Loredana Nemes

 

Beyond

Die Schrift über dem Eingang wirkt prunkvoll, erinnert an Tausendundeine Nacht und passt nicht zum kargen Innenraum, der von der offenen Glastür nach draußen gespiegelt wird. »Straße der Hoffnung« laute sie und der Laden gehöre seinem Kumpel, erklärt uns der Übersetzer stolz. Er sei täglich hier, trinke Tee, spiele Karten, rede. Sie hätten keine Hobbys oder Haustiere wie die meisten Deutschen, aber dafür diese Orte. Mit der sich einige Tage zuvor an der gleichen Weddinger Kreuzung zugetragenen heftigen Schlägerei, die ich auf der Suche nach meinen »Berliner Männerwelten« zufällig miterlebt habe, hat er nichts zu tun. Warum auch?

Der Kiez sei brenzlig und anstrengend, aber es sei eben seiner. Er lädt uns freundlich zu einem Tee ein, denn bei solcher Hitze müsse man etwas Warmes trinken, wie in der Türkei, dann kühle der Körper ab, betont er und hebt dazu das kleine Glas. Schwer vorstellbar, aus solch winzigen Gefäßen zu trinken und dabei meinen Durst zu stillen. Dennoch nehmen wir die Einladung gerne an und bekommen kurz darauf zwei im Gegenlicht golden schimmernde Gläschen auf kleinen weißen Tellern nach draußen gereicht. Und wenige Augenblicke später wird noch an den Zucker gedacht, ohne den das Leben nicht süß genug sei, lacht uns der Wirt entgegen.



 

Viele solcher freundlichen Gesichter sind meiner Assistentin und mir im Laufe dieser zweijährigen Arbeit begegnet. Jeder fotografierte Ort zog eine Einladung nach sich und neugierige Männer in die Nähe der aufgestellten alten Linhof-Kamera. Alle wollen sehen, was dieses Gerät sieht und was zum Bild wird, doch nachts lässt sich auf der Mattscheibe wenig erkennen. Man sehe doch gar nichts, sagt einer der Männer. Und was ich von ihnen zeige, fragt er. Und ob ich sie als Türken zeige, hakt er nach. Oder als Menschen. Ich bin verunsichert, denn ich weiß es nicht. Wie das ginge, sie als Türken zu zeigen, erwidere ich. Er zuckt mit den Schultern und lacht. Na, wie in der BZ, als Dumme eben. Ich wisse nicht, wie sie seien, die Türken, ich kenne sie nicht, höre ich mich antworten.

Dieses Unwissen gepaart mit der Neugierde und dem Gefühl, aus diesen Orten Bilder machen zu können, waren die Beweggründe für meine Arbeit. In meiner Neuköllner und Kreuzberger Nachbarschaft gibt es viele solcher Orte, deren Innenleben ich nicht erfassen konnte. Weder wusste ich, was die Männer darin taten, noch warum gerade dort. Wie häufig gingen sie in solche Cafés oder Vereine, die »Wasserfall«, »Schloss« oder »Harem«, »Schwarzer Adler« oder »Leopard« heißen? Und warum »Nur für Mitglieder«? Warum versteckten sie sich hinter Milchgläsern oder Vorhängen und vor wem? Und wo waren ihre Frauen? Viele dieser Fragen wurden durch die Arbeit an beyond beantwortet. Wie die Türken, Libanesen oder Aserbaidschaner sind, weiß ich jedoch immer noch nicht. Aber auch auf die gleiche Frage nach den Deutschen muss ich passen. Gleiches gilt für die Rumänen, auch wenn ich es wissen müsste.

Aber die jungen, dunklen rumänischen Gesichter der am Kottbusser Tor Autoscheiben putzenden Gruppe kenne ich genau so wenig wie die von Ali, Ünal, Ibrahim, Beker oder Nail, denn ich lebe nicht mit ihnen. Erst durch die Arbeit auf den Straßen Berlins und durch diesen kleinen Schluck Tee weiß ich, dass es einen Ali gibt, der von der schönsten türkischen Frauenbasketballmannschaft Berlins schwärmt. Zwar bräuchten diese Mädels am längsten in der Umkleide, bis das Outfit sitze, und den Ball würfen sie wie eine Wassermelone, aber dafür seien sie zweifelsohne die leckersten auf dem Platz. Letztens habe er sogar den Trainer mit einer Mannschaftsdame verkuppeln können, sodass bald Hochzeit gefeiert werde.

Auch Ahmed feiert, seinen zweiten Enkelsohn. Er liebe Deutschland und sei stolz auf seine türkischen Wurzeln, die er seinen Kindern näherbringen wolle, weil diese nur hier aufgewachsen seien. Es sei wichtig, zu wissen, woher man komme. Außerdem liebe er dieses Berliner Multikulti-Ding: seine Frau sei Deutsche, seine Kinder so was Halbes, sein Schwiegersohn Ghanaer, alles ganz bunt zu Hause – auch der neugeborene Enkel.

Der kürzlich in Rente gegangene Mehmet hingegen mag Berlin nicht. Er sei vor gut sechs Wochen aus dem Ruhrgebiet hierher gezogen, um mit seinem Cousin dieses Café, das er nach seiner türkischen Heimatstadt und deren Autokennzeichen benannt hat, aufzubauen, aber er fühle sich nicht wohl hier. In Berlin würden Frauen unterdrückt und müssten schlechte Arbeiten erledigen. Für normale Leute sei in Berlin nichts normal. Achtundzwanzig Jahre habe er im Bergbau gearbeitet, seine Kinder großgezogen, sich jedoch irgendwann von seiner Frau getrennt. Später habe er sich in der Türkei wieder verliebt und verlobt und nun vermisse er seine Liebe, die er nicht heiraten dürfe, weil seine deutschen Scheidungspapiere dort nicht anerkannt würden. Außerdem denke er darüber nach, zum Sterben wieder in die Heimat zurückzukehren.

Ob das Sterben in der Heimat leichter ist, frage ich mich, aber die Frage scheint mir fremd. Dass etwas stirbt, wenn man aus der Heimat geht, das kann ich bejahen. Genauso wie ich den Stolz nachempfinde, den die Männer ausstrahlen, wenn sie über ihre Wurzeln und Heimatstädte schwärmen. Vor dem »Einzigartigen Kulturverein«, der allein schon durch seinen Namen hervorstechen möchte, unterhalten wir uns mit einer Gruppe von Männern, die gerade die geheimnisvollen Räume verlassen haben.

Während sie noch im Regal am Eingang nach ihren Schuhen greifen, erzählen sie abwechselnd von dem Dorf, aus dem sie kommen. Alle stammten aus dem gleichen Dorf, gut über Tausend, ach, noch viel mehr. In dritter Generation lebten sie nun hier. Sie kennen sich alle, und gerade hätten manche gemeinsam gebetet, wie sie es täglich tun – fünfmal am Tag sogar. Ich staune. Zum richtigen Gott, dem einzigen Allah würden sie beten, nicht wie andere, zu mehreren oder gar zu Kühen. Ich lasse euch den euren, aber lasst mir auch den meinen, höre ich mich sagen. Der eine nickt mir zu, der andere predigt weiter. Ich höre schon weg. Allzu schön erscheint mir die Geschichte vom Zusammenhalt der großen umgepflanzten Familie, als dass ich sie mir so schnell wieder nehmen ließe.

Genommen habe ich mir auch diese Bilder, Fotografien von Fremden, von Orten, die mir nun vertrauter sind, in die ich jederzeit zum Teetrinken wiederkommen könnte. Einige Male bin ich tatsächlich zurückgekehrt, um die versprochenen Abzüge zu bringen. Ein komisches Foto sei das, Kunst halt, meinte der eine zu seinem Porträt und ein anderer war lange still, bevor er anmerkte, dass er damit erstmal klarkommen müsse.

 

Über Loredana Nemes

Die Fotografin Loredana Nemes wurde 1972 in Sibiu (Hermannstadt), Rumänien, geboren. Als Zwölfjährige verbrachte sie gemeinsam mit ihrer Familie ein halbes Jahr im Iran. 1986 floh sie aus Rumänien und siedelte nach Aachen über. Sie studierte Germanistik und Mathematik an der Rheinisch-Westfälisch Technischen Hochschule (RWTH) Aachen und arbeitet seit ihrem Umzug nach Berlin 2001 als freie Fotografin. Sie hat diverse Lehraufträge für Fotografie an Kunsthochschulen und Universitäten in Deutschland. Nemes arbeitete 2006 für den Ausstellungskatalog Richard Serra Sculpture. Forty Years (The Museum of Modern Art, New York). 2009 und 2010 wurde sie vom Goethe Institut Almaty, Kasachstan, für Workshops zu den Themen Porträtfotografie und Umwelt eingeladen. Der Fotoband beyond ist Auswahltitel des Deutschen Fotobuchpreises 2011. Die Ausstellung erhielt den Förderpreis des Europäischen Monats der Fotografie Berlin 2010/2011.

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