von Maria Virginia Gonzalez Romero
Autonomie ist ein Prozess, mit dem Menschen ihre spirituellen, politischen, sozialen und ökonomischen Fähigkeiten stärken, und zwar sowohl auf individueller als auch auf kollektiver Ebene.
Das Konzept des Empowerment findet heutzutage nicht nur auf psychologischer und philosophischer Ebene Anwendung, sondern wird in gleicher Form sogar in der stark kommerzialisierten industriellen Philosophie der Automotivation eingesetzt.
In Avia Yala, von der westlichen Welt Amerika genannt, ist Empowerment aus unterschiedlichen Epochen und in unterschiedlichen Formen als Autonomia bekannt. Um nicht zu weit in die Vergangenheit zurückzugehen, werde ich mich auf die Prozesse seit Beginn der 1960er Jahre konzentrieren, die ich als Zeitzeugin miterlebt habe.
Educación Popular
In den 1960er Jahren fanden in vielen Ländern unseres Amerikas Befreiungskämpfe für eine gerechtere Gesellschaft statt. In diesem Lucha Popular (Kampf des Volkes um Rechte und Gerechtigkeit) wurde auch eine Vision über Bildung entwickelt, eine Educación Popular. Diese hat sich von dem Konzept der Educación Pública, Gratuita y Obligatoria (staatliche, kostenfreie obligatorische Bildung) differenziert
»Die Educación Popular ist ein Ansatz, der Bildung als einen partizipativen und transformierenden Prozess versteht, in der das Erlernen und die Wissensaneignung auf der praktischen Erfahrung der Personen und der Gruppen selbst basiert. Ausgehend von der Sensibilisierung und dem Verständnis der Beteiligten gegenüber den Faktoren und Strukturen, die ihr Leben bestimmen, geht es darum, ihnen bei der Entwicklung von Strategien, Fähigkeiten und Techniken zu helfen, die nötig sind, um eine an der Veränderung der Realität orientierte Partizipation zu ermöglichen.
[…] Das Hauptziel der Educación Popular besteht darin, an der Konstruktion einer eigenständigen – nicht nur formalen, sondern realen – Demokratie mitzuwirken, in der alle Personen und Bevölkerungsgruppen die tatsächlichen Fähigkeiten und Möglichkeiten besitzen, an Verhältnissen zu partizipieren, um befreiende soziale Veränderungen zu Gunsten der Entwicklung und einer gerechteren, solidarischeren und kooperativeren Welt anzustoßen, die zudem in größerer Harmonie mit der Natur existiert.« Eizaguirre, Marlen: Educación Popular
In diesem Prozess wurde das eigene Erleben pädagogisch konzeptualisiert und strukturiert. Der international bekannteste Ansatz ist hier die »Pädagogik der Unterdrückten« von Paulo Freire, Brasilien, auch »Pädagogik der Befreiung« genannt. Das Prinzip dieser Konzepte ist die tatsächliche und aktive Teilnahme der Bevölkerung. Dabei mündet die Educación Popular oder »Pädagogik der Unterdrückten« in einen Prozess, der die Verletzbarkeit reduziert und die Fähigkeiten der marginalisierten Sektoren der Bevölkerung steigert.
Die Kampagne Rio San Juan frei vom Analphabetismus
In den 1980er Jahren nahm ich an der Alphabetisierungskampagne in Rio San Juan, im Süden Nicaraguas nahe der Grenze zu Costa Rica, teil. Durch diese Kampagne ist die Höhe der Analphabetenrate von 94 Prozent auf 4 Prozent gesunken. Es wurden Bauernkooperativen, Frauenorganisationen und kommunale Komitees (Comite Comunal) gegründet, um die Beteiligung der Bevölkerung an Entscheidungen auf nationaler Ebene abzusichern.
1989 kam der revolutionäre Prozess auf Grund des Wahlausgangs zu einem Ende. Bis heute ist jedoch zum Beispiel die Frauenbewegung eine fundamentale Stütze der gesellschaftlichen Prozesse in Nicaragua. Die derzeitige Regierung (ironischerweise auch Regierung während der Revolutionszeit) versucht mit allen Mitteln diese soziale Bewegung zu demontieren - jedoch ohne Erfolg.
Die Erinnerung der Welt ist im Wesentlichen neokolonialistisch und/oder eurozentristisch. Oft gelingt es nicht einmal denjenigen, die ein kritisches politisches Konzept vertreten, sich von diesem neokolonialen und eurozentristischen Denken zu lösen. Die geopolitische Besetzung ihres Denkens ist stark fortgeschritten und der Blick reicht nicht weiter als bis zu den sozialen Bewegungen in den Vereinigten Staaten. Dabei geht es mir hier nicht darum, die Verdienste der Bewegungen der minorisierten Gemeinschaften in den Vereinigten Staaten zu relativieren oder ihre Geschichte zu negieren. Vielmehr geht es um die Suche nach einer Einheit und einer Geschichte aus der Sicht des ganzen Kontinents, mit seiner ganzheitlichen Geschichte. Dadurch soll das vergessene Pueblos Originarios de Avia Yala (alle Völker, die auf dem Kontinent leben/lebten vor dem Völkermord ab 1492, in Europa bekannt als »Eroberung Amerikas«) mit den vergessenen afrikanischen Völkern (als Sklav_innen aus Afrika verschleppt) auf dem ganzen Kontinent und den vergessenen unzähligen Befreiungsbewegungen gegen den Imperialismus aus den Vereinigten Staaten, verbunden werden. Jedoch nicht gegen unseresgleichen.
Mit der Zeit hat der Begriff Empowerment von Norden nach Süden, von Osten nach Westen, von der sozialen bis zur gewerblichen Ebene Einzug gehalten. So hat das Konzept auch in der Trabajo comunitario social (Kommunale Soziale Arbeit) an Bedeutung gewonnen. Es wird von internationalen Organisationen wie den Vereinten Nationen, der Weltbank und sogar von Unternehmen angewendet. Empowerment Training ist kein »unschuldiges« Konzept. Dieser Tatsache können wir uns nicht verschließen.
Ein Rückblick auf die Idee der Educación Popular, Pedagogia del Oprimido (Pädagogik der Unterdrückten)
Hier sind einige meiner Erinnerungen an diese lang verborgene und vergessene Educación (Bildung) Die Entdeckung eines jeden Tages, das Spüren der Gefühle, das Spüren der Natur, das Verstehen des Kosmos, das Verstehen von Widersprüchen als selbstverständliche Prozesse. Die Erziehung, die mich ermächtigt, mich einzigartig zu fühlen und auch zu sein. Bildung ist wichtig. Lesen, forschen, in die Schule gehen. Aber wir wissen auch ohne große Erklärungen, dass es öffentliche und private Schulen gibt. Wir wissen, dass es Schulen gibt, die Arbeiter_innen heranziehen, und es gibt Schulen, die Eliten heranziehen. Es sind die Schulen, die die Unterschiede manifestieren. Ich persönlich glaube nicht, dass das die Art von Bildung ist, die wir brauchen, um uns zu entwickeln.
Die Schule, wie wir sie kennen, bewirkt Distanz und Wettbewerb (Rivalität), sie schafft Rollen. Bildung, die ein Heranwachsen, die Entwicklung fördert, kommt zu kurz.
Die Schule ist sehr oft ein Ort der Langeweile. Vorne steht ein Erwachsener und sagt, was wir zu lernen und zu wissen haben. Oft haben diese Kenntnisse mit dem täglichen Leben nichts zu tun: Frag nicht weiter, lern das auswendig, irgendwann in deinem Leben wirst du es schon brauchen. Man bringt uns bei, miteinander zu konkurrieren und um gute Noten zu kämpfen. Es wird gemessen, was messbar ist durch diese Noten. Aber wir sind alle einzigartig. Es kann nicht alles mit denselben Noten gemessen werden. Doch genau das geschieht in der ganzen Welt bis zum heutigen Tag.
In der Schule sind nur die vorgeschriebenen Kenntnisse von Bedeutung. Das heißt, das vermittelte Wissen ist einseitig, da der Blick des Bildungssystems einseitig ist.
Das Bildungssystem spricht von Frieden, Liebe, Verständnis, Solidarität und Zusammenarbeit. Wir lernen aber miteinander zu konkurrieren, individualistisch und materialistisch zu sein. Wir lernen zu diskriminieren.
Warum ein definiertes und eingeschränktes Wissen? Die Lehrer_innen vermitteln Kenntnisse als Verwaltungsleistung. Sie unterrichten zum Beispiel Erdkunde und nur das und beschränken sich damit darauf, nur das zu tun, was ihnen gesagt wurde. Da in den öffentlichen Schulen die Klassen meistens sehr groß sind, findet emotionale Kommunikation kaum oder gar nicht statt. Die Schule ist als ein Dressurgefängnis konzipiert. Es wird dressiert für die Oberschule, für die Universität, für den Arbeitsplatz.
Escuela Pública, Gratuita y Obligatoria (die öffentliche, kostenfreie Pflichtschule) wurde vor einem bestimmten historischen Hintergrund eingeführt. In Athen gab es sie zum Beispiel nur für die Sklav_innen. Die Unterrichtsstunden von Platon, die in Räumen der Reflexion stattfanden, waren hingegen nicht für die Sklav_innen bestimmt. In Sparta war die Bildung militarisiert.
Das derzeitige Bildungssystem hat sich in einer positivistischen, kapitalistischen Epoche während der industriellen Revolution herausgebildet (höherer Gewinn = minimaler Aufwand + minimale Investition). Und es waren auch die Industrien des 19. Jahrhunderts, die die Escuela Pública, Gratuita y Obligatoria (öffentliche kostenfreie Pflichtschule) über ihre Stiftungen finanzierten (zum Beispiel die Henry-Ford-Stiftung).
Sie benötigten ein nützliches Werkzeug, um das System zu erhalten und zu reproduzieren: DIE SCHULE sollte diese Arbeit hervorbringen, und über die Schule sollte das soziale System aufrechterhalten werden.
Zur Stützung dieses System wurde die Forschung entwickelt. Mit dieser Forschung wurden Konstrukte bestärkt: soziale Utopien, Theorien über Rassenunterschiede (Rassismus), extremer Nationalismus usw.
Es ist aber auch historisch eine Tatsache, dass alle sozialen Prozesse eine dialektische Bewegung entfalten und entwickeln. Deswegen ist zum Beispiel das kostenlose Schulsystem in mehreren Ländern unseres Amerikas heutzutage ein Teil der sozialen Errungenschaften. So haben wir zum Beispiel in Venezuela parallel zum bekannten kostenlosen Schulsystem das Bolivarische Schulsystem sowohl für Kinder als auch für Erwachsene (Las Misiones).
Herstellung eines Produkts
Die Erziehung eines Kindes ist vergleichbar mit der Herstellung eines Produkts in einer Fabrik. Die Schule liefert nach spezifischen Regeln, getrennt nach Alter, Klassen, Generationen, spezifisches Wissen, das von Expert_innen und Verwalter_innen vermittelt wird.
Zum Beispiel ist in meiner Kindheit ein »Fabrikationsfehler« aufgetreten. Im Gymnasium waren Jugendliche und Kinder im Alter von 10 bis 18 Jahren in denselben Gebäuden. Als Folge begannen bereits die 10-Jährigen durch die Nähe zu den Älteren, die bereits sicherer in ihrem Wissen und ihrer Meinung waren, sich zu politischen Führer_innen zu entwickeln. Und dies im gesamten sogenannten »Hinterhof der Vereinigten Staaten«. Also wurde in den Vereinigten Staaten für einige Länder unser Amerika (Avia Yala) der Plan Platon entwickelt. Die Oberschule wurde in Zyklen unterteilt und jeder Zyklus fand in einem anderen Gebäude statt, und das so weit wie möglich voneinander entfernt. Das Wissen wurde unterteilt in Geistes- und Naturwissenschaften. Ziel dieser »Korrektur des Fabrikationsfehlers« war die Auflösung sozialer Netze, die Unterbindung politischer Entwicklung und darüber hinaus die Beschränkung des vorgeschriebenen Wissens der Einzelnen.
Für mich beruhen Wirtschaft, Schule und Armee auf dem gleichen System. Belohnungen und Strafen, vertikale Strukturen, Zeitpläne. Die Schule produziert gehorsame Bürger_innen, die konsumorientiert und effizient sind. Dies wird mit den Regeln der sozialen Kontrolle erreicht. Die Schule ist ein Zentrum der kollektiven Unterweisung, in der das Individuum kaum Platz hat. Es ist ein Ausschlusssystem. Wer nicht funktioniert, wird eliminiert wie ein Produkt mit Fabrikationsfehlern. Diejenigen, die nicht über bestimmte Fähigkeiten verfügen - damit meine ich jene, die von den Normen der Gruppe abweichen - werden ausgeschlossen. Den von der Normalität ausgeschlossenen Personen wird ihre Selbstversorgung, ihr Selbstvertrauen abgesprochen. Ihnen werden Entfaltungsmöglichkeiten verweigert, Erfolge entzogen. Hier werden die Produkte selektioniert. Es findet ein Entmächtigungs-Prozess statt.
Ich denke, dass Schule und Bildung im Widerspruch stehen. Dialektisch gesehen wissen wir, dass es einer Kategorie des Antagonismus entspricht. Sie können nicht ohne den anderen existieren.
In der Schule werden die Kenntnisse erworben, mit denen die Hindernisse ausgeräumt werden sollen, die von anderen aufgestellt werden. Bildung versucht Wohlergehen und Lebensqualität zu bewirken.
Warum diese ganze Geschichte? Wollten wir nicht eigentlich über Empowerment sprechen?
Viele Konzepte des Empowerments führen kaum Diskussionen über das Thema der Macht. Das Empowerment-Konzept funktioniert auch um den Status Quo aufrechtzuerhalten. Die Subjekte, die auf dem Markt als Konsument_innen agieren, sind gezwungen Kapazitäten zu entwickeln, um ihre Lebensqualität zu maximieren, zu verbessern durch eigene Entscheidungen. Wir werden Expert_innen und Selbstverantwortliche, um unser eigenes menschliches Kapital effektiv zu maximieren. Das Konzept Empowerment ist intrinsisch in die neuen Dominanzstrukturen (global, neoliberal, neokolonial), in die neue Unterordnung der Individuen eingebunden. Das können wir feststellen, wenn wir die öffentliche Formulierung der Politik überprüfen.
Das Empowerment-Konzept, auch die Konzepte, die den Strukturen der Unterdrückung kritisch gegenüberstehen und diese bekämpfen, können zu keiner authentischen Inklusion führen, ohne über das Erziehungssystem zu sprechen, über die unterschiedlichen Machtformen, die entwickelt werden, um Ungleichheit zu fördern sowohl auf der individuellen als auch der regionalen, nationalen und globalen Ebene.
Die Herausforderung ist, wie wir das Ideal der praktischen Anerkennung und Inklusion von minorisierten Menschen in der Gesellschaft hervorbringen, anstatt dass die Ungleichheit immer größer wird.
Welche Bedingungen brauchen wir, damit Autonomia in der Tat möglich ist?
Eine Möglichkeit ist, dass wir diese Schule »vergessen«, dass wir reflektieren ohne Vorbehalt. Unabhängig von diesen formellen Lernprozessen können wir die Menschen entsprechend ihres Alters, ihrer Fähigkeiten, ihres Potentials, ihrer Fantasie, ihrer Kreativität, ihrer Neugierde u.a. sehen, wahrnehmen. Natürlich habe ich keine Zauberformel und auch nicht den großen Schatz des alltäglichen Wissens der Menschheit. Aber unter anderem ist mir Folgendes wichtig:
- Entscheidungen in Gruppen zu treffen (Versammlungen, partizipative kollektive Entscheidungen innerhalb von Strukturen, die von den Beteiligten selbst geschaffen werden), denn „Mehrheit“ ist nicht unbedingt demokratisch
- Entscheidungen über die eigene Realität selbst zu treffen, die Angst zu verlieren und auf ein konstruktives "Chaos" zu vertrauen
- Sowohl eine individuelle als auch eine kollektive Reflexion
- Verschiedene Lebensformen, die aufeinander aufpassen
- Verantwortung jedes Einzelnen für die eigenen Konflikte
- Lernen für das Leben und nicht nur für ein Papier, das mir bestätigt, dass ich »aus einer guten Fabrik« stamme
- mich selber weiterzubilden - ich bin eine Quelle, die gibt und nimmt
- Autonomie und Selbstvertrauen
- meine Mission in diesem Leben zu entdecken.
DIE FREIHEIT KANN NICHT ERZWUNGEN,
ABER ES KÖNNEN RÄUME FÜR SIE GESCHAFFEN WERDEN
Um an aktuelle Ereignisse anzudocken, möchte ich erzählen, wie die Pueblos Originarios Bewegung in den vergangenen Jahrzehnten an der sozialen Veränderung unseres Amerikas mitgewirkt hat. Sie ist zu einem Bezugspunkt innerhalb der sozialen alternativen Systeme geworden, und dabei sind durch ihre Widerstands- und Organisationsformen neue soziale Subjekte und neue Kollektive entstanden.
Es geht dabei um die historische Herausforderung des Aufbaus einer neuen Gesellschaft und einer neuen Weltsicht: Cosmovision. Innerhalb der Bewegung hat sich die Pueblos Originarios Frauenbewegung gebildet.
»Los Pueblos Originarios« haben den Begriff Empowerment als Autonomia aus dem Spanischen definiert. Diese zentrale Forderung ist ein strategisches Instrument, das die Ausübung des Rechts auf freie Selbstbestimmung ermöglicht.
Nellys Palomo (K´nal Antsetik Tierra de mujeres, Territorium der Frauen, Frauen-Assoziation der Pueblos Originarios, Mexico), ausgehend von ihrer Erfahrung mit Pueblos-Originarios-Gemeinschaften in Mexiko, Nicaragua, Guatemala und El Salvador, definiert vier Punkte, an denen sich die Veränderungen messen lassen, die sich aus der Korrelation der Kräfte ergeben:
- die Sichtbarkeit der Frau in den Gemeinschaften als Akteurin
- ihre bewusste ethnische und Gender Identifikation
- die Bewusstwerdung der diskriminierenden Situation, sowohl in der eigenen Gemeinschaften als auch in der nicht Pueblos-Originarios-Gemeinschaften
- die Konstruktion und De-Konstruktion von Macht: Empowerment der Frau = Autonomia der Frau
Eine befreiende Weltanschauung. Kommunitärer Feminismus
(vom Lorena Cabnal, Maya-Xinca Frau, Guatemala)
Cosmovisión Liberadora
Diese Weltanschauung ist ein Ansatz, wie wir die Welt verstehen und sehen und wie wir mit diesem befreienden Blick in dieser Welt miteinander leben können.
Ihr Inhalt ist verknüpft mit Elementen, die die kosmogonische Gerechtigkeit in der Ganzheitlichkeit des Lebens stärken, sie ist dynamisch und hat die Form einer zyklischen Spirale, offen für Dekonstruktion und Konstruktion. Ihre Symbole fördern die Befreiung von der historischen Unterdrückung durch die Sexualisierung von Frauenkörpern und von der historischen Unterdrückung durch den Kapitalismus gegen die Natur. Gleichzeitig erweckt und beschwört die Befreiende Weltanschauung den Widerstand und uralte Grenzüberschreitungen, von denen Frauen betroffen sind.
Sie benennt unsere Vorfahrinnen, sie bekennt sich zu ihnen und legitimiert ihr Wissen, ihre Widerstandsformen und ihre Weisheit. Sie bekennt sich zu den Vorfahrinnen anderer Territorien und beschwört deren Energie für eine Stärkung des Kampfes gegen jede Form der Unterdrückung.
Sie befördert die Kreativität, die Kunst, die Rekreation, die Muße, die Ruhe und die Weisheit des Denkens. Sie erweckt Stimmen und Schweigen, die befreienden Aktionen einen Sinn geben und mit der Energie des Kosmos verbinden.
Sie schafft befreiende Symbole mit feministischen Inhalten, sie eröffnet eine neue spirituelle Vorstellungswelt für eine grenzüberschreitende Praxis.
Der Kommunitäre Feminismus spinnt sich, webt sich, er ist eine Epistemologie, die sich als neues Paradigma des politischen ideologischen feministischen Denkens herausbildet, um ihren Beitrag für den Kampf zu leisten.
Wir haben es gewagt, diesen Weg des Halbschattens, der Lichter und der Stimmen zu gehen, der mich dahin gebracht hat zu fühlen, dass jede mit ihrem eigenen Cha'im geboren wird, ihrer eigenen Aufgabe, ihrem eigenen Stern für den Weg des Lebens, wie meine Großmutter Maya queq'chi zu sagen pflegte, schreiben heißt sich erinnern. Es ist ein Anerkenntnis der Großmütter, Mütter, Tanten, Schwestern und Freundinnen, die Grenzen überschritten haben und deren uralte und alltägliche Energie uns Tag und Nacht stärker, rebellischer und fröhlicher macht!
Dieser Fluss der Gedanken, der Worte und Aktionen des kommunitären Feminismus hat mich dahin gebracht zu sehen, wie wichtig es ist, die Gedanken mit anderen Frauen zu verweben, unabhängig davon, ob diese Frauen der unterschiedlichen Pueblos Originarios oder »westliche Frauen« sind, weil ich glaube, dass es uns allen nützt, Räume und Begegnungen für uns zu gewinnen (sichere Räume), um nachzudenken, um uns zu trauen, Dinge zu demontieren und gemeinsam Transgressionen und Vorschläge für eine neues Leben zu gestalten.
Ich denke, dass wir in dem Maße, in dem wir uns (zu-)hören, uns in unserer Unterschiedlichkeit erkennen, uns neu überdenken mit unseren Unterschieden, wie wir reflektierende Dialoge spürend und respektvoll aufbauen, wir in der Lage sein werden, die Fäden der Befreiung zusammenzuführen. Wir werden diese Fäden zusammenfügen von dort, wo immer wir auch sind, und immer, wenn wir unsere Aktionen in kohärenter Weise gegen das Patriarchat und gegen die Hegemonien, die uns umgeben, die in unseren eigenen Körpern eingeschrieben sind, in unseren Betten, in unserer Comunidad (Gemeinschaft), auf der Straße, in der Stadt, in der Welt zusammenfügen.
Diese Aktion können nicht nur Frauen ausrichten. Sie lädt alle ein, auch die westlichen und die solidarischen Kooperationsprojekte, darüber nachzudenken, welchen Beitrag sie zu den Lucha de los Pueblos (soziale und politische Kämpfe der Unterdrückten für Gerechtigkeit) einbringen wollen. Unabhängig davon, ob es sich dabei um politische oder ökonomische Kämpfe handelt.
Ich möchte festhalten, dass ich mit diesem Text ein wenig dazu beitragen möchte, neu über uns nachzudenken. Dass wir über unterschiedlichen Aktionen gegen Hegemonien und das Patriarchat, die wir durchführen, reflektieren. Uns fragen, was unsere Ausgangspunkte sind. Ich möchte auch meine politische Absicht unterstreichen, dass es mir darum geht, meine Ideen darzustellen. Nicht um sie durchzusetzen und als fertige Schlussfolgerungen anzubieten, sondern um sie in einer Form zu teilen, damit zwischen den unterschiedlichen Vertreterinnen des kritischen Feminismus ein Dialog zustande kommen kann.
In dem Maße, in dem wir uns erkennen und entdecken, wo unsere Ausgangspunkte liegen, um etwas abzuschaffen und zu transformieren, erkennen wir uns auch in der Macht unserer politischen feministischen Kraft für die Schaffung eines neuen emanzipatorischen Projektes wieder. Und dann werden wir Aktionen kreieren für das Leben in unserer vollen Kraft für alle Frauen, gleich ob wir uns in den Bergen, in den Gemeinschaften, im Urwald, in der Stadt oder auf der anderen Seite, dort wo die Sonne untergeht, im Westen befinden.
Literatur
- Cabnal, Lorena: Feminismos diversos: feminismo comunitario. Mujeres indigenas feministas de Abya Yala, Guatemala, 2010
- Doin, German: La Educación prohibida, Argentina, Film, 2012
- Eizaguirre, Marlen: Educación Popular; Österreich, 2010
- Freire, Paulo: Pedagogia del Oprimido, Brasilien, 2002
- Gargallo Celentani, Francesca: Feminismos desde Abya Yala, Colombia, 2012
- Gonzalez Romero, Maria Virginia: Alphabetisierung in Nicaragua: die Erfahrungen der Brigade „Benicio Herrera Jerez" in Rio San Juan, Nicaragua, 1994
- Palomo Sanchez, Nellys: Las mujeres indigenas, surgimiento de una identidad colectiva, insurgente. Mexiko, 1999
Maria Virginia Gonzalez Romero ist langjährige politische Aktivistin. Nach dem Studium in Venezuela ging sie aus politischen Gründen ins „freiwillige“ Exil nach Rumänien. Ihr Denken ist, wie sie schreibt, geprägt von ihrer eigenen Biografie.