Migrationshintergrund - und doch erfolgreich: Die Bedeutung von familialen Ressourcen im Bildungsaufstieg

 

von Ebru Tepecik

 

Die polarisierende Integrationsdebatte des letzten Jahres (2010) zeigte erneut, wie in Deutschland Minderheiten öffentlich pauschalisiert und auch degradiert werden können. Noch bedenkenswerter ist die große Resonanz und Zustimmung zu diesen pauschalisierenden Thesen in Teilen der autochthonen Bevölkerung. Ein Argumentationsstrang in dieser Debatte befasste sich mit der schlechten Bildungssituation bzw. Bildungsbeteiligung von Kindern und Jugendlichen aus Migrantenfamilien. Er enthielt die These von der Vererbung mangelnder Bildungserfolge bei arabienstämmigen und türkeistämmigen MigrantInnen.

Migrantenkinder und -jugendliche türkischer Herkunft stehen oft und vor allem im Kontext von Schule und Bildung einer problemfixierten öffentlichen Haltung gegenüber. Dieser defi-zitorientierte Mainstream dominiert auch auf sozialwissenschaftlicher Forschungsebene: Ei-nerseits hat sich die Forschung lange Zeit auf die Erklärung des schulischen Misserfolgs von Migrantenkindern, d.h. auf die „schulisch gescheiterte“ Gruppe, konzentriert (vgl. kritisch da-zu: Herwartz-Emden 1997, Neumann/Karakasoglu 2001, Pott 2002). Und andererseits hat die Forschung verschiedene Defizithypothesen wie beispielsweise Bildungsferne, Traditiona-lismus oder Identitätskonflikte bezogen auf die Migrantenkinder und ihre Familien produziert, mit denen sie die niedrige Bildungsbeteiligung und in vielen Fällen auch die fehlende gesell-schaftliche Eingliederung der MigrantInnen zu erklären versuchte (vgl. Mertens 1981, Biele-feldt 1982, Nieke 1991).

Der defizitorientierte Mainstream hat seine Entwicklungsgeschichte in den langjährigen Prozessen des eher erfolglosen gesellschaftspolitischen Umgangs mit Zuwanderung und in dem damit verknüpften Diskurs einer reproduzierten Problemhaltung gegenüber MigrantInnen. Diese Grundhaltung schlug sich auch in den verschiedenen Phasen der daraus entwickelten pädagogischen Ansätze und Konzepte nieder – angefangen von der Ausländerpädagogik bis hin zur interkulturellen Erziehung (vgl. Kohnen 1998, Ochse 1999). Allerdings wurden viele dieser Ansätze und Arbeiten in der Migrationsforschung in späteren Studien massiver Kritik unterzogen (vgl. Auernheimer 1988, Czock 1993, Bukow/Hemel 2003).

Vorstellung der Studie
In Abgrenzung zu der oben angeführten Defizitperspektive beschäftigt sich der folgende Beitrag mit dem Bildungserfolg (1) von MigrantInnen am Beispiel von türkeistämmigen Studieren-den und AbsolventInnen – vorwiegend Angehörige der zweiten Migrantengeneration – in Deutschland. Er basiert auf den Ergebnissen einer Promotionsarbeit, in deren Rahmen im Zeitraum von 2004-2006 zwanzig biographisch-narrative Interviews mit bildungserfolgreichen MigrantInnen türkischer Herkunft im Alter zwischen 23-33 Jahren durchgeführt wurden.

Diese MigrantInnen waren StudentInnen und AbsolventInnen aus verschiedenen deutschen Universitäten und unterschiedlichen Fachrichtungen. Es handelte sich größtenteils um die Kinder der ersten Generation von ArbeitsmigrantInnen, die bis zum Jahre 1973 im Zuge der „Gast“-Arbeiteranwerbungsphase nach Deutschland eingewandert sind. Es handelt sich bei dieser Gruppe um sogenannte BildungsinländerInnen, die den größten Teil ihrer (schulischen) Sozialisation in Deutschland verbracht, das deutsche Bildungssystem erfolgreich durchlaufen und den Zugang zum Hochschulstudium erreicht haben. Das Sample stammt mehrheitlich aus „Gastarbeiterfamilien“ mit einem häufig niedrigen sozio-ökonomischen Status.

Ausgehend von einer biographietheoretischen Perspektive wird der Bildungserfolg in der genannten Studie im Gesamtkontext der Biographie sowie der Handlungsgeschichte der Subjekte erklärt. Mit einem rekonstruktiv-interpretativen Ansatz (vgl. Rosenthal 2005) fragt die Studie nach den biographischen Erfahrungs-, Verarbeitungs- und Handlungsmustern von bildungserfolgreichen MigrantInnen im Kontext gesellschaftlicher Vorgaben.

Zentrale Ergebnisse: Familie als besondere Ressource
Ein zentraler Befund der Studie ist, dass der Bildungserfolg der hier untersuchten Gruppe in einem engen Zusammenhang mit familialen Einflüssen, intergenerationalen Vermitt-lungsprozessen und Dynamiken steht. Einen besonders hohen Stellenwert hat die Herkunfts-familie für den Lebens- und Bildungsweg der bildungserfolgreichen MigrantInnen sowohl als prägende Sozialisationsinstanz als auch als Ressource für den Bildungserfolg  Die Familien- und Migrationsgeschichte und die damit verknüpften Einflüsse und Potentiale stehen in den rekonstruierten Lebensgeschichten der interviewten MigrantInnen verstärkt im Vordergrund. Ein zentraler Befund der Studie ist, dass der Bildungserfolg der hier untersuch-ten Gruppe in einem engen Zusammenhang mit familialen Einflüssen, intergenerationalen Vermittlungsprozessen und Dynamiken steht. Einen besonders hohen Stellenwert hat die Herkunftsfamilie für den Lebens- und Bildungsweg der bildungserfolgreichen MigrantInnen sowohl als prägende Sozialisationsinstanz als auch als Ressource für den Bildungserfolg. In diesem Sinne werde ich mich in diesem Artikel auf die Form und die Bedeutung von bildungsrelevanten Ressourcen in Migrantenfamilien türkischer Herkunft, die sich förderlich auf den Bildungserfolg der Nachkommen auswirken, konzentrieren und diese bildungsrelevanten Ressourcen in Anlehnung an Bourdieu (1983) als eine Form des inkorporierten kulturellen Kapitals beschreiben.

Allerdings ist es wichtig zu betonen, dass neben den innerfamilialen Ressourcen, die eine entscheidende Einflussgröße darstellen, weitere Faktoren eine wichtige Rolle spielen, wie z.B. die individuellen Kompetenzen und Potentiale der Migrantenjugendlichen, die subjektiven Erfahrungen und Einflüsse im schulischen Raum sowie die familialen und individuellen Lebenserfahrungen der MigrantInnen in der Einwanderungsgesellschaft. Die folgenden Aus-führungen stellen also nur einen Ausschnitt aus dem Gesamtzusammenhang der empirischen Erkenntnisse dar.

Familiale Bildungsaufträge
Zunächst ist auf die Bedeutung der intergenerationalen Transmission von Bildungsaufträgen für die Bildungsmotivation und -orientierung der MigrantInnen einzugehen, um dann die kon-kreten migrantenspezifischen familialen Unterstützungsformen exemplarisch darzulegen. Migration ist, wie im sechsten Bericht des Familienministeriums formuliert, ein Familienprojekt. Somit scheint sich die Bedeutung und Dichte von intergenerationalen Beziehungen in Familien durch Migrationsprozesse noch zu verstärken (vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2000).

In Bezug auf die hier untersuchten türkeistämmigen MigrantInnen kann man zusätzlich von einer „Migration als familiales Aufstiegsprojekt“ sprechen. Bereits mit der Migrationsentscheidung, nach Deutschland zu gehen, zeigt die Elterngeneration eine Orientierung an sozialer Mobilität auf (Roth u.a. 2003:56), die mit der geographischen Mobilität eingeleitet wird und langfristig auch eine Statustransformation herbeiführen soll. Das familiale Aufstiegspro-jekt ist eng an die intergenerationale Transmission von Bildungsaufträgen gekoppelt. So bildet die familiale Migrationsgeschichte einen prägenden biographischen Bezugsrahmen in den Lebensgeschichten und steht in einer Korrespondenz mit dem eigenen Bildungsaufstieg der untersuchten MigrantInnen

Hierzu das Beispiel von Leyla Güler, einer 23 Jahre alten Lehramtsstudentin, deren Eltern, wie viele andere Menschen dieser Generation,  über einen niedrigen sozio-ökonomischen Status verfügen, der sich vor allem in ihrer geringen Schulbildung ausdrückt. Dennoch hegen sie hohe familiale Bildungsaspirationen, die auf die Nachfolgegeneration übertragen werden. Leyla Güler bekommt früh die hohen elterlichen Bildungserwartungen, insbesondere der Mutter, zu spüren.

Leyla Güler:
 „also meine Eltern ((hustet)) so die Ambition dass ich halt studiere und so das kommt alles von meinen Eltern also die haben mich da sehr unterstützt bzw. auch sehr viel Druck ge-macht weil denen das ganz wichtig war also (2) seit meiner Kindheit das Einzige was meine Mutter immer sagt ist ähmm ihr seid hier habt die Möglichkeiten werdet nicht solche Fabrik-arbeiter wie wir sondern nutzt eure Chance und macht was aus eurem Leben“ (2/11-16)

Frauen in der Familie fordern und fördern Bildungserfolge
Der Befund der intergenerationalen Transmission von Bildungsaufträgen kann noch weiter präzisiert werden. Die Transmission vollzieht sich vor allem in der weiblichen Linie, denn es sind in erster Linie die Frauen in den Familien (Mütter, Tanten, Schwestern), von denen sowohl die hohen Bildungsaspirationen als auch die aktive schulische Motivation und Förderung ausgehen. Das bedeutet, dass insbesondere die Frauen in den Familien in Bezug auf den Bildungserfolg der Nachkommen eine handlungsleitende Rolle einnehmen. Die Aufstiegswünsche der Mütter, die vielfach schon im Herkunftsland nicht erfüllt bzw. eingeschränkt wurden, gehen durch ihre Migration ebenfalls nicht in Erfüllung, wodurch sich die familialen Bildungsaufträge an die Nachkommen in der Migration verstärken (vgl. Leenen u.a. 1990, Boos-Nünning/ Karakasoglu 2004).

Die intergenerationale Transmission von Bildungsaufträgen steht daher in einem engen Zusammenhang mit der Einschränkung bzw. Verhinderung von Bildung. Dies betraf insbesondere die Frauen in früheren Generationen. Neben den Männern/Vätern, denen ebenfalls aufgrund sozio-ökonomischer Bedingungen der Bildungsweg versperrt worden ist, sind vor allem die Frauen zusätzlich durch patriarchalische Strukturen ihrer Herkunftsgesellschaft vermehrt vom Bildungserwerb ausgeschlossen. Diese Einflüsse und Zusammenhänge sollen anhand des folgenden Beispiels veranschaulicht werden.

Die Mutter von Ayse Balkan, einer 35 Jahre alten Jurastudentin, stellt innerhalb der Familie die aktive Entscheidungs- und Handlungsperson dar und hat in vielerlei Hinsicht Vorbildcharakter für Ayse. Insbesondere für die Bildungsmotivation der Biographin spielt die Mutter eine wichtige Rolle, und zwar sowohl durch die Erfahrung ihrer eigenen Bildungsverhinderung als auch durch die bildungsbezogene Motivation und das Bemühen gegenüber ihren Kindern. In der Fallrekonstruktion wird bei dieser Biographin der Einfluss einer intergenerationalen Transmission von weiblichen Bildungsaufträgen sehr deutlich und geht gleichzeitig mit einem mütterlichen Emanzipationsschub einher.

Ayse Balkan:
„ ...ja meine Mutter selbst konnte nicht zur Schule gehen (1) sie durfte nicht weil sie eine Frau war (2) und ähm (3) und ich ich ihr müsst euch vorstellen Leute ((beugt sich vor zum Aufnahmegerät)) oder du musst dir vorstellen ((lacht)) mein jüngste Tante (3) ist äh hat ähm (3) ist zur Schule gegangen in die Grundschule aber ((laut)) heimlich stellt euch stell dir das mal vor (1) sie ist heimlich zur Schule gegangen damit sie lesen und schreiben ähh äh lernen durfte (3) und ich mein nach dieser Geschichte ähh erübrigt sich erübrigt sich eigentlich die Frage warum man äh warum man ähh warum man dann halt irgendwie im Leben weiter kommen möchte…“(4/32-40)

Die Ressource Geschwister
Ein weiterer Befund dieser Studie ist die besondere Bedeutung und Funktion von Geschwis-tern bezüglich des Bildungserfolgs. In einigen Arbeiten wurde bereits auf der Ebene von Solidarpotentialen auf die Bedeutung von Geschwisterbeziehungen in Migrantenfamilien aufmerksam gemacht (vgl. Nauck/Kohlmann 1998:217, Boos-Nünning/ Karakasoglu 2004:250ff.). Jedoch wurde der spezifische Einfluss der Geschwister auf den Bildungserfolg bisher nicht eingehend herausgearbeitet. In Migrantenfamilien türkischer Herkunft bilden Geschwister eine besondere Ressource bezüglich des Bildungserfolgs, indem sie schulische Betreuungs- und Platzierungsaufgaben übernehmen und eine effektive Vorbildfunktion aus-üben. Gerade in der Migrationssituation übernehmen vorwiegend ältere Geschwister bei feh-lender elterlicher Präsenz die Rolle von Ersatzeltern. Sie werden so zu Bezugspersonen und Orientierungsfiguren für die Jüngeren und begleiten oft über Jahre hinweg die Bildungswege der jüngeren Geschwister.

Bedri Ayhan, 24 Jahre alter Jurastudent und das jüngste von vier Kindern, nimmt aufgrund der mangelnden Präsenz der Eltern seine beiden älteren Schwestern als Ersatzeltern wahr, die sich insbesondere um seine schulische Leistungsfähigkeit bemühen.

Bedri Ayhan:
 „daa hat`s halt auch angefangen so von wegen Schule ist wichtig und so weiter (2) und zu der Zeit haben meine Eltern auch einen türkischen Laden gehabt (2) uund also die waren nie=nie zu Hause also ich=ich wurd eigentlich mehr von meinen Geschwistern erzogen als von meinen Eltern // hmm // weil die halt nur am Arbeiten waren und ähh (4) bei mir war=war`s schulisch eigentlich so ich hab eigentlich nie Lust gehabt (2) oder besser gesagt ich war echt faul  // hm // also schon in der Grundschule hat es angefangen und dann auch in der äh (2) auf auf der Gesamtschule (2) das Problem war halt nur ich hatte immer Druck ge-habt von meinen Geschwistern meine Schwestern immer hier mach mach mach (2) meine Mutter war immer so; schulisch hat sie mir nie was gesagt das war immer so (2) sie hat bei meiner Schwester angerufen (2) der Bedri macht nie keine Hausaufgaben oder der lernt nie oder wir kriegen Anrufe (1) dann haben die bei mir angerufen und mich dann zur Sau gemacht am Telefon“ (19/ 25-36)

Zugleich fungieren die älteren Geschwister auch als MediatorInnen zwischen den elterlichen Leistungserwartungen und den Bedürfnissen und Orientierungen der Jüngeren. In vielen Fällen tragen sie zu wichtigen Entscheidungen bei schulischen Übergängen bei oder setzen sich individuell für die schulische Begleitung der Geschwister aktiv ein. Die bildungserfolgreichen Geschwister haben ebenso einen enormen Einfluss als PionierInnen, die den Jüngeren lebensnah vermitteln, dass der Erfolg möglich ist.

Migrantenspezifisches Bildungskapital
In den Herkunftsfamilien gibt es migrantenspezifische Bildungsleistungen und Unterstüt-zungsformen, die den Verlauf des Bildungsaufstiegs begünstigen. Die interviewten MigrantInnen haben hohe Bildungsaspirationen in vielfältiger Weise im familialen Rahmen vermittelt bekommen und verinnerlichen. Die Familien versuchen auf der Basis ihrer Potentiale eine bildungsfördernde Atmosphäre zu schaffen und versuchen Präsenz und Engagement in schulischen Angelegenheiten zu vermitteln. Allerdings sind die Mittel und Wege, eine bildungsfördernde Atmosphäre zu erzeugen und schulische Unterstützung zu geben, je nach den zur Verfügung stehenden Ressourcen in den Familien unterschiedlich gestaltet. Während einige Eltern dabei gemäß ihrer Kompetenzen Kontrolle und Druck ausüben, versuchen andere, die Kinder für die Schule zu motivieren und sie darauf zu konzentrieren. Wieder andere Eltern versuchen, so gut es geht, inhaltliche Hilfen zu geben, in dem sie bspw. in der Vorschulzeit eine Alphabetisierung der Kinder vorantreiben, sie zum Lesen in der Herkunftssprache motivieren oder gemeinsam mit ihnen Aufgaben lösen. Einige Eltern setzen sich trotz ihrer mangelnden Sprachkenntnisse gegenüber schulischen Empfehlungen durch oder verhindern das Zurückstellen ihrer Kinder beim Schuleintritt.

Das folgende Beispiel von Murat Tan, einem 25 Jahre alten Jurastudenten, zeigt, dass Eltern trotz sehr geringer eigener Deutschkenntnisse regelmäßig die Hausaufgaben und Klausuren ihrer Kinder kontrollieren können, um sie auf diesem Wege auf die Schule zu konzentrieren.

Murat Tan:
„die Schule war in dem Sinne auch im Vordergrund auch für meine Eltern (1) also meine El-tern haben sehr sehr viel Wert darauf gelegt dass die Hausaufgaben gemacht werden (2) sie konnten zwar nicht kontrollieren was gemacht wurde; es hieß hier zeig mal her was du gemacht hast aber es war nur so´n durchblättern durchschauen (2) weil sie bisher immer noch sehr sehr wenig Deutsch können also fast gar kein Deutsch (3) sie wollten wirklich sehen dass du am Schreibtisch sitzt und was machst“(5/ 10-16)

Diese und andere Bildungsleistungen in den Migrantenfamilien fungieren als spezifische Ressourcen, die sich gemäß der verfügbaren Kompetenzen der jeweiligen Familie gestalten und oft von außen nicht immer gleich sichtbar sind.

Bildungsrelevante Ressourcen in Migrantenfamilien als inkorporiertes kulturelles Kapital
Eine der wichtigsten Erklärungen für den Zusammenhang von sozialer Herkunft und Bildungschancen liefert der kapitaltheoretische Ansatz von Pierre Bourdieu (vgl. 1983). Ihm folgend kann argumentiert werden, dass der Schulerfolg eines Kindes von den in der Herkunftsfamilie verfügbaren ökonomischen, kulturellen und sozialen Kapitalien (2) abhängt. Je höher die Verfügbarkeit dieser Kapitalien in der Herkunftsfamilie ist, desto höher sind die Chancen und Möglichkeiten auf eine erfolgreiche Bildungslaufbahn. Insbesondere das kulturelle Kapital (3) bzw. die Transmission von kulturellem Kapital in der Familie ist für den „Bildungserfolg“ von besonderer Relevanz. Bourdieu verweist in seiner Abhandlung auf die Bedeutung der familiären Erziehung für die Akkumulation von kulturellem Kapital. In Abgrenzung zu VertreterInnen der Humankapitaltheorie betont er die Wichtigkeit der „Transmission kulturellen Kapitals in der Familie“ und bezeichnet diese als die „am besten verborgene und sozial wirksamste Erziehungsinvestition“ (Bourdieu 1983:186).

Es existiert in den Herkunftsfamilien der untersuchten MigrantInnen weder institutionalisiertes kulturelles Kapital in Form von hohen Bildungs- und Berufsabschlüssen der Eltern noch kulturelles Kapital in objektivierter Form (d.h. in Form von Objekten der Majoritätskultur). Ihr Kapital ist dem inkorporierten kulturellen Kapital am nächsten, da es sich in Form von Orientierungen, Fertigkeiten, Werten und Bemühen zeigt. Ich habe diese Ressourcen als Formen eines migrantenspezifischen Bildungskapitals – und in Anlehnung an Bourdieu als eine Form des inkorporierten kulturellen Kapitals - beschrieben.

Es existiert also in den Familien ein migrantenspezifisches kulturelles Kapital in inkorporierter Form, dass sich einerseits in positiven Bildungseinstellungen und hohen Bildungsaspirationen der Familien und andererseits in einem migrationsspezifischen Bemühen um schulische Motivation und Unterstützung gegenüber den Kindern äußert. Zentral sind der Einfluss auf und die Prägung der Kinder durch eine intergenerationale Transmission in der familiären Sozialisation, die über eine familiale positive Bildungshaltung, intergenerative Bildungsaufträge und ausgeprägte Bildungsaspirationen an die Folgegeneration vermittelt werden.

Diese Bildungsaspirationen werden über einen längeren Zeitraum hinweg, wie auch Bourdieu betont, in familiären Interaktionen und Transmissionsprozessen innerhalb der familiären Sozialisation häufig auch implizit vermittelt und von den Kindern und Jugendlichen im sozialisatorischen Verlauf internalisiert. Mobilitätsorientierungen, die über intergenerationale Transmission vermittelt werden, können als eine Form von inkorporiertem kulturellen Kapital betrachtet werden und begünstigen die Bildungsmotivation der nachkommenden Generation.

Die migrantenspezifischen Ressourcen zur schulischen Förderung sind mit den Platzierungs-leistungen der autochthonen Bevölkerung nicht zu vergleichen, da diese Ressourcen einerseits vor dem Hintergrund von Migrationserfahrungen erwachsen und andererseits aufgrund fehlender gesellschaftlicher Anerkennung in der Migrationssituation begrenzt sind. Aus die-sem Verständnis heraus, haben bildungsrelevante Ressourcen in Migrantenfamilien nicht nur besondere Formen, sondern auch einen besonderen Stellenwert.

Fazit
Abschließend möchte ich angesichts des eingangs genannten defizitorientierten Mainstreams gegenüber MigrantInnen im schulpädagogischen und gesellschaftlichen Rahmen die Existenz und Bedeutung von bildungsrelevanten Ressourcen in Migrantenfamilien hervorheben. Es ist an der Zeit, einen Perspektivwechsel anzusteuern und zwar in doppelter Hinsicht: Wichtig vor allem im schulischen Bereich wäre eine Distanzierung vom öffentlichen Problemdiskurs und von defizitären Pauschalannahmen gegenüber Migrantenkindern und ihren Familien einerseits und eine differenziertere Wahrnehmung und Anerkennung von spezifischen, hete-rogenen Ressourcen und Potentialen bei MigrantInnen andererseits. 

Eine der wichtigsten Erkenntnisse der vorliegenden Studie ist neben der Erfassung von Potentialen und Kompetenzen von bildungserfolgreichen MigrantInnen die Analyse von konkreten innerfamilialen Ressourcen im Hinblick auf dem Bildungserfolg. Im vorliegenden Beitrag wurden einige dieser bildungsrelevanten Ressourcen vorgestellt, die häufig in einer spezifischen Form und Gestalt in Migrantenfamilien vorhanden sind. Einen besonders hohen Stellenwert hat dabei die Herkunftsfamilie für den Lebens- und Bildungsweg der bildungserfolgreichen MigrantInnen sowohl als prägende Sozialisationsinstanz als auch als Ressource für den Bildungserfolg. Die Mobilisierung familialer Ressourcen in ihren unterschiedlichen For-men zeigt, zu welchem Einsatz und Engagement die Familien fähig sind, um ihre Kinder schulisch zu unterstützen und welchen Stellenwert dabei innerfamiliale Ressourcen für die Nachkommen haben.

Fußnoten
(1) 
Mit Bildungserfolg ist in der vorliegenden Arbeit der Zugang zum Hochschulstudium, nach dem erfolgreichen Erwerb einer deutschen Hochschulzugangsberechtigung, gemeint. Die betreffende Gruppe hat mit dem Abitur den höchstmöglichen Schulabschluss erreicht und gilt im Vergleich zu der zah-lenmäßig größeren Gruppe von Kindern und Jugendlichen türkischer Herkunft in Haupt- und Sonderschulen als bildungserfolgreich. Der Bildungserfolg bezieht sich lediglich auf den erreichten Bildungsgrad und nicht auf die zukünftigen Berufs- und Statuspositionen.
(2) Bourdieu unterscheidet das ökonomische, das kulturelle und das soziale Kapital voneinander. Zum ökonomischen Kapital gehören die verschiedenen Formen des materiellen Reichtums (also nicht nur der Besitz von Produktionsmitteln) wie beispielsweise Vermögen, Sachwerte und Eigentumstitel. Als soziales Kapital wird die „Gesamtheit der aktuellen und potentiellen Ressourcen, die mit dem Besitz eines dauerhaften Netzes von mehr oder weniger institutionalisierten Beziehungen gegenseitigen Kennens und Anerkennens verbunden sind“, bezeichnet (Bourdieu 1992:63). Beim sozialen Kapital handelt es sich mithin „um Ressourcen, die auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruhen“ (Bourdieu 1983:190f.).
(3) Das kulturelle Kapital existiert in drei Ausformungen. Institutionalisiertes Kulturkapital sind Bildungstitel und -zertifikate, die durch anerkannte Institutionen verliehen werden. Objektiviertes kulturelles Kapital sind materielle Güter wie Bilder, Bücher oder Instrumente. Dieses Kapital ist übertragbar (materielle Aneignung), erfordert aber entsprechendes inkorporiertes Kulturkapital (Kunst- und Kulturverständnis), um darüber zu verfügen. Als inkorporiertes kulturelles Kapital gelten nach Schwingel Wissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten. „Kulturelles Kapital in inkorporierter Form sind sämtliche kulturelle Fähigkeiten, Fertigkeiten und Wissensformen, die man durch Bildung – freilich in einem sehr allgemeinen, nicht nur im schulisch-akademischen Sinne – erwerben kann“ (Schwingel 1998:84).

Literatur

  • Auernheimer, G. (1988): Der sogenannte Kulturkonflikt. Orientierungsprobleme ausländischer Jugendlicher. Frankfurt a.M.: Campus.
  • Bielefeldt, U. (1982): Junge Ausländer in Konflikt: Lebenssituation und Überlebensformen
    in Deutschland. München: Juventa.
  • Boos-Nünning, U./ Karakasoglu, Y. (2004): Viele Welten leben. Zur Situation von Mädchen und jungen Frauen mit Migrationshintergrund. Münster: Waxmann.
  • Bukow, W-D. / Heimel, I. (2003): Der Weg zur qualitativen Migrationsforschung. In: Badawia, T./ Hamburger, F./ Hummrich, M. (Hrsg.): Wider die Ethnisierung einer Generation. Beiträge zur qualitativen Migrationsforschung. Frankfurt a.M.: IKO-Verlag, 13-41.
  • Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) (Hrsg.)(2000): Fa-milien ausländischer Herkunft in Deutschland: Leistungen, Belastungen, Herausforderungen. Sechster Familienbericht. Berlin: Eigenverlag.
  • Bourdieu, P. (1983): Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital.
    In: Kreckel, R.: Soziale Ungleichheiten. Soziale Welt, Sonderband 2. Göttingen: Schwartz & Co., 183-198.
  • Bourdieu, P. (1992): Die verborgenen Mechanismen der Macht. Hamburg: VSA.
  • Czock, H. (1993): Der Fall Ausländerpädagogik. Erziehungswissenschaftliche und
    bildungspolitische Codierung der Arbeitsmigration. Frankfurt a.M.: Cooperative-Verlag.
  • Herwartz-Emden, L. (1997): Die Bedeutung der sozialen Kategorien Geschlecht
    und Ethnizität für die Erforschung des Themenbereichs Jugend und Einwanderung. In: Zeit-schrift für Pädagogik, 43, 895-913.
  • Neumann,U./ Karakasoglu,Y. (2001): Bildungsinländerinnen und Bildungsinländer - Situation, Datenlage und bildungspolitische Anregungen. In: Materialien des Forum Bildung. Bildung und Qualifizierung von Migrantinnen und Migranten. Anhörung des Forum Bildung in Zu-sammenarbeit mit der Beauftragten der Bundesregierung für Ausländerfragen vom 21.06.2001. Berlin, 61-74.
  • Kohnen, B. (1998): Akkulturation und kognitive Kompetenz; ein Beitrag zu einem grundla-gentheoretischen Perspektivenwechsel in der sozialisationstheoretischen Migrationsfor-schung. Münster: Waxmann.
  • Leenen, W-R. / Grosch, H./ Kreidt, U. (1990): Bildungsverständnis, Plazierungsverhalten und Generationskonflikte in türkischen Migrantenfamilien. In: Zeitschrift für Pädagogik, 36 (5), 735-771.
  • Mertens, G. (1981): Strukturen türkischer Migrantenfamilien in ihrer Heimat und in der Bun-desrepublik Deutschland. AGG-Materialen zum Projektbereich: Ausländische Arbeiter, 2 (3). Berlin, 9-133.
  • Nauck, B. / Kohlmann, A. (1998): Verwandtschaft als soziales Kapital – Netzwerkbeziehun-gen in türkischen Migrantenfamilien. In: Wagner, M./ Schütze, Y. (Hrsg.): Verwandtschaft. Sozialwissenschaftliche Beiträge zu einem vernachlässigten Thema. Stuttgart: Enke, 203-235.
  • Nieke, W. (1991): Familiäre Sozialisations-, soziale Integrations- und Identitätsprobleme aus-ländischer Kinder und Jugendlicher in der Bundesrepublik Deutschland: Vorschule, Schule, Berufsausbildung, Freizeit, Kriminalität. In: Lajios, K. (Hrsg.): Die zweite und dritte Auslän-dergeneration. Opladen: Leske & Budrich.
  • Ochse, G. (1999): Migrantinnenforschung in der Bundesrepublik Deutschland und
    in den USA. Oldenburg: Bibliotheksinformationssystem Oldenburg
  • Pott, A. (2002): Ethnizität und Raum im Aufstiegsprozess der zweiten Generation. Opladen: Leske & Budrich.
  • Rosenthal, G. (2005): Interpretative Sozialforschung. Eine Einführung. München: Juventa.
  • Roth, H./ Neumann, U. / Gogolin, I. (2003): Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Expertise für die Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung. BLK-Materialien zur Bildungsplanung und Forschungsförderung. Heft 107. Bonn
  • Schwingel, M. (1998): Bourdieu zur Einführung. Frankfurt: Suhrkamp.

 

 

Bild entfernt.

 

Ebru Tepecik hat an der Universität Göttingen Pädagogik, Soziologie und Turkologie studiert und im Fach Soziologie promoviert. Aktuell arbeitet Sie beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge.