„Die Hochzeitsfeier” Leseprobe von Şinasi Dikmen

Unser türkischer Kulturverein hatte sechshundert Türken eingeladen, aber erwartete etwa tausend Gäste. Die von der anderen Seite hatten sich bei der Arbeiterwohlfahrt erkundigt, ob denn alle Türken im Deutschland Moslems seien. Später habe ich von meinem Schwiegerarzt erfahren, dass sie Sorgen hatten: "Wie sollen wir denn unserer Tante Agathe tausend Moslems auf einmal zumuten?" Schwester Agathe war eine Nonne aus einem katholischen Kloster oder so einem internatsmäßigen Heim. Sie fürchtete nichts auf der Welt außer Moslems. Nach dieser Erkundigungsreise zur Arbeiterwohlfahrt bat mich die von der anderen Seite darum, Tante Agathes Frage, ob auch ich Moslem sei, zu verneinen, ich sei nur Türke.

Inzwischen mischten sich auch unsere Hochzeitshauptdarsteller ein, meine Tochter und mein Schwiegerarzt. Als sie erfuhren, "was alles so hinter unserem Rücken läuft", schimpfte meine Tochter auf mich und ihre Mutter im Beisein ihres privaten Arztes: "Ihr habt mich zum Studium geschickt, damit ich zwischen dem Guten und dem Schlechten, zwischen dem Bösen und dem Guten alleine entscheiden kann. Also, wir beide sind erwachsen genug, um zu wissen, wen wir alles zu unserer, also: unserer Hochzeit einladen sollten und wen nicht. Niemand hat uns gefragt, ob wir mit dem einverstanden sind, was ihr vorbereitet."
"Gut", antwortete ich, ganz die Ruhe selbst: "Als du gesagt hast, dass du ihn heiraten wolltest, habe ich dich gebeten, uns zwei Sachen zu genehmigen: Erstens, ich dürfte die Namen eurer Kinder aussuchen und zweitens, wir dürften eure Hochzeit vorbereiten. Da hast du mir gesagt: Wenn ihr nur die beiden Bedingungen habt, bitte schön. Und bist dem, der auf unserem Flur wartete, mit großer Freude in die Arme gefallen. Ich hab’s gesehen."
Getraut wurden die beiden zuerst in der Mosche durch einen Imam, einem islamischen Geistlichen, wobei meine Frau ständig geheult hat. "Allah", summte sie vor sich hin: "Mein Allah, ich danke Dir, dass du mich diesen Tag erleben lässt. Ich danke dir, dass du meine Tochter vor den bösen Männern geschützt hast. Er war nicht mein allererste Wahl, aber sieh zu, lieber Allah, dass die beiden glücklich werden. Amen." Zu der Trauung in der Mosche wurde Tante Agathe nicht mitgebracht.
Wenn nun schon eine religiöse Trauung stattgefunden habe, so bestand die von der anderen Seite darauf, dann müsse die zweite auch her. So wurden sie auch in einer katholischen Kirche getraut, aber heimlich, ohne die Beteiligung der Türken. Wir beide, meine Frau und ich, waren schon dabei. Ich wollte selber nicht hin, aber meine Frau behauptete, alle Gotteshäuser wären für den selben Gott, nur der eine schmücke sein Gotteshaus mit Bildern, der andere mit Ornamenten, der dritte mit nackten Wänden. Keine Angst, ich würde mein Glauben nicht verlieren, wenn ich in die Kirche gehe, außerdem sei es ungerecht für Christian.
Gott sei Dank konnte meine erste Tochter wegen Visumsproblemen nicht aus der Türkei kommen. Das wäre ja sonst eine Katastrophe gewesen, wenn mein Schwiegersohn aus der Türkei das mitbekommen hätte! Ich würde nicht sagen, dass er Fundamentalist ist, aber nachdem der Islam vom allmächtigen Allah als letzte Religion für die Menschheit verkündet worden ist, hält er all die anderen Religionen der Welt für überflüssig, ja schädlich. Als er erfuhr, dass Sevda einen Deutschen als Ehemann genommen hat, muss er bei sich zu Hause einen großen Aufstand gemacht haben: "Ich möchte nie mehr hören, niemals hören, dass du eine Schwester hast! Hast du mich verstanden? Auch deine Eltern will ich in meinem anständigen Haus nie mehr sehen. Was soll ich denn den Leuten sagen, wenn sie mich fragen, was für eine Nationalität Dein Schwager hat? Muss ich dann jedem sagen, dass er zu den Langhäutigen gehört?"
Die Hochzeit fand in der Stadthalle statt. Die Halle war genau groß genug, um unsere Gäste aufzunehmen. Der Saal hatte Parkettboden, der gut für türkische Tänze geeignet ist, außerdem kahle Wände und eine hohe Decke.
Es kamen genau zwanzig deutsche Gäste und 979 türkische. Meine Dünürs übernahmen die Kosten ihrer Gäste. Sie boten ihnen Wienerwürste mit eine Schale Kartoffelsalat und eine Scheibe Brot an. Wer von den Gästen Senf oder Ketchup wollte, musste ihn an der Theke selbst bezahlen. Am nächsten Tag rief mich die von der anderen Seite im Morgengrauen an, ob ich wohl wüsste, wer die drei anderen Portionen Würste gegessen haben könnte? Die hätten auch nicht ihren Senf an der Theke bezahlt: "Herr Ali Dünür, wie kann man denn unbefangen miteinander umgehen, wenn mir drei Portionen Würste weggefressen werden? Das waren bestimmt Ihre Landsleute. Ich habe gestern Abend bei meinen Gästen nachgefragt. Alle haben sich mit den ihnen zugestandenen Portionen begnügt. Entweder finden Sie mir diese Menschen, oder …"Nach oder hat sie aufgelegt. Ich nehme an, sie hat erwartet, dass ich ihr die Portionen erstatte.
Unsere türkischen Gäste bekamen pro Person ein halbes Hähnchen, Pommes Frites, drei Scheiben Brot, denn ohne Brot zum Essen wird kein Türke satt, Senf und Ketchup soviel sie wollen, und dazu ein Glas Cola. Aber mehr als die Hälfte unserer türkischen Gäste brachten ihre Colaflaschen von zu Hause mit, und nach einer Stunde waren sie fast alle total besoffen. Das kam vom Asbach in den Colaflaschen.
Die Türken vereinnahmten den Platz für sich. Jeder Gast kam mit seiner Frau, den Kindern und mit anderen Gästen, die wir nicht kannten, die vielleicht zufällig bei unseren eingeladenen Gästen zu Besuch waren und die die von uns Eingeladenen dann mitgebracht haben. Bei den Türken funktioniert das immer so: Der Freund meines Freundes ist mein Freund, der Feind meines Feindes ist auch mein Freund. Jeder Gast betrat die Halle mit Getöse: Wenn er einen Freund irgendwo in der Halle sitzen sah, begrüßte er ihn schon laut an der Schwelle der Halle, lief auf ihn zu, erzählte und fragte nach, wie es ihm gehe, und umarmte ihn so stark, als wollte er ihm gerade die Rippen brechen. Dann schlug er ihm mit aller Kraft auf die rechte wie auf die linke Schulter, umarmte ihn wieder, küsste ihn, nass und schmatzend, schüttelte ihm die Hand, erzählte dabei den neuesten dreckigen Witz, fragte, wo er sitze, und schon liefen sie, die Arme untergehakt, zusammen zu seinem Platz und setzten sich.

Die Deutschen saßen eingeschüchtert in einer Ecke und beobachteten verängstigt dieses ganze eigenartige Schauspiel einander küssender Männer, sich heulend umarmender Frauen und schreiender, hüpfender und tanzender Kinder.
Wenn ihr Blick einen Türken traf, schlug Tante Agathe jedes Mal ein Kreuz – und das exakt 979 mal. Die Türken wunderten sich über diese wie eine Türkin verschleierte Frau, ganz in Schwarz gehüllt, wie sie zuerst die Stirn berührte, dann die Brust und dann die linke und danach die rechte Schulter. Die türkischen Kinder fanden das lustig und machten Tante Agathe nach, dann folgten ihnen die 979 Türken, und die zwanzig Deutschen wunderten sich darüber, dass plötzlich so viele Türken zum Christentum bekehrt waren, bekamen Angst davor und zogen sich noch mehr in ihre Ecke zurück. Tante Agathe aber schlug ihre Kreuze nur noch heftiger, denn sie dachte, jetzt sei Schluss mit allem, jetzt werde sie selbst ans Kreuz geschlagen wie ihr ewiger Verlobter Jesus – bis ich die Tante an die Hand nahm, sie auf die Bühne brachte und sie übers Mikrofon bekannt machte: "Liebe Gäste, sehr geehrte Gäste unserer Gäste, Freunde und Verwandte, das ist Tante Agathe, die Tante meiner Tochter, also die Schwester der Schwiegermutter meiner Tochter, sie ist auch meine Verwandte und damit auch Verwandte der Türkenschaft in dieser Stadt. Tante Agathe betet mit dieser Bewegung in christlicher Weise. Verstanden?!" Kaum war ich von der Bühne herunter, rief mich Musa zu sich, der ab und zu als Imam im Vereinsraum vorbetet, wenn kein Geistlicher in der Nähe ist, und sagte mir: "Wenn es in Deutschland üblich ist, vor der Hochzeit zu beten, wie Tante Dingsbums es macht, dann müssen wir auch beten." Er wartete meine Antwort leider Allahs nicht ab und stimmte eine kräftiges "Allahumma Salli Ala Seyyidina ve ala Seyidine …" an – und 979 Türken beteten ihm nach. In der von den Christen erbauten Halle und in einem christlichen Land klang diese kleine Sure wie eine Kriegserklärung. Ich sah, wie vergeblich meine Bemühungen waren, Tante Agathe zu beruhigen; ihre Bekreuzigungen beschleunigten sich wieder, und auch die von der anderen Seite legte sich sofort auf den Boden, die Hände schützend über ihren Kopf gekreuzt, und ihr Herbertchen, der stand gerade, aufrecht wie ein Kommandeur, der den Feind anvisiert, schaute sich um und brüllte: "Wo ist der Feind? Wo ist der Feind?"
Soviel ich mich erinnere, habe ich diese kleine Sure öfters aus dem Munde meines Vaters gehört, wenn er Hammel schlachtete.
Es dauerte eine ganze Weile, bis ich die in ihre Ecke gezwängte deutsche Seite damit beruhigen konnte, dass das kein Heiliger Krieg war, sondern das Freudengeschrei der türkischen Einheimischen einer deutschen Stadt.
Als ich dann mit meiner Tochter in die Halle kam und die von der anderen Seite mit meinem Schwiegerarzt, brach in dem Saal die Hölle aus. Die türkischen Gäste betupften, zwickten, schlugen, berührten und küssten meinen Schwiegerarzt zur Begrüßung. Eine alte Türkin, die immer über starkes Rheuma geklagt hatte, warf sich vor seine Füße auf den Boden hin und wimmerte: "Ich stehe solange nicht auf, bis er mich untersucht." Der Einwand ihres Mannes – "Frau, wir sind hier auf der Hochzeit und nicht im Wartezimmer einer Praxis!" – fruchtete nichts. Meine Tochter hob schließlich die Frau hoch und erklärte ihr: "Mein Mann ist kein Arzt für Rheuma, er ist einer für die Knochen." Da jammerte die Frau noch lauter, hockte sich hin und zeigte ihm ihre Knien: "Um so besser. Bitte, bitte, im Namen Allahs und Mohammeds" und hielt seine beiden Hände fest: "Da ist Schmerz, da ist Schmerz, auch da, und dann in der Mitternacht plötzlich hier, und vor allem an den beiden Knien … Tief in den Knochen … Manchmal denke ich, ich bestehe aus Schmerz … Bitte Doktor … ich opfere mich für dich, wenn du mir hilfst." Ohne Achtung auf ihren Status als Hochzeitsgast zerrte meine Tochter sie von ihm weg.
Soviel ich mitbekommen habe, bewunderte die Mehrheit der Türken meinen Schwiegerarzt. Er sah blendend aus in seinem türkeiblauen Jackett und seiner deutsch-türkischen Fliege. Seine hellgraue Hose wies auf seinen Chirurgenberuf hin, wenn das Licht darauf fiel, konnte man seinen deutschen Bauch nicht sehen. Seine wenigen Haare verliehen jenen Anschein der Reife, die ein Arzt für seine Glaubwürdigkeit dringend braucht.
Meine Tochter, wie immer, herrlich. Schade, dass dieser Deutsche … In der türkischen Sprache sagt man immer: Die beste Birne frisst immer der Bär.
Der Saal tobte, als sie auf die Bühne gingen. Hand in Hand. Ich neben ihr, die von der anderen Seite neben ihm. Unter standing ovat … also die Leute standen auf zum klatschen und bejubeln und wir wechselten dann die Seite. In der Halle unten ging meine Frau auf die Knie, sie betete laut und deutlich. Mein Weinen wurde unterbrochen von Musik: Zu Ehren der Braut wollte eine Kusine des Bräutigams den türkischen Marsch von Wolfgang Amadeus Mozart auf dem Klavier spielen. Sie erläuterte kurz dieses Stück: "Sehr geehrte Gäste, liebe Braut und lieber Bräutigam, aus dem freudigen Anlass des heutigen Abends möchte ich Ihnen jetzt den Türkischen Marsch von Mozart vorspielen. Mozart hat sich von der türkischen Janitscharen-Musik beeinflussen lassen. Die Janitscharen waren die türkischen Soldaten von damals, die sogar bis nach Deutschland geritten sind. Jetzt sind die Türken unter uns, sie sind unsere Verwandten, und ich freue mich sehr darüber, dass ich etwas zu der deutschen-türkischen Verwandtschaft beitragen darf."
Als sie nun begann, erinnerte das den türkischen Kapellmeister an seine Aufgabe. Seine türkische Oboe, ein Klarinetten-ähnliches Instrument, übertönte den Türkischen Marsch so sehr, dass kein Mensch mehr etwas von Mozart, oder wie der gute Mann geheißen haben mag, mitbekam. Plötzlich stand eine falsche Blondine mit barockkatholischem Busen auf der Bühne und sang mit einer herzzerreißenden tiefen Stimme ein melancholisches türkisches Lied über Heimat, Sehnsucht und Liebe: »Gurbet, gurbet, beni ayirdin yarimden: Du fremdes Land, du hast mich von meiner Geliebten gerissen!« und 979 Türken sangen mit. Einige Frauen ließen ihren Tränen freien Lauf, vor allem, wenn die Türkischblondine ihr aman Gurbet, amaaaannnn oooooffffff Gurbet in den Saal hallte. Das Mikrofon war so eingestellt, dass es hallte. Der Saal war so groß, dass es hallte, und die Blondine sang so lang und so hoch und tief, ohne dabei einatmen zu müssen: amaaaaaannnnnn, oooffffffff, hallte es, Mozart aber musste wohl in der Halle ertrunken sein.
Ob Tante Agathe ihren Schwächeanfall mit dem ersten Trommelschlag bekommen hatte oder ob ihn erst die Stimme der falschen Blondine verursacht hatte, konnte niemand mehr sagen. Sie lag jedenfalls plötzlich flach auf dem Boden, atmete kaum noch und schlug auch keine Kreuze mehr. Ihr Bruder, "mein Herbertchen", wollte gerade eine Rede über die Bedeutung der türkisch-deutschen bzw. moslemisch-christlichen Hochzeit beginnen, aber einer vom Verein musste ihm gesagt haben, dass die Gäste nun tanzen möchten.
Und die Türken tanzten! Und wie sie tanzten: Die Männer mit bis auf den Bauchnabel offenen Oberhemden, den Blick, je nach der Art des Tanzes, entweder auf die Beinbewegungen des nächsten Partners, bei dem er sich untergehakt hatte, oder den geilen Blick auf die nächste Frau gerichtet. Die Deutschen schauten dieser entfesselten Naturgewalt aus sicherer Entfernung solange zu, bis eine Türkin, begleitet von europäisch zivilisierter Musik, mit erotischen Bewegungen der Hände, des Bauches und der Lenden auf die Bühne kam. Musik erklang in dem von den amerikanischen Orientfilmen vertrauten exotischen Rhythmus. Zuerst leise, dann schneller, dann romantisch-melancholisch, immer begleitet von den Bauchbewegungen der Türkin, auch die von einladend-zärtlich bis schließlich feurig-geil. Da wagte sich die von der anderen Seite auch auf die Bühne, die Türkinnen und Türken machten der Dame Platz, und so stand sie unversehens mit der Tänzerin allein in der Mitte, umringt von 979 mal zwei milden, sie geradezu umarmend anblickenden Türkenaugen. Sie aber bewegte sich tollpatschig, verstört und ziemlich erbärmlich. Die Türken begannen zuerst hinter der vorgehaltenen Hand zu lachen, dann prusteten sie offen heraus. Um sie vor weiterer Peinlichkeit zu bewahren, sprang nun meine Frau, sich mit ihrer türkischen Hüfte den Weg bahnend, ihrerseits in die Mitte, fasste zum ersten und letzten Mal die von der anderen Seite an einem anderen Körperteil als den Hände und drehte ihre Hüfte wie einen Mühlstein, mühselig und angestrengt im Kreise. Diese ökumenische Zusammenarbeit auf der Bühne bekam tosenden Beifall, die Türkinnen ließen
ihren Hüften und Brüsten freien Lauf. An dem Abend schaukelten, schwankten und bebten alle türkischen Organe.
Die Schwester meines Schwiegerarztes wollte einen kurzen Dia¬vortrag über die Kindheit ihres Bruders halten. Da waren die Türken schon bei der Geschenkübergabe. Jedes Geschenk wurde auf der Bühne übers Mikrofon bekannt gegeben. Wer an der Reihe war, sein Geschenk zu übergeben, ging auf die Bühne, küsste den Bräutigam rechts und links auf die Wange, schüttelte ihm kräftig die Hände und wünschte ihm alles Gute – "Allah ikinizi bir yastikta kocatsin, Allah möge Euch auf einem Kopfkissen gemeinsam älter werden lassen." – überreichte dem Bräutigam das Geschenk, der es dem Geschenkansager weiterreichte, der es dann über das Mikrofon bekanntmachte: "Von Tante Remziye ein Goldarmband aus weißem Gold, mit zweiundzwanzig Diamanten von achtzehn Karat besetzt, ungefähr vierundfünfzig Gramm schwer", "vom Onkel der Braut aus der Türkei ein Grundstück in der Türkei zwischen Cakirgümüs und Inoz, an der Stelle, wo Üzeyir der Kahle sein erstes Fohlen beritten hat …" Die Geschenkübergabe dauerte circa fünf Stunden. Während die Türken die Geschenke gelobt, kritisiert und diskutiert haben, schliefen einige Gäste von der deutschen Seite ein. Tante Agathe holte ihren Rosenkranz und versuchte, währenddessen drei Ave Maria herunterzubeten. Kaum hatten die Türken das gesehen, rasselten und klapperten die Rosenkränze im ganzen Saal.
Was für Rosenkränze die Türken aber hatten, begeisterte Tante Agathe. So viele und so unterschiedliche Rosenkränze hatte ihre Religion in ihrer Geschichte nicht gekannt. Da gab es Rosenkränze aus dreiunddreißig Steinen aus den unterschiedlichsten Materialien, dann einen Rosenkranz aus dreiunddreißig unterschiedlichen Metallstücken, einen anderen aus dreiunddreißig Steinen aus Alabaster, aus Bernstein, aus Achat, aus Holz, … Der eine Rosenkranz hatte neunundneunzig Steine aus wiederum unterschiedlichen Materialien, der hatte Troddel mit Parfüm, der andere mit Kölnisch-Wasser, der dritte mit Chanel, … Alle Fransen, Troddel oder Quasten waren aus verschiedenen Materialien.
Die Türken, muss man hier ehrlicherweise sagen, können, wenn sie nicht Okey spielen, mit dem Rosenkranz umgehen. Ob zuerst der Türke oder der Rosenkranz auf die Welt gekommen ist, kann man hier nicht diskutieren. Man muss einmal gesehen haben, wie die türkischen Jungen schon als Dreijährige mit dem Rosenkranz hantieren, jonglieren! Wie sie den Zipfel zwischen Daumen und Zeigefinger halten, und dann den Rosenkranz mit dreiunddreißig Steinen binden, indem sie ihn mit einer leichten, sanften Bewegung des Zeigefingers um den kleinen Finger blitzschnell in der Luft drehen, und ihn dann, ohne Pause weiter zwischen dem vierten und dem Mittelfinger hindurch schlängeln lassen und dann zwischen dem Zeigefinger und dem Daumen wieder zurück … Man erzählte in Cakirgümüs, dass viele Griechen jahrelang versucht hätten, dieses elegante Können von den Türken abzuschauen, aber es sei ihnen nicht gelungen, weil die griechische Hand nicht so elastisch sei wie die türkische. Der Rosenkranz in der türkischen Hand ist keine Gebetsschnur mehr, er verkörpert die Ruhe des Türken in sich, er beruhigt ihn, er gibt ihm Gelassenheit, er lenkt ihn von den alltäglichen Problemen ab.
Die 979 Türken beschenkten selbstverständlich meine Tochter und mein Schwiegerarzt kam dabei zu kurz. Am Ende konnte sich meine Tochter nicht mehr auf den Beinen halten, denn das ganze Geld, ob Banknoten oder Münzen, alles wurde an ihre Brust gehängt, die Münzen kamen in eine Plastiktüte, die seitdem unter den Deutschen als Türkentüte bekannt geworden ist, höchstwahrscheinlich haben die von der anderen Seite sie aus Neid so genannt. Die Banknoten wurden mit Sicherheitsnadeln – die zweimal meiner armen Tochter in die Haut gingen – aneinandergeheftet; zum Schluss reichten ihr die Banknoten von den beiden Schultern bis zu den Sohlen. Alles in allem hatte meine Tochter schließlich 24.000 Euro und auch tausend Türkische Lira, die alten, die insgesamt ungefähr zwei Euro wert waren. Wer dieser geizige Türke gewesen war, habe ich nicht rausbekommen. Außerdem hatte sie bekommen: 30 Toaster, 24 Kaffeemaschinen, 59 Messer, unzählige Teekannen, Thermoskannen und Teegläser … Ganz Cakirgümüs hat von der Hochzeit meiner Tochter profitiert. Selbst Frau Zehra bekam kurz vor ihrem Tod eine Brotmaschine.
Mein armer lieber Arzt bekam von mir und von meiner Frau Geschenke, und von seinen zwanzig Deutschen. Zwei haben billige Blumensträuße geschenkt, so ungefähr 4,99 Euro wert. Allein drei Würste ohne Kartoffelsalat kosteten mehr als so ein Strauß. Der Verein hat ihm ein Atatürkbild gebracht mit einem Zitat: "Friede im Haus, Friede im Land und auch Friede in der Welt."
Während wir uns mit Geschenken beschäftigten, soll irgendeine Frau irgendeinen Mann oder einen Jungen oder – ich vermute – einen Burschen angeschrien haben:
"Erst begrabschst du mir beim Tanzen mein Hinterteil und jetzt schaust du mich auch noch so geil an."
Wer die erste Colaflasche in wessen Gesicht geschmissen hat, ließ sich auch nicht mehr feststellen. Der Oberkommissar gestand später offen ein: "Ich habe viele Massenschlägereien unter den Deutschen in Fußballstadien erlebt und wir konnten den Täter, den Auslöser immer innerhalb einer Stunde ausfindig machen, aber bei euch will es keiner gewesen sein. Alle sagen das Gleiche aus: Keine Ahnung. Ich schwöre bei Allah, ich war’s nicht. Ich habe nichts gehört, nichts gesehen, nichts gerochen."
Später sah die Halle aus wie nach dem Ersten Weltkrieg, außer das es, Allah sei Dank, keine Toten gab, nur Verletzte mit Schnittwunden, mit Glassplittern in der Haut. Die von der anderen Seite fragte mich: »Sind Sie sich sicher, Herr Dünür, dass Mohamed Cola erlaubt hat?« So eine blöde Frage: Damals gab es keine Cola. Und es lag nicht an den Colaflaschen, sondern an dem deutschen Asbach-Uralt in der amerikanischen Cola.
Ich ergriff sofort als die Schlägerei anfing, das Mikro aus der Hand des Geschenkansagers auf der Bühne und versuchte, meine Gäste zu beruhigen, in dem ich begütigend auf sie einredete: "Meine lieben Freunde, beruhigt euch, es ist gar nichts passiert, das hier ist eine Hochzeit. Beruhigt Euch also, sonst muss ich denen die Geschenke wieder zurückgeben, die mit der Schlägerei nicht aufhören."
Auch die Sirenen vermochten die Schlägerei nicht einzudämmen, im Gegenteil. Bevor sich die deutsche Polizei in die inneren türkischen Probleme einmischen konnte, wollte jeder Türke seinen Gegner k.o. schlagen und beschleunigte die Schlagzahl seiner Fäuste dementsprechend – oder die der Colaflaschen oder der Stühle.
Die deutsche Polizei stand kaum an der Schwelle der Halle, als 979 Türken schon im Spalier standen und im Chor skandierten: "Nieder mit dem Polizeistaat Deutschland, es lebe die demokratische Türkei."
Alles in allem war es eine angenehme Hochzeit, ohne schwere Verletzungen. Ich bin noch immer besonders stolz darauf, dass die Hochzeit meiner Tochter ohne Tote und fast ohne Verletzte gefeiert worden ist. Man kann über uns Türken sagen, was man will, aber man muss auch zugeben, dass wir feiern können.

Auszug  aus "Die Hochzeitsfeier", "Integrier dich, Opa" erschien 2008  im Conte Verlag.

Bild entfernt.
Foto: Lisa Farkas

 

Şinasi Dikmen
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»Das Wort ›Integration‹ wird in Deutschland missbraucht und ist überflüssig.«
Inteview mit Şinasi Dikmen geführt von Safiye Can (weiter)