen des in Kanada lebenden Flötisten und DJ Mercan Dede.
Angesichts dieser Entwicklungen verloren die Migrantenvereine der ersten Generation, die gazinos und die arabesk-Musik immer mehr an Bedeutung. Das Bild von „Türken“ in Deutschland veränderte sich, im Zentrum der Wahrnehmung stand nun eine jüngere Generation.
New Style: Kool & Sexy, Pop und Hiphop, „Chanson“ und Retro
Anfang der 1990er Jahre war in der Türkei erstmals eine selbständige türkische Jugendkultur mit eigener Musik entstanden, die wiederum schon bald nach Deutschland überschwappte (Solmaz 1996, Wurm 2006). Auch in Deutschland eröffneten türkische Diskotheken und Clubs ähnlich denen in der Türkei, meist außerhalb der türkischen Wohnviertel, weitab von der sozialen Kontrolle durch NachbarInnen und Verwandte und demonstrativ in bester Citylage (Çağlar 1996).
Bemerkenswert an der Popmusikwelle der Türkei war die Tatsache, dass eine Reihe der neuen Stars ihre Kindheit als „Gastarbeiter“-Kinder in Westeuropa verbracht hatte und dies auch öffentlich betonte, beispielsweise Tarkan aus Alzey bei Worms, Rafet El Roman aus Rheinheim im Odenwald und Candan Erçetin aus Hanau. Mitte der 1990er rückten der türkische und der internationale Plattenmarkt dann enger zusammen. International bei weitem erfolgreichster Sänger wurde Tarkan, der mit der gleichnamigen CD 1998 in zahlreichen europäischen Ländern die Charts eroberte. Im Jahr 2003 gewann beim internationalen Schlagerwettbewerb „Grand Prix d’Eurovision“ die türkische Sängerin Sertap Erener mit dem englischen Lied „Everyway That I Can“.
Auch einer Reihe türkischer MusikerInnen aus Westeuropa gelang der Aufstieg ins internationale Popgeschäft. Im Jahr 1999 vertrat die türkisch-münchnerische Gruppe Sürpriz mit dem deutsch-englisch-türkischen Lied Reise nach Jerusalem (Kudüs’e seyahat) von Ralph Siegel Deutschland beim „Grand Prix d’Eurovision“. Im Jahr darauf schrieb der in Hannover lebende Produzent und DJ Mousse T. (Mustafa Gündoğdu) das Lied Sex Bomb für Tom Jones, das ein internationaler Tophit wurde.
Aber auch die Volksmusik erlebte in den 90er Jahren ein Revival, allerdings war die Popwelle nicht spurlos an dieser vorüber gegangen. So genannte türkü bars verdrängten nun die älteren gazinos: Jugend-Cafés mit live gespielter Volksmusik, wo man FreundInnen trifft, flirtet, isst, trinkt, mitsingt und zu fortgeschrittener Stunde mit allen gemeinsam anatolische Volkstänze wie halay oder çepki tanzt. Direkt im Anschluss sorgte eine weitere deutsch-türkische Jugendkultur für Aufregung: Türkischer Rap trat zuerst in Deutschland auf, und zwar vor allem unter jugendlichen MigrantInnen, und erst sehr viel später in der Türkei (Elflein 1997, Greve & Kaya 2004). Es begann in den 1980er Jahren mit multinationalen Gruppen, die sich mit AfroamerikanerInnen in den USA identifizierten und Hiphop als Artikulation einer diskriminierten ethnischen Minderheit empfanden. Das erste deutschsprachige Stück überhaupt, Ahmed Gündüz stammte von Fresh Familee, einem türkischen Rapper, und erzählte die Geschichte eines Türken in Deutschland (Verlan & Loh 2000).
Etwa gleichzeitig begannen einzelne deutsch-türkische RapperInnen türkische Texte zu verwenden. 1991 erschien auf der Debut-LP der Nürnberger Band King Size Terror der erste türkische Rap Bir Yabancının Hayatı („Das Leben eines Fremden“, Elflein 1997, S. 289). Vollkommen unerwartet wurde 1995 die Gruppe Cartel mit türkischen Rappern aus Nürnberg, Kiel und Berlin in der Türkei zu Superstars, die ganze Fußballstadien füllten (Kaya 2000).
Der deutsche Markt hingegen versprach zwar schon um die Mitte der 1990er Jahre kaum lukrative Verkaufszahlen für den so genannten Oriental Hiphop, dafür aber sicherte das breite Medieninteresse immerhin gute Auftrittsmöglichkeiten. Aziza A. (Alev Yıldırım) beispielsweise trat unter anderem auf der Expo 2000 in Hannover im deutschen Pavillon auf. Mit seinen harten deutschen Texten war damals aber bereits Kool Savas zum deutschen Rapstar aufgestiegen und Hiphop von einer Subkultur zum Mainstream geworden. Der nach wie vor hohe Anteil an MusikerInnen mit Migrationsanteil spielt seither kaum noch eine Rolle.
Verwirrende Vielfalt
Hatten die 1990er Jahre den Aufstieg von deutsch-türkischer Jugendmusik gebracht, so zeigt sich in den letzten Jahren eine allmähliche Einbindung von traditioneller türkischer Musik ins etablierte deutsche Musikleben (Greve 2008). Vorreiter waren vielerorts die Musikschulen. Seit zehn Jahren finden in Berlin und Nordrhein-Westfalen im Rahmen von Jugend Musiziert auch bağlama-Wettbewerbe statt, und noch im Jahr 2011 soll der erste deutschsprachige Lehrplan bağlama des Verbandes der Musikschulen (VDM) erscheinen. Noch immer aber gibt es bundesweit keine institutionell geförderten türkischen oder deutsch-türkischen Musikensembles, ebenso wenig eine anerkannte künstlerische Ausbildung in türkischer Kunst- oder Volksmusik.
Dafür aber bemühen sich mittlerweile selbst KonzertveranstalterInnen so genannter E-Musik um deutsch-türkisches Publikum. Konzertreihen mit türkischer Musik bieten unter anderem die Philharmonien Köln, Essen und Berlin; die Komische Oper Berlin vergab kürzlich einen Kompositionsauftrag an den Berliner Komponisten Taner Akyol. 2011 widmete das Schleswig-Holstein Musikfestival seinen Länderschwerpunkt der Türkei, und im gleichen Jahr veranstaltete selbst die Hannoversche Gesellschaft für Neue Musik ein Festival zu Neuer Musik aus der Türkei.
Schlussbemerkungen
Es ist verwirrend geworden. Jede neue Migrationsbewegung hat neue Musikwelten nach Deutschland gebracht: zunächst europäische Musik, dann anatolische Volkslieder, politische Gesänge und schließlich osmanische Kunstmusik. Jugendmusikkulturen sind in beiden Ländern entstanden, Pop und Hiphop haben auch das jeweils andere Land erreicht. All diese so unterschiedlichen Musikwelten existieren auch heute noch in Deutschland, und machen es schwierig, den Begriff „Türkische Musik“ zu fassen. Längst leben viele Menschen mit türkischem Migrationshintergrund in Deutschland, die lieber Tango oder Salsa tanzen, auf Deutsch rappen oder Klavier spielen. Die Vorstellung, es gäbe eine wie auch immer definierbare „Musik von TürkInnen in Deutschland“ ist von der Realität längst überholt worden.
Doch obwohl der Austausch zwischen beiden Ländern immer intensiver geworden ist, spielen türkeistämmige MusikerInnen aus Deutschland hier in Istanbul keine große Rolle. Auch für mich persönlich verschwindet das deutsch-türkische Musikleben langsam aus meiner Wahrnehmung. In diesen ersten drei Jahren in Istanbul habe ich all das erlebt, was ich zuvor nur aus Erzählungen kannte: eine ähnliche Unsicherheit gegenüber einem unbekannten Land wie in der ersten Generation, eine ähnliche Identitätsverwirrung wie in der zweiten. Eines allerdings bleibt mir erspart: Integration. In der Türkei spielt dieses Thema keine Rolle. Man lässt mich in Ruhe. Schon dafür hat sich der Umzug eigentlich gelohnt. Das Wort Integration nämlich kann ich nach all den Jahren im deutsch-türkischen Berlin einfach nicht mehr hören.
Literatur
- Anhegger, Robert (1982): Die Deutschlanderfahrung der Türken im Spiegel ihrer Lieder. Eine „Einstimmung“. In: Birkenfeld, Helmut (Hrsg.). Gastarbeiterkinder aus der Türkei. Zwischen Eingliederung und Rückkehr. München: Beck.
- Baumann, Max Peter (Hrsg.) (1985): Musik der Türken in Westberlin. Kassel: Yvonne Landec.
- Çağlar, Ayşe (1998): Verordnete Rebellion: Deutsch-türkischer Rap und türkischer Pop in Berlin. In: Mayer, Ruth, Terkessidis, Mark (Hrsg.). Global Kolorit. Multikulturalismus und Populärkultur. St. Andrä/Wördern: Hannibal.
- Elflein, Dietmar (1997): Vom neuen deutschen Sprechgesang zu Oriental Hip Hop – einigen Gedanken zur Geschichte von Hip Hop in der BRD. In Kreutziger-Herr, Annette & Strack, Manfred (Hrsg.). Aus der Neuen Welt: Streifzüge durch die amerikanische Musik des 20. Jahrhunderts. Hamburg: Lit, 283-296.
- Greve, Martin (2003: Die Musik der imaginären Türkei. Musik und Musikleben im Kontext der Migration aus der Türkei in Deutschland. Stuttgart: Metzler.
- Greve, Martin (2008): Türkische Musik in europäischen Institutionen. In: Hemetek, Ursula, Sağlam & Hande (Hrsg.): Music from Turkey in the Diaspora (= Klanglese 5), Wien: Institut für Volksmusikforschung und Ethnomusikologie, S. 89 - 96.
- Martin, Greve & Kaya, Ayhan (2004). Islamic Force, Takım 34 und andere. Identitätsmixturen türkischer Rapper in Berlin und Istanbul. Kimminich, Eva (Hrsg.): Rap: More than Words, Welt - Körper - Sprache Vol. 4: 161-179.
- Güngör, Nazife (1990). Arabesk. Sosyokültürel Açıdan Arabesk Müzik. Istanbul: Bilgi.
- Kaya, Ayhan (2000). „Sicher in Kreuzberg“. Berlin’deki Küçük Istanbul. Diyasporada Kimliğin Oluşumu. Istanbul: Büke.
- Kehl-Bodrogi, Krisztina (1992). Vom revolutionären Klassenkampf zum „wahren“ Islam. Transformationsprozesse im Alevitentum in der Türkei nach 1980. Sozialanthropologische Arbeitspapiere Nr. 49. Berlin: Das Arabische Buch.
- Öztürk, Ali Osman (2001). Alamanya Türküleri. Türk Göçmen Edebiyatının Sözlü/öncü kolu. Ankara: T.C. Kültür Bakanlığı Yayınlığı.
- Helga Rittersberger-Tilic (1998), Development and Reformulation of a Returnee Identity as Alevi. In: Tord Olsson, Elisabeth Özdala, Catharina Raudvere (Hrsg.): Alevi Identity, Transactions of the Swedish Research Institute in Istanbul, Bd. 8, Istanbul, 69-78
- Reinhard, Ursula (1987): Türkische Musik. Ihre Interpreten in West-Berlin und in der Heimat. Ein Vergleich. Jahrbuch für Volksliedforschung . 81-92.
- Skalla, Eva & Amiri, Jemima (1999): Kurdish Music. Songs of the Stateless. In: Broughton, Simon & Ellingham, Mark, Trillo, Richard (Hrsg.). World Music. The Rough Guide, London: Rough Guides. Vol. 1: 378-384.
- Metin Solmaz (1996), Türkiye’de Pop Müzik. Dünü ve Bügünü ile bir Infilak Masalı, Istanbul: Pan.
- Stokes, Martin (1992): The Arabesk Debate. Music and Musicians in Modern Turkey, Oxford: Clarendon.
- Uysal, Sabri (2001): Zum Musikleben der Türken in Nordrhein-Westfalen. Gräfelfing: Gräfelfing Buchverlag.
- Verlan, Sascha, Loh, Hannes. (2000). 20 Jahre Hiphop in Deutschland, Höfen: Hannibal.
- Wurm, Maria (2006). Musik in der Migration. Beobachtungen zur kulturellen Artikulation türkischer Jugendlcher in Deutschland. Bielefeld.
November 2011
Martin Greve ist wissenschaftlicher Referent am Orient-Institut Istanbul und leitet den Studiengang „Türkische Musik“ an der Rotterdam World Music Academy.