von Silvia Fehrmann
Fachtagungen, Thesenpapiere, Maßnahmenpläne - an Initiativen mangelt es wahrlich nicht: Mittlerweile herrscht in Dachverbänden und Verwaltungen Konsens darüber, dass Deutschlands kulturelle Vielfalt auch in seinen Institutionen einkehren soll. Und doch schlagen sich die hehren Absichten nur vereinzelt in der institutionellen Praxis der Theater, Museen und Literaturhäuser nieder. Woran liegt es, dass deutsche Kulturinstitutionen im Vergleich zu Wirtschaft, Medien und Sport in Fragen der kulturellen Vielfalt dermaßen in Verzug sind? An welchen Schrauben gilt es zu drehen, um die Diversität der deutschen Einwanderungsgesellschaft in die Kultureinrichtungen einziehen zu lassen? Und worin bestehen die spezifischen Herausforderungen, die sich Kultureinrichtungen in einer pluralen Gesellschaft stellen?
“Kultur für alle” war die Losung, mit der in den 1970er Jahren die einmalige kulturelle Infrastruktur der Bundesrepublik entstand. Der Ansatz trug zweifelsohne zur Demokratisierung der Gesellschaft bei, klassische Musik, Sprechtheater oder bildende Kunst wurden erstmals auch für Arbeiterkinder zugänglich. Nur: wer genau “alle” waren, und wer “alle” sein könnten, stand damals nicht zur Diskussion. Es reichte, wenn auch im tiefsten Ruhrpott neue Musik und zeitgenössischer Tanz angeboten wurden. Heute bildet “Kultur für alle” den blinden Fleck vieler institutioneller Akteur_innen, die sich per se als Vertretung der Allgemeinheit verstehen, als letzte Enklave eines nichtkommerziellen Kulturverständnisses. Dabei werden Fragen des pluralen Zusammenlebens gerne anderen gesellschaftlichen Institutionen überlassen.
Stumme Spiegel
Ausreden für diesen Stillstand gibt es viele. Die Internationalisierung des künstlerischen Personals wird gerne als angeblicher Beweis für einen Dienst an der kulturellen Vielfalt vorgehalten. Andere Entscheidungsträger_innen wiederum, in kritischem Denken geschult, stehen dem Vorhaben, Menschen mit Migrationsgeschichte als aktive Nutzer_innen oder leitende Mitarbeiter_innen der Institutionen zu gewinnen, misstrauisch gegenüber, weil sie in der expliziten Adressierung eine Festschreibung der Differenz befürchten. Die begründete Skepsis gegenüber der Integrationsrhetorik, die angebliche Defizite auf Seiten der Migrant_innen festmacht, tut ein Weiteres, und so gilt business as usual. Aus postmigrantischer Perspektive bedeutet der Status quo freilich, dass Kultureinrichtungen wie blinde Spiegel sind, stumme Monolithen im Stadtbild.
Wenn nicht die Wirklichkeit wäre, die auch die letzten Enklave der schönen alten Kulturwelt einholt. Seit bekannt wurde, dass die Behörden bei der Aufklärung der NSU-Mordserie versagten, ist die strukturelle Diskriminierung in deutschen Institutionen unübersehbar geworden. Auf einmal setzt sich die Einsicht durch, dass es keine Übertreibung ist, wenn etwa der Berliner Politologe Kien Nghi Ha Deutschland als “migrationspolitisches Entwicklungsland ohne eine funktionierende politische Kultur der Nicht-Diskriminierung” bezeichnete. Gefragt ist ein “Wandel im Regelbetrieb”, wie Mark Terkessidis ihn etwa fordert. Personalpolitik und Themensetzungen sind dafür zwei wesentliche Hebel. Doch darüber hinaus tut ein Paradigmenwechsel not, der sich im Kerngeschäft der Künste, der Ästhetik, abspielt.
Als Kulturschaffende stehen wir heute in unserer Praxis vor der Herausforderung, ein neues Selbstverständnis für unsere Institutionen zu entwickeln, das dem Wandel in der Gesellschaft gerecht wird. Ging es in der Industriegesellschaft der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts darum, die Klassenungerechtigkeit durch den gleichberechtigten Zugang aller Bürger_innen zu den nationalstaatlichen Institutionen zu kompensieren, stehen wir heute vor der Frage, wie die bestehenden Institutionen möglichst vielen Menschen die Chance bieten, ihre kulturellen und politischen Kompetenzen zu entfalten. In der heutigen Wissensgesellschaft sind Menschen nämlich nur dann gleichberechtigt, wenn sie die kulturellen Praktiken beherrschen, die eine kompetente Teilhabe an den symbolischen Ressourcen ermöglichen. In dieser Lage ist der Begriff der “cultural citizenship” von Hilfe.
Differenz und Teilhabe
Als in den USA in den 1990er Jahren die Teilhabe der lateinamerikanischen Migrant_innen an der Mehrheitsgesellschaft zur Debatte stand, entwickelte der US-amerikanische Anthropologe Renato Rosaldo das Konzept der “kulturellen Bürgerschaft” als gleichzeitigem “Recht zur Differenz und zur Teilhabe”. Mit diesem erweiterten Begriff der Staatsbürgerschaft wurde die Forderung überflüssig gemacht, Latin@s, - wie die genderneutrale Bezeichnung für lateinamerikanische Einwander_innen lautet sollten sich der angelsächsischen, protestantischen Mehrheitsgesellschaft anpassen, um in den Genuss des “American Dream”, sprich des US-amerikanischen Rechts auf Glück zu kommen. Zwei Jahrzehnte später ist auch in Europa klar, dass Zugehörigkeit durch “gemeinsame Erfahrungen, kognitive Prozesse, Formen kultureller Übersetzung und Ermächtigungsdiskurse” begründet wird und erfahrbar ist, wie es etwa der britische Soziologe Gerard Delanty definiert.
Worum es uns heute in den Kulturinstitutionen gehen muss, ist es eben, die Bedingungen für “cultural citizenship” zu schaffen, die Teilhabe zugewanderter Menschen und ihrer Nachkommen an den symbolischen Ressourcen der Gesellschaft zu ermöglichen. Diese Teilhabe, diese kulturelle Zugehörigkeit wird von klein auf und ein Leben lang im Alltag erlernt – immer dann, wenn die Erfahrung gemacht werden kann, ein selbstbestimmtes Subjekt zu sein, das auf Augenhöhe mit den anderen interagiert und seine Geschichte selbst erzählt, statt Fremdzuschreibungen aufoktroyiert zu bekommen. Genau hier liegen die Chancen für Kulturinstitutionen. Denn Blicke, Geschichten, Interpretationen gehören zu unserem Arbeitsmaterial.
Es gilt zunächst, die Blickverhältnisse umzukehren: Wer sieht, wer wird gesehen? Ein allseits gefeierter Erfolg der Theaterspielzeit 2011 verdichtet diesen Ansatz. Die Rede ist von Nurkan Erpulats und Jens Hilljes Stück “Verrücktes Blut”, das zum Berliner Theatertreffen eingeladen und von “Theater heute” zum “Stück des Jahres” geadelt wurde – gleich zwei Nonplusultra des Theaterbetriebs. Das Kammerspiel handelt von einer Schulklasse während einer Projektwoche zu Friedrich Schiller und wird zur Chiffre für den Blick der Mehrheitsgesellschaft auf migrantische Jugendliche. Dazu Regisseur Erpulat: “Ich inszeniere die Jugendlichen nicht, wie sie sind, sondern ich inszeniere, wie sie gesehen werden."
Unterbrechung der Routinen
Neben der Umkehrung der Blicke gilt es, überkommene Arbeitsteilungen zu hinterfragen – etwa die gängige Konstellation: Künstler_in aus nichteuropäischen Ländern trifft auf europäische Theoretiker_in. Die Liste ist lang: Produktionen aus dem globalen Süden werden oft als archaisch gefeiert oder kritisiert, ohne Produktionskontexte und Formsprachen zu kontextualisieren. Es lohnt sich dagegen, Routinen zu unterbrechen, institutionelle Rituale zu verändern, Podiumsbesetzungen, Eröffnungsreden anders zu besetzen und dadurch andere Denk- und Handlungsperspektiven aufzuzeigen – etwa den lustvollen Umgang mit Komplexität und Heterogenität. Denn Künstler_innen lieben es, Lebensweisen und Geschichten zu erkunden, die sich dem eindeutigen Unterscheiden entziehen. Eine äußerst charmante Situation ließ etwa der in Berlin basierte, aus Singapur stammende Performance-Künstler Ming Wong entstehen, als er die türkische Transgender-Diva Bülent Ersoy im Haus der Kulturen der Welt personifizierte und Kreuzberger Teeverkäufer ebenso wie internationale Festivalprofis zum Singen brachte.
Damit Kulturreinrichtungen zu Orten politischer Aushandlung werden, in denen die vielstimmigen Geschichten der Einwanderungsgesellschaft zu Gehör kommen, gilt es zudem, Perspektiven, aus denen heraus Deutungen entstehen, sichtbar zu machen. Wesentlich dazu ist die selbstbestimmte Geschichtsschreibung, wie sie etwa in den Thementagen “1989 – globale Geschichten” oder dem “Dong Xuan Festival. Vietnamesische Diaspora & Beyond” zu Tage kam, bei denen migrantische Perspektiven auf die jüngste deutsche Zeitgeschichte sichtbar wurden. Dadurch werden oftmals Versäumnisse aufgedeckt und Ausgrenzungen benannt, die für Irritation sorgen – doch es gehört schließlich zum Credo des deutschen Kulturbetriebs, dass Kunst auch weh tun darf.
Die Besinnung auf das Kerngeschäft der Kulturinstitutionen mag den Ausweg aus dem Status Quo aufzeigen. Denn Dramaturg_innen, Kurator_innen und Intendant_innen sind meistens gut darin, die Bedingungen der eigenen Arbeit zu reflektieren. Der gängige Imperativ, Zugang für Migrant_innen zu schaffen, zementiert letztlich nur die unangefochtene Position der Enklaven der Hochkultur: “die Anerkennung von Benachteiligung bedeutet immer auch in gewisser Weise deren Wiederholung”, wie Carmen Mörsch es dargestellt hat. Der Wandel tritt erst ein, wenn die Institutionen bereit sind, sich zu verändern dadurch, dass die bislang Abwesenden mitgestalten. Das von Jugendlichen selbst organisierte Jugendtheaterfestival Festiwalla ist in seinen zwei Ausgaben ein gutes Beispiel dafür.
Soziales Lernen
Kultureinrichtungen des 21. Jahrhunderts könnten also einen Beitrag leisten zur Herausbildung eines neuen “Wir” - und hier kristallisiert sich auch heraus, wie die “diskursive Trennungslinie zwischen multiethnischen und monoethnischen Bürgern Deutschlands” zu überwinden wäre, um die Islamwissenschaftlerin Naika Foroutan zu zitieren:
“Denkbar wäre es daher, die „Neuen Deutschen“ einer Ideenwelt zuzuordnen – einer Betrachtungsweise, die mit einem neuen Blickwinkel einhergeht: Deutschland als Einwanderungsland, global player, politisch normativer Friedensakteur. Das postmoderne Deutschland als plurales, multiethnisches, vielfältiges Bürgerland. In diesem Sinne wären die „Neuen Deutschen“ die Bürger eines hybriden, neuen Deutschland, das es in seiner heterogenen Komposition schon längst gibt.
Kurzum: Der Wandel im Regelbetrieb, die Einbeziehung migrantischer Akteur_innen, eröffnet die Möglichkeit, vielstimmige Räume zu öffnen, in denen alternative Diskurse, Ausdrucks- und Erinnerungsformen sich Gehör verschaffen. Einwanderer_innen und Diaspora-Communities bringen ein wertvolles Wissen ein – Wissen um das Bestehen trotz Krieg und Diktatur, um den Widerstand gegen neoliberale Entwicklungen, um Durchsetzungsfähigkeit und Zukunftsgewandheit. Wenn wir dieses Wissen ernst nehmen, können unsere Institutionen auch zu zukunftsgerichteten Stätten für soziales Lernen werden. Es ist höchste Zeit, die Bedingungen für “cultural citizenship” zu schaffen.
Literatur
- Naika Foroutan (2012): “Neue Deutsche, Postmigranten und Bindungs-Identitäten – Wer gehört zum neuen Deutschland?” In: Migazin.
- Carmen Mörsch (2011): “Über Zugang hinaus”. In: Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft/Reflexionen einer Arbeitstagung. Institut für Auslandsbeziehungen: Stuttgart
- Kien Nghi Ha (Hg.) (2012): Asiatische Deutsche. Vietnamesische Diaspora and Beyond. Berlin / Hamburg: Assoziation A
- Renato Rosaldo (1994):“Cultural Citizenship and Educational Democracy”. In: Cultural Anthropology, Vol. 9, No. 3
- Susanne Stemmler, Valerie Smith und Bernd M. Scherer (Hg.) in Zusammenarbeit mit Nevim Çil, Manthia Diawara, Silvia Fehrmann, Navid Kermani und Yang Lian (2009): 1989 / Globale Geschichten. Göttingen: Wallstein Verlag.
- Susanne Stemmler (Hg.): Multikulti 2.0. Willkommen in der Einwanderungsgesellschaft. Eine Publikation des Hauses der Kulturen der Welt, Wallstein Verlag, Berlin 2011
- Mark Terkessidis (2010): Interkultur. Berlin: Suhrkamp Verlag
Silvia Fehrmann studierte Literatur- und Sprachwissenschaften an der Universidad de Buenos Aires, unterrichtete dort Übersetzungstheorie und Komparatistik und war als Journalistin, Übersetzerin und Kulturmanagerin, u.a. für das Goethe-Institut tätig. Seit 2008 ist sie am Haus der Kulturen der Welt als Mitglied der künstlerischen Leitung für den Bereich Kommunikation und kulturelle Bildung zuständig. Jüngste Veröffentlichungen: Silvia Fehrmann, Irina Podgorny, Wolfgang Schäffner (Hg.): „Un Colón para los datos: Humboldt y el diseño del saber". (Redes, Buenos Aires, 2008). Bernd M. Scherer, Susanne Stemmler, Valerie Smith (Hg.) in Zusammenarbeit mit Nevim Çil, Manthia Diawara, Silvia Fehrmann, Navid Kermani und Yang Lian: „1989 – Globale Geschichten" (Wallstein, 2009); 2012 erschien in Buenos Aires ihre Neuübersetzung von Walter Benjamins “Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit”.
Silvia Fehrmann ist seit 2008 Mitglied der künstlerischen Leitung des Hauses der Kulturen der Welt und für den Bereich Kommunikation und kulturelle Bildung zuständig.
Framing It
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