von Sheila Mysorekar
Während der letzten Fußball-Weltmeisterschaft habe ich öfters mal im Internet bei rechtsradikalen Foren nachgeschaut. Nur zum Spaß. Dort konnte man nämlich den Konflikt verfolgen, der unter den Neonazis ausbrach, wenn sie über die deutsche Nationalmannschaft diskutierten. Sie waren natürlich begeistert von den Toren von Mesut Özil oder Sami Khedira, nur zugeben konnten sie es nicht. Mal schrieb einer von der großartigen Leistung von Boateng oder Khedira oder Özil, und irgendein anderer Nazi konterte dann, dass das eigentlich verdammte Ausländer seien, aber da kam doch immer die Replik, trotzig-verschämt, Hauptsache, dass es Tore für die deutsche Mannschaft gäbe, und überhaupt… Wenn es um Fußball ging, schafften selbst die Rechtsradikalen nicht, striktes Germanentum zu zelebrieren. Mesut Özil war halt der Beste. Der beste Deutsche - und das als Türke.
In diesen rechtsradikalen Fußballforen spiegelte sich die öffentliche Diskussion darüber, wer und was eigentlich deutsch ist: Kann Mesut Özil, ein Türke, der beste deutsche Nationalspieler sein? Unglaublich! So was hatten wir ja noch nie! Dahinter steht ein stiller Konsens darüber, dass ethnische Minderheiten in Deutschland relativ neuen Datums sind, dass sie hier auftauchten mit der Einwanderung in den 60er und 70er Jahren, etwa die Arbeitsmigranten aus Italien, Spanien und der Türkei, oder die Flüchtlinge aus Asien und Afrika. Konsens ist, dass ethnische Minderheiten eigentlich nicht zu diesem Land gehören, das heißt, dass sie nicht wirklich deutsch sind. Das dahinter stehende Konzept: Deutschland sei‚ ursprünglich ein ethnisch homogenes Land, bewohnt von weißen Menschen, nicht unbedingt alle blond und blauäugig, aber das Prinzip gilt schon.
Die Tatsachen sehen jedoch anders aus. Deutschland war bis zur Nazizeit keineswegs ethnisch homogen. Schauen wir uns nur mal die Zeit der Weimarer Republik an, die 1920er Jahre: Russen und Osteuropäer generell gehörten zu den ständigen Bewohnern Deutschlands, aber auch Menschen aus anderen Kontinenten. Nur um ein paar Beispiele zu nennen: Es gab in den 20er Jahren in Berlin einen Verein chinesischer Studenten, und in dieser Zeit kamen auch die ersten Afghanen nach Deutschland. Hamburg war stolz auf sein Chinesenviertel. Im Rheinland lebten damals Afrodeutsche, Nachkommen der Schwarzen französischen Soldaten, die nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland stationiert waren. Polnische Arbeiter schufteten in den Bergwerken des Ruhrgebietes. Man konnte also an vielen Orten verschiedene Sprachen hören, und Gesichter in vielen Farben sehen.
Und Deutschland war ein multireligiöses Land: mit Christen, Juden, und übrigens auch Moslems. Schon 1732 ließ Friedrich Wilhelm I. die erste Moschee auf deutschem Boden bauen - für eine Gruppe türkischer Garnisonssoldaten. 1762 war ein islamisches Korps Teil der preußischen Armee. Seit 1798 gab es in Berlin einen islamischen Friedhof. 1807 kämpften deutsche Muslime für Preußen gegen Napoleon, wohlgemerkt: deutsche Muslime!
Wenn also der frühere Bundespräsident Wulff gesagt hat, der Islam gehöre zu Deutschland, dann hat er nur eine historische Tatsache festgestellt. Der Islam gehört schon lange zu Deutschland, lang vor der Immigration von muslimischen Türken und Kurden in den 1970er Jahren. Weswegen also die Aufregung?
Das heißt, Deutschsein bedeutete durchaus nicht immer automatisch ‚weiß und christlich’. Erst seit den Jahren des Faschismus, durch die gewaltsamen ethnischen Säuberungen der Nazizeit, denen die ethnischen, religiösen sowie sexuellen Minderheiten (und politische Oppositionelle) zum Opfer fielen, nur dadurch wurde Deutschland in der Tat zu einem Land mit vorherrschend weißen und christlichen Bewohnern. Verglichen mit der Weimarer Republik, dem Kaiserreich oder selbst mit der Zeit des Dreißigjährigen Krieges war das völlig neu.
Diese unnatürliche Situation der ethnischen Homogenität dauerte rund 20 Jahre, zwischen etwa 1944 und 1961. Das heißt, die nachfolgende Einwanderung stellte nur einen Zustand her, der in Deutschland vorher schon bestanden hatte, und der eigentlich ganz natürlich war, nämlich die Multikulturalität seiner Einwohner. Deutschland liegt in der Mitte des Kontinents, alle Wege und Kriegszüge kreuzen sich hier, alle Völker Europas hinterließen hier ihre Spuren, auch in dem Genpool der Einwohner. Deutschland ist die ‚Kelter Europas’, wie es der Schriftsteller Carl Zuckmayer formulierte. Dazu ein Zitat aus dem Theaterstück ‚Des Teufels General’ von Carl Zuckmayer, geschrieben im Jahr 1942. In einer Szene macht sich Offizier Hartmann Sorgen über seine nicht reinrassig ‚arische’ Abstammung. General Harras antwortet ihm mit folgendem Monolog:
(Sie kommen) vom Rhein. Von der großen Völkermühle. Von der Kelter Europas! Und jetzt stellen Sie sich doch mal Ihre Ahnenreihe vor – seit Christi Geburt. Da war ein römischer Feldhauptmann, ein schwarzer Kerl, braun wie ne reife Olive, der hat einem blonden Mädchen Latein beigebracht. Und dann kam ein jüdischer Gewürzhändler in die Familie, das war ein ernster Mensch, der ist noch vor der Heirat Christ geworden und hat die katholische Haustradition begründet. Und dann kam ein griechischer Arzt dazu, oder ein keltischer Legionär, ein Graubündner Landsknecht, ein schwedischer Reiter, ein Soldat Napoleons, ein desertierter Kosak, ein Schwarzwälder Flözer, ein wandernder Müllerbursch vom Elsass, ein dicker Schiffer aus Holland, ein Magyar, ein Pandur, ein Offizier aus Wien, ein französischer Schauspieler, ein böhmischer Musikant – das hat alles am Rhein gelebt, gerauft, gesoffen und gesungen und Kinder gezeugt – und der Goethe, der kam aus demselben Topf, und der Beethoven, und der Gutenberg, und der Matthias Grünewald. Es waren die Besten, mein Lieber! Die Besten der Welt! Und warum? Weil sich die Völker dort vermischt haben.
Carl Zuckmayer macht sich lustig über den Rassenwahn der Nazis. Gleichzeitig steckt aber eine wichtige Botschaft darin – nämlich dass es keine ‚reinrassige’ Gesellschaft gibt. Nicht in Deutschland, und auch nirgendwo sonst.
Eine Freundin von mir ist Schwarze Berlinerin. Sie ist Afrodeutsche, und zwar in der vierten Generation. Ihre Vorfahren waren allesamt Afrodeutsche, bis hin zu einem Urgroßvater, der aus Kamerun stammte. Ihr Urgroßvater also lebte als afrikanischer Einwanderer im Kaiserreich, ihre Großmutter als Afrodeutsche in der Nazizeit, die einen afrikanischen Migranten heiratete, ihre Mutter wurde groß im Nachkriegsdeutschland, und sie selbst wuchs in den 60er und 70er Jahren in Westberlin auf. Ihre kleine Tochter ist ebenfalls schwarze Berlinerin - schon die fünfte Generation! - geboren nach dem Mauerfall. Es ist im Falle meiner Freundin also völlig absurd, von ‚Migrationshintergrund’ zu sprechen. Sie ist halt Schwarze Deutsche.
Aber das ist nichts Ungewöhnliches. Belegtermaßen lebten schon früher Schwarze in Deutschland; zum Beispiel unterrichtete im 18.Jahrhundert der Westafrikaner A.W. Amo als Philosophiedozent an den Universitäten Halle, Wittenberg und Jena. Noch ein Beispiel: Albrecht Dürer zeichnete ein Portrait eines Äthiopiers, der 1508 als Angestellter in einem der großen Handelshäuser von Augsburg tätig war, also einen Schwarzen Mannes, der ganz normal am deutschen Arbeitsleben jener Zeit teilhatte.
Wenn all diese Menschen Teil der deutschen Geschichte sind, was um aller Welt soll also heutzutage die Diskussion darüber, wie viel Einwanderung Deutschland vertragen kann? Dass zu viele ‚Ausländer’ hier leben und die deutsche Kultur ‚unterwandern’? Ausländer mit angeblich ach so fremden Kulturen, die außerstande sind, sich der deutschen Kultur und den hiesigen Gegebenheiten anzupassen? Nur weil sie nicht weiße Nordeuropäer sind?
Ein entscheidender Punkt ist, dass Deutschsein mit ‚Weißsein’ gleichgesetzt, und zum Zweiten, dass der Begriff ‚deutsche Kultur’ sehr eng gefasst wird, so dass von der Dominanzkultur abweichende kulturelle Merkmale als nicht kompatibel gelten. Das Problem ist, dass ‚Integration’ mit Assimilierung verwechselt wird. Das ist aber nicht dasselbe. Der Begriff Integration bedeutet in der Soziologie die Ausbildung einer Wertgemeinsamkeit mit einem Einbezug von allen Gruppierungen, oder einer Lebensgemeinschaft mit einem Einbezug von Menschen, die aus den verschiedensten Gründen von dieser ausgeschlossen waren. Integration hebt den Zustand der Exklusion und der Separation auf. Integration beschreibt den dynamischen Prozess des Zusammenwachsens.
Aha. Das heißt also auf Deutsch, dass alle Menschen – zum Beispiel in Deutschland - die die gleichen Werte vertreten – zum Beispiel Demokratie und Menschenrechte - zu der Gemeinschaft dazugehören. Auch Menschen, die vorher nicht dazu gehörten – zum Beispiel, weil sie vorher woanders wohnten oder auch nicht in einer Demokratie lebten, also nicht wählen durften. Diese Leute gehören bei einer gelungenen Integration, nämlich sobald sie die gleichen Werte vertreten, dann auch dazu. Alle wachsen zusammen, und alles ist gut.
Aber mit den Werten ist das so eine Sache. Ob jemand als integriert gilt oder nicht, wird in der Praxis nämlich gar nicht an den Werten der Menschen festgemacht. Die Tatsache, dass Leute hier ganz normal leben, zur Schule gehen, arbeiten, Tagesschau gucken, Fußball spielen, Steuern zahlen - sogar wählen würden, wenn man sie denn ließe,, das gilt alles nicht, sondern entscheidend für eine ‚gelungene Integration’ gelten Dinge, die eigentlich mit Werten, wie sie im Grundgesetz formuliert sind, nichts zu tun haben: zum Beispiel die Kopfbedeckung. Wie die alles entscheidende Frage, Kopftuch oder nicht? Ob jemand ‚deutsch genug’ ist, um dazuzugehören, macht sich also an der Kopfbedeckung fest. Das ist absurd, macht aber eines deutlich: Wenn sie von ‚Integration’ reden, meinen viele weiße Deutsche eigentlich ‚Assimilierung’.
Bemühen wir noch mal das Lexikon:
Assimilation (auch Assimilierung) bezeichnet in der Soziologie die Verschmelzung verschiedener gesellschaftlicher Gruppen miteinander. Empirisch steht die Verschmelzung einer Minderheit mit der Mehrheit im Vordergrund. Assimilation kann auf kultureller (Übernahme von Sprache, Bräuchen und Sitten), struktureller (Platzierung auf dem Arbeitsmarkt, im Schulsystem u. ä.), sozialer (Kontakt zu Mitgliedern anderer Gruppen) und emotionaler Ebene erfolgen. Umstritten ist, ob es sich beim Konzept der Assimilation um ein gezieltes ‚Aufzwingen’ der Eigenschaften und Einstellungen der dominanten Gesellschaft (‚Dominanzkultur’) handelt oder ob Assimilation lediglich empirische Voraussetzung zur Erreichung gleicher Lebenschancen darstellt, ohne dass damit eine Wertung der Eigenschaften von Minderheiten verbunden wäre. Üblicherweise wird mit der Assimilation von Einwanderern die Annahme der Sprache (bei gleichzeitiger Aufgabe ihrer eigenen) und der Gebräuche ihres Aufnahmelandes verbunden.
Zentral hierbei ist der Begriff Dominanzkultur. Die Kultur, das heißt Sprache, Religion, Essgewohnheiten etc. der Mehrheitsbevölkerung wird als die erstrebenswerte dargestellt, die die Einwanderer für sich annehmen müssen, wenn sie ‚dazugehören’ wollen. Ihre Kultur, die sie mitbringen, gilt damit als per se unterlegen und nicht wert, weiter beibehalten zu werden. Sicherlich ist es erstrebenswert, wenn alle Menschen, die in Deutschland leben, auch deutsch sprechen. Aber weswegen sollten sie ihre eigene Sprache aufgeben, oder warum sollten sie ihre Kinder nicht zweisprachig erziehen?
Hier jedoch kommt die Hierarchisierung der Sprachen und der Herkunftskulturen zum Tragen. Niemand verlangt nämlich von eingewanderten Engländern oder Franzosen, dass sie ihre Sprache aufgeben sollten, und in diesem Falle wird es als positiv angesehen, wenn sie ihre Kinder zweisprachig erziehen. Das gilt aber nicht für Türkisch oder Arabisch. Hier wird als Fortschritt angesehen, wenn türkische oder arabische Familien zuhause deutsch sprechen. Von manchen Einwanderern wird also Assimilierung verlangt, von anderen (west- und nordeuropäischen) Einwanderern nicht. Integration ist aber eigentlich etwas ganz anderes. Erinnern wir uns: Integration heißt, die Einbeziehung verschiedener Gruppen in eine Werteinheit, also eine Gemeinschaft, die die gleichen Werte vertritt. Mit Sprachen oder Kopfbedeckungen hat das nichts zu tun.
Die Wissenschaftlerin Naika Foroutan von der Humboldt-Universität Berlin schreibt dazu:
Integrationsverweigerung, kulturelle Inkompatibilität und Unfähigkeit des Bildungsaufstiegs werden als unveränderbare Merkmale dieser Andersaussehenden offen diskutiert. Wir müssen über Rassismus sprechen in unserem Land. Wir müssen ihn als Realität anerkennen, als Bedrohung für uns alle - nicht nur für Menschen mit Migrationshintergrund.(Wir müssen diskutieren über die) Gründe für die Ängste eines großen Teils der Bevölkerung vor "Überfremdung", die jetzt kulturelle Unvereinbarkeit heißt, über die emotionale Weigerung, Deutschlands Vielfalt anzunehmen. 47 Prozent der Menschen in Deutschland sind laut repräsentativen Umfragen der Meinung, es leben zu viele Ausländer hier.
Der Grund für diese Ängste vor dem ‚Fremden’ heißt Rassismus. Das ist nicht der gewalttätige Rassismus von Neonazigruppen, die Schwarze verprügeln und Türken ermorden, sondern der alltägliche Rassismus, der sich in vielen kleinen Dingen findet.
Es beginnt damit, dass von ‚Fremden’ die Rede ist. Aber – wie im Beispiel der Schwarzen Berlinerin der vierten Generation – die meisten Andersaussehenden sind überhaupt nicht fremd. Sie sind hier geboren, oder leben schon sehr lange hier, oder sind sowieso seit vielen Generationen Deutsche. Sie aufgrund ihrer Hautfarbe oder ihres ethnischen/religiösen Hintergrundes als ‚Fremde’ zu bezeichnen, grenzt Menschen bewusst aus, die eigentlich ganz selbstverständlich zu Deutschland gehören. Nämlich weil sie Deutsche sind. Vielleicht haben sie den deutschen Pass, vielleicht auch nicht, aber sie sind ganz und gar nicht fremd hier. Durch das antiquierte deutsche Staatsbürgerrecht, wo nicht jedeR, der oder die in Deutschland geboren wird, automatisch deutsche Nationalität bekommt, sondern Staatsbürgerschaft über eine obskure ‚deutsche Abstammung’ definiert wird, hält dieser Staat künstlich die Zahl seiner Staatsbürger ethnischer Minderheiten klein. Mit anderen Worten, die Zahl der deutschen Staatsbürger spiegelt nicht die Gegebenheiten des Landes wider. Ebenso wenig, wie die rassistische Stereotype vom bildungsfernen, rückständigen Ausländer die vielfältigen Menschen widerspiegelt, die hier leben, und die damals wie heute ein Teil von Deutschland sind – mehr noch, deren kulturelle und intellektuelle Vielfältigkeit Deutschland zu dem machen, was es heute ist, immer noch und wieder: die Kelter Europas.
Eine Vielfalt, deren Vorteile manchmal so offensichtlich sind wie bei unserer Fußball-Nationalmannschaft mit all ihren bunten Herkünften, die einfach so gut ist, dass selbst Rechtsradikale ins Zweifeln kommen.
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Sheila Mysorekar wuchs in Indien und Deutschland auf. Studium in Köln und London. Sie ist Journalistin und hat in Jamaika, den USA, und viele Jahre für die ARD in Lateinamerika gearbeitet. Sie ist 1. Vorsitzende der Neuen deutschen Medienmacher.