»Was heißt denn hier Bildung?« - Eine PoC- Empowerment-Perspektive auf Schule anhand des »Community Cultural Wealth«-Konzepts

Blue Scholars: Geo & Sabzi at Value Village - Seattle, WA

von Toan Quoc Nguyen

»Folks you know they made curriculums designed to make obedient drones. Bring your paper, but please leave your lyrics at home.«
(Blue Scholars 2005: Commencement Day)

»Blue Scholars«, eine Asian-American Hiphop Kombo aus Seattle, widmen dem täglich geleisteten Widerstand in der Schule das obige Lied. Sie wenden sich dabei gezielt gegen eine Bildungssituation, die darin besteht, wenig an der Lebenswelt der Schüler_innen anzudocken. Der brasilianische Pädagoge Paulo Freire nannte es die (domestizierende) Bankiersmethode des Lernens: das Abfüllen von Schüler_innen mit kanonisiertem Wissen. Doch wessen Wissen?

Zumeist das hegemoniale Wissen der Mehrheitsgesellschaft, grundsätzlich selten das von marginalisierten Gruppen und konkret exemplarisch kaum das von Menschen of Color. Schüler_innen of Color haben in Schulen das Wissen zu lernen, das als wertvoll von der weißen, mittelschichtsorientierten Mehrheitsgesellschaft gesetzt wird. Oftmals erfolgt im gleichen Zuge eine Abwertung, Diskriminierung und Ausblendung gegenüber dem (alternativen) Wissen und weiterer Fertigkeiten, Stärken und Ressourcen, das Schüler_innen, Familien und Communities of Color in die Schule mitbringen. Das ist ein sehr einseitiger und ungenügender weißer Blickwinkel. Denn Communities of Color haben jenseits dieser Vorstellungen der Deprivation über Generationen hinweg ein stärkendes Potenzial ausgebildet bzw. ausbilden müssen.

In diesem Beitrag möchte ich auf der Basis der Critical Race Theory (CRT) (1) in einem ersten Schritt diese rassifizierten Annahmen im Bildungssystem hinterfragen, die vor allen Dingen auf einer Defizitorientierung beruhen. Sie führen dazu, dass Menschen of Color den gesellschaftlich wichtigen Schauplatz Schule tendenziell eher als disempowernd erleben. Unter der Brille Rassismus sind Schulerfahrungen oftmals schmerzhaft, schwächend und zurückwerfend. In einem zweiten Schritt möchte ich gerade aufgrund dieses Befundes folgende Fragen aufwerfen: Über welche Ressourcen verfügen Schüler_innen, Familien und Communities of Color – jenseits und gerade wegen des Bestehens von strukturellem und institutionellem Rassismus und Diskriminierung? Welche Stärken und Ressourcen sind behilflich für Wege des Empowerments im Bildungssystem? Hierfür stelle ich das Konzept »Community Cultural Wealth« (Yosso 2006) aus der Feder der CRT vor. Es basiert auf einer ressourcen- und stärkenfokussierten Betrachtung von Communities of Color in den USA. 

Strukturelles Disempowerment, Defizitorientierung und Bildung

»ach ja: deine Eltern, die kommen aus Ghana Kamerun, nee, nur mein Opa, ah hm ... und ihr habt dann auch in so Hütten gewohnt, ja klar aus Lehm mit Stroh oben drauf, also einfach paar Sachen, wo man sich denkt: Ach! und dann erzählen die mir was von Bildung« (Yeboah in Nguyen 2013)

Yeboah, afrodeutsche Jugendliche, schildert eine Episode aus ihrer Schulzeit. Sie wurde dort von Mitschüler_innen und Lehrer_innen oft mit rassifizierenden und rassistischen Projektionen konfrontiert – so wie auch exemplarisch hier. Die Erzählung offenbart zwei äußerst interessante, genauer zu beleuchtende Aspekte: einerseits die schulische Schaubühne des Rassismus, andererseits die kreative und widerständige Performanz Yeboahs.

Die schulische Schaubühne des Rassismus hat viele Gesichter. Sie erstrecken sich von Formen der Beleidigung, Herabwürdigung und des Mobbing, über die entstellte oder verfälschte Darstellung in Schulbüchern und Curricula, schlechtere Bewertungen und schlechtere Behandlungen, hin zu verwehrten oder erschwerten Empfehlungen und (Bildungs-)Zugängen (vgl. Nguyen 2013). Sie sind die Erscheinungsformen alltäglichen, institutionellen und strukturellen Rassismus im Bildungssystem. Zu Recht können wir politisch betrachtet von Bildungsungerechtigkeit, fehlender Teilhabe und Anerkennung im Schulsystem für Menschen of Color – und auch weitere marginalisierte Gruppen – sprechen. Ich verstehe dies als Disempowerment. Die Schule und das Bildungssystem können punktuell und strukturell disempowern. Schulen sind in diesem Sinne selten idyllische Lern-, Arbeits- und Aufenthaltsorte für Menschen of Color. Im Gegenteil: Alltagsdiskriminierung und Alltagsrassismus sind in der Schule nicht außen vor, sondern mittendrin. Denn gesellschaftliche Realität ist auch schulische Realität.

Gemeinsamer Ausgangspunkt des strukturellen Disempowerments ist das Bestehen und Wirken rassistischer (und weiterer hegemonialer) Wissensbestände in der Schule. Dieses Wissen ist Teil einer rassistischen (und überlegenheitsbezogenen) Ideologie und Teil einer weißen (hegemonialen) Dominanzstruktur. Begünstigt werden in der Regel Menschen, die folgende Merkmale aufweisen und/oder verbinden: weiß, Mittelschicht, christlich, heterosexuell, (cis-)männlich, nicht behindert. Es spannt sich dadurch ein systematisches Ungleichheitsverhältnis auf: auf der Ebene von guten Schulabschlüssen in mehr oder weniger Zugang, auf der Ebene von Repräsentation in drinnen oder draußen und auf der Ebene von Wertschätzung und Anerkennung in Zuwendung oder Verwehrung.

Richten wir einen erneuten Blick auf Yeboahs Erfahrung. Bei einem genaueren Blick zeigt sich dort ein wichtiges Hilfsmittel für die Herstellung und Aufrechterhaltung des systematischen Ungleichheitsverhältnisses: die Abweichung von der Norm(konstruktion). Diese kann in eine Defizitorientierung münden. Mit ihr kann eine Abwertung, Herabstufung und Diskriminierung erfolgen. Die rassifizierte Projektion, die Yeboah erfährt, operiert in der Gegensätzlichkeit vom zivilisierten, fortschrittlichen Westen und dem unzivilisierten, rückständigen Rest. Der Kulturwissenschaftler Stuart Hall spricht hier auch von »the west and the rest« (Hall 1994: 137). Das ist eine koloniale Figur des »Othering« bzw. der »Ver-Anderung«. Yeboahs Familie ist nicht eine von »uns«, sondern eine von »denen«. Genau genommen, so ist der diskriminierende Kern der Projektion, eine von »denen«, die nicht gleichermaßen fortschrittlich wie »wir« sind. Die weißen Akteur_innen entziehen - bewusst oder unbewusst, das sei dahin gestellt – die gleiche, respektvolle und wertschätzende Augenhöhe. Es ist ein Prozess der Herabstufung, ein Prozess der – das möchte ich betonen – auf beiden Seiten dehumanisierende Folgen haben kann.

Tatsächlich ist der defizitorientierte Blick auf Menschen of Color ein wesentliches Element – und Problem – weißer Normalitätsvorstellungen im Bildungssystem. In »ausländerpädagogischer« Fassung haben Schüler_innen of Color die Figur und die Rolle des »Mängelwesens«, in interkultureller Fassung die des (festgeschriebenen) kulturell und ethnisch Anderen inne (gehabt) (vgl. etwa Yıldız 2009, Mecheril 2004). Gemeinsame zugrunde liegende Annahme ist: Schüler_innen of Color haben vermeintliche kulturelle oder soziale Defizite aufgrund ihrer natio-ethno-kulturellen Herkunft. Ihnen fehle etwas. Sie würden nicht gleichermaßen über die Eingangs- und sozialen Kompetenzen/ Dispositionen wie weiße Mitschüler_innen verfügen. Sie würden zum Beispiel nicht gleichermaßen gut deutsch sprechen, hätten Anpassungsschwierigkeiten aufgrund ihres »Kulturkreises« oder die Eltern besäßen nicht das ausreichende Vermögen, ihre Kinder zu unterstützen. Das sind gängige, selten hinterfragte weiße Normalitätsvorstellungen. Die Vorstellungen basieren auf einem einseitigen, kaum ressourcenorientierten, oftmals kulturalisierenden und vor allen Dingen ungenügenden Blickwinkel.

Es verwundert daher nicht, dass sich Yeboah empört über die althergebrachten rassistischen Projektionen, die sie erfährt und über das Bildungsverständnis, das sie in der Schule vermittelt bekommt. Sie widersetzt sich dem und kontert mit Ironie. Es sind Elemente ihrer kreativen und widerständigen Performanz. Sie zieht eine bedeutsame Schlussfolgerung, in dem sie den bestehenden normalen weißen Bildungskanon hinterfragt. Zugespitzt können wir mit ihr die Frage aufwerfen: Was heißt denn hier Bildung, wenn einerseits Bildungscurricula rassistisches und diskriminierendes Wissen weiterhin transportieren und andererseits Bildungsorte wie die Schule weiterhin Rassismus und Diskriminierung aufrechterhalten?

Zwei Gedanken möchte ich dazu entfalten – einen kurz angedeuteten und einen zu vertiefenden. Erstens: »Rassismus bildet« (Mecheril/ Broden 2010) und verbildet. Das bedeutet: die Gegenwart von Rassismus prägt unseren Lern- und Bildungsprozess in der Schule, freilich in einer uns schadenden Form. Für Yeboah und alle weiteren Beteiligten hat diese Episode bedeutsame Auswirkungen für ihr jeweiliges Selbstverständnis und ihre Persönlichkeitsentwicklung. Wir können uns fragen: Welche Plätze werden uns zugeordnet im Wirken von Rassismus? Was macht diese Zuordnung mit uns? Was machen wir mit der Zuordnung? Diskurstheoretisch gesprochen, handelt es sich um Prozesse der Subjektivierung, der »Mensch-Werdung« (vgl. Hall, Foucault, Butler u.a.), konkret in diesem Fall in Bildungsinstitutionen. Zweitens wird deutlich: Yeboah verfügt über ein alternatives Selbst- und Bildungsverständnis, eines, auf dem ihre widersetzende Technik basiert. Sie widersetzt sich den Projektionen, ihr gelingt es, über den Projektionen zu stehen. Ironie ist dabei ihre rassismuskritische und empowernde Kommunikationstechnik (vgl. Mecheril 2004). Ihr Selbstverständnis und Bildungsverständnis ist gestärkt durch Prozesse des Empowerments. Es geschieht genau das, was Reggae-Legende Bob Marley folgendermaßen besingt: »we refused to be what you wanted us to be, we are what we are, that`s the way it`s going to be« (Marley & the Wailers: Babylon System 1979).

Das empowerte Selbst- und Bildungsverständnis Yeboahs ist genährt aus Stärkungsprozessen in der Familie und der Schwarzen Community – so stellte es sich in Gesprächen heraus (Vgl. Nguyen 2013). Das ist ein wichtiger Befund für vertiefende Betrachtungen. Es eröffnet den Blick auf in die Schule mitgebrachte Ressourcen, Fertigkeiten und Stärken, die Menschen of Color in sozialen Gemeinschaften ausbilden bzw. auszubilden haben – auch angesichts einer von Alltagsdiskriminierung und Alltagsrassismus durchzogenen Gesellschaft. Es erstaunt, dass diese, obwohl sie so sehr von Bedeutung sind, bislang so wenig beleuchtet und beachtet worden sind. Für eine vertiefende Betrachtung möchte ich das Konzept der »Community Cultural Wealth« vorstellen.


»Community Cultural Wealth« - das stärkende Kapital von Familien und Communities of Color

»Whose culture has capital?« so lautet die Ausgangsfrage im Titel des anregenden Artikels der Erziehungswissenschaftlerin Tara J. Yosso zu «Community Cultural Wealth«. Das Konzept stammt aus der Theorieproduktion der Critical Race Theory (CRT). Die CRT konkret auf den Bildungsbereich (2) bezogen, beschreibt die Autorin folgendermaßen:

»I define CRT in education as a theoretical and analytical framework that challenges the ways race and racism affect educational structures, practices and discourses. CRT is conceived as a social justice project that works toward the liberatory potential of schooling.« (Yosso 2006: 172).

Das Konzept vollzieht in entscheidender Weise einen Perspektivwechsel: von einem oft gesetzten weißen, Mittelklasse-Referenzrahmen zu einer Bezugnahme von Stärken und Ressourcen von Communities of Color. Das Konzept umfasst sechs Kapitalsorten. Diese sind ineinander verwoben, so sind etwa in Yeboahs Beispiel mehrere Kapitalsorten (soziales Kapital, Widerstands- und Familienkapital) bedeutsam. Die Kapitalsorten ergänze ich teils mit kurz skizzierten Praxisbezügen zum deutschen Kontext:

Aufstiegskapital: Aufstiegskapital meint das Vermögen, trotz faktisch erlebter Barrieren hohe Bildungsträume und -aspirationen zu bewahren und zu leben. LatCrit-Arbeiten(3) belegen zum Beispiel, dass »Chicanas/Chicanos experience the lowest educational outcomes of any group in the United States, but maintain consistently high aspirations for their childrens’ future« (Yosso 2006: 176). Ich sehe selbst für den deutschsprachigen Kontext exemplarisch auch Übertragungsmöglichkeiten auf die vietnamesische Community und den Bildungserfolg von Schüler_innen deutsch-vietnamesischer Herkunft. Dort liefert meiner Auffassung nach Aufstiegskapital eingebettet in die intergenerative Erfahrungswelt realer sozial-ökonomischer Deprivation viel haltbare, plausiblere Erklärungsperspektiven als bestehende dominante »model minority« oder auf die Lehren des Konfuzius reduzierte, kulturalisierende Argumentationen.

Linguistisches Kapital: Linguistisches Kapital beschreibt die intellektuellen und sozialen Fertigkeiten, die ein mehrsprachiger Alltag mit sich bringt. Ausgangspunkt ist die Feststellung, dass viele Schüler_innen of Color die Schule bereits mit mehrsprachigen Kommunikationskompetenzen betreten. Beispiel wäre das Beherrschen mehrerer Sprachen, das reibungslose Wechseln zwischen zwei Sprachen oder auch das bereits ausgebildete Vermögen Übersetzungen zu leisten (4). Letzteres schließt ein - so belegt es die Sozialwissenschaftlerin Marjorie Faulstich Orellana in ihrer US-Studie anhand bilingualer Kinder – soziale Fertigkeiten wie »vocabulary, audience awareness, cross-cultural awareness, real world literacy skills, math skills, metalinguistic awareness, teaching and tutoring skills, civic and familial responsibility, [and] social maturity« (Faulstich Orellana zitiert nach Yosso 2006). Gemeint ist mit linguistischem Kapital ferner auch ein kreatives Ausdrucksvermögen, welches auf Traditionen des storytelling basieren kann. Grundsätzlich kann linguistisches Kapital auch in Form von Kunst, Musik oder Poesie gezeigt werden. Ein bekanntes Beispiel wäre für mich das poetisch-linguistische Ausdrucksvermögen, was beispielsweise durch MCing bzw. Rap erlernt und vertieft wird. Hier ist sowohl historisch in Deutschland (vgl. Güngör/ Loh 2002) als auch aktuell die Hiphop-Kultur für (junge) Menschen of Color eine wichtige (jugendkulturelle) Plattform fürs Leben und Lernen, die allerdings bislang wenig in Schule(n) aufgegriffen wird. (5) 

Familienkapital: Familienkapital bezieht sich auf kulturelles Wissen über Community-Geschichte, kollektive Erinnerung und Gemeinschaftspflege, das von weit gefassten, familiären Beziehungsverhältnissen getragen und genährt wird (kinship). Entgegen rassifizierten und heteronormativen Engführungen ist hier ein Familienverständnis zentral, das die (lebende und verstorbene) Kernfamilie als auch einen selbstgewählten erweiterten (Verwandtschafts-)Kreis, wie zum Beispiel Onkel, Tanten, Freund_innen und weitere Menschen, mit einschließen kann. Diese (vertrauten) Beziehungskontexte bieten die Lernbasis, um gesunde und wohltuende Verbindungen zur Community zu bewahren. Der Zusammenhalt untereinander und das gegenseitige Wohlergehen werden durch unterschiedliche soziale Veranstaltungen und Treffen gestärkt. In diesen Kreisen zirkuliert dann alternatives kollektives (Familien und Community-)Wissen über ein System der Unterdrückung sowie vielfältige Widerstandsstrategien und -ressourcen. Dieses Wissen wird von Generation zu Generation übertragen, wie zum Beispiel die Soziologin und Schwarze Feministin Patricia Hill Collins auch anhand der Übermittlung Schwarzer Mütter an ihre Töchter feststellt (vgl. Hill Collins 1991: 123f.). Zum kollektiven Wissen zählt auch das Bewahren einer eigenen Geschichtserzählung, die zum Beispiel in der jüdischen Community die Shoah, in der Schwarzen Community die Maafa oder in anderen Communities die geteilten kollektiven Erfahrungsbestände über Flucht, Unterdrückung, Migration und Diaspora einschließen kann. Es sind mögliche Ausgangspunkte für Geschichten und Perspektiven der Vielfalt im Klassenzimmer.

Soziales Kapital: Soziales Kapital umfasst die Netzwerke von Menschen und Community-Ressourcen. Die sozialen Kontakte sind behilflich, technische und emotionale Unterstützung zu geben, um gut durch soziale Institutionen zu gelangen. Konkret kann bei (Aus-)Bildungswegen, Stipendienförderung oder bei auftretenden Problemen beraten werden. Die/der Ratsuchende greift auf einen weiten Erfahrungs- und Wissensschatz zurück, der in den sozialen Netzwerken geteilt und zur Verfügung gestellt wird. Tara Yosso weist – in der Benennung von »Mutualistas« oder »mutual aid societies« – darauf hin, dass Communities of Color mit der Migration eigene soziale Netzwerke aufbauten und bewahrten und erworbene Informationen und Ressourcen an diese Netzwerke zurückgaben. Exemplarisch ist das in meinen Augen zum Beispiel in der türkischen Community in Deutschland erkennbar, wo vielfältige soziale Netzwerke im ökonomischen, kulturellen, sozialen und politischen Bereich aufgebaut worden sind. Konkretes Beispiel wären für den Schulbereich türkische oder weitere migrantische Elternvereine.

Navigationskapital: Navigationskapital meint ein individuelles Handlungsset an Fähigkeiten, erfolgreich durch soziale Institutionen zu manövrieren, die nicht für Menschen und Communities of Color geschaffen worden sind bzw. diskriminierende Barrieren offenbaren. Es schließt zum Beispiel das Belastbarkeits-, Erholungs- oder Unversehrtheitsvermögen von Schüler_innen of Color ein, angesichts von (rassistischen) »Micro- und Macroaggressions« (Sue et al 2009) oder anderen stressreichen sozialen Situationen in Schule dennoch gute Bildungserfolge zu erzielen - so wie es auch einige der von mir befragten Jugendlichen belegen.

Widerstandskapital: Widerstandskapital beinhaltet Wissenshaushalte und Sets an Fähigkeiten, um Diskriminierung und Unterdrückung zu entgegnen. Dazu können zählen: Selbstliebe, Mut, soziale und kommunikative Techniken oder auch gelebte Glaubenssätze und Haltungen der Gerechtigkeit und Gleichwürdigkeit (vgl. Nguyen 2013). Auch konformistische und selbstschützende Strategien können Teil individueller Widerstandsstrategien sein, wobei diese selten die ungerechten sozialen Situationen herausfordern bzw. verändern. Erst wenn das Widerstandsvermögen mit einem Bewusstsein und einer Motivation für social and racial justice versehen ist, können auch transformative Effekte für Akteur_innen in Schule und weiter für das System Schule eintreten. Begünstigt wird dieser Prozess durch das Vorhandensein einer kritischen (weißen) Sensibilität, Achtsamkeit, Offenheit, Wohlwollen und Entgegenkommen.

Abschließend macht Tara Yosso den expliziten Hinweis, dass das Konzept nicht dafür geschaffen ist, sich die Stärken und Ressourcen von Communities of Color anzueignen oder sie auszubeuten. Stattdessen betont sie: das Konzept dient dazu Schulen zu fördern, die sich für eine gerechtere, rassismuskritische Gesellschaft einsetzen. In ihren Worten:

»Community cultural wealth involves a commitment to conduct research, teach, and develop schools that serve a larger purpose of struggling towards social and racial justice.« (Yosso 2006: 181)

Empowerment Perspektiven und Ausblicke

»If you are really honest about equity and social justice then you have to start thinking about the transformation of your own framework, of your own ways of thinking in order that people are included, so that people come along with you«. (Chandra Talpade Mohanty).

Yeboah wie auch weitere von mir befragte Jugendliche of Color belegen, dass sie ganz bestimmte Stärken, Fertigkeiten und Ressourcen mit in die Schule bringen. Diese entstammen vorwiegend Lernprozessen in ihren sozialen Gemeinschaften und Communities. Diese Dispositionen sind notwendig, um sich Alltagsdiskriminierung und Rassismus in Schule und Gesellschaft zu widersetzen. Sie sind wesentlich für das persönliche und politische Empowerment. Aus einer Empowerment-Perspektive halte ich deswegen im Sinne des Community Cultural Wealth Konzeptes folgendes für essentiell: Gerade in den eigenen Gemeinschaften und Communities sind die eigenen Stärken und Ressourcen zu erkennen, zu bewahren, zu kultivieren – und auch zu teilen. »Caring and sharing« ist zu leben als eine Leitlinie eines achtsamen, respekt- und liebevollen Miteinanders in Unterschiedlichkeit. Ich stimme da den Ausführungen meines geschätzten Freundes und Kollegen Sebastian Fleary in seiner Abschlussarbeit vollends zu. Er plädiert in Anlehnung an Schwarze Feministinnen, wie zum Beispiel Audre Lorde und bell hooks für die »work of love for effective political action«. In seinen Worten: »Without love, there is no community. Without community, there is no liberation« (Fleary 2010).

Schulen haben als bedeutsame gesellschaftliche Bildungsorte mit Blick auf diese Prozesse des Empowerments ihren Beitrag zu leisten. Das schließt ein, sich den Erfahrungen, Belangen und Bedürfnissen von Menschen of Color (und weiterer marginalisierter Gruppen) angemessen zuzuwenden. In Schulen ist daher zu fragen:

Wie wird Rassismus und Diskriminierung in der Schule betrachtet und bearbeitet? Wie werden Schüler_innen (sowie Eltern und Pädagog_innen) of Color in der Breite ihrer Widerstands- und Empowermentstrategien in der Schule wahrgenommen? In welcher Weise werden diese Strategien und Ressourcen angenommen, unterstützt und gefördert? Wie können tiefer gehend auf (schul-)institutioneller und (bildungs-)struktureller Ebene Prozesse des Empowerments realisiert werden?

Die im Mai 2012 auf einem Fachgespräch an die Hamburger Senatsverwaltung präsentierten vier Forderungen (6) vom Netzwerk Rassismus an Schulen (NeRas) halte ich für richtungsweisend – und sie sind ebenso meiner Auffassung nach bundesweit zu übertragen. Auch die Empfehlungen der Erziehungswissenschaftlerin Mechthild Gomolla zum Abbau von institutionellem Rassismus und Diskriminierung in der Schule sind überaus sinnvoll (vgl. Gomolla 2009). Schulentwicklung hat sich der heterogenen Realität der Migrationsgesellschaft zuzuwenden. Dazu zählt mitunter die Breite an diversen Erfahrungs- und Wissensbeständen in die schulischen Lern-, Begegnungs- und Bildungskontexte aufzunehmen. In pädagogischer Hinsicht braucht es in Schule freilich dafür veränderte Blickrichtungen und Haltungen, die kritisch, dialogisch, wertschätzend und ganzheitlich sind (vgl. u.a. Freire 1973, hooks 1994, 2010). Sicherlich gilt auch: Es gibt noch einiges zu tun, um inklusive, partizipative und wertschätzende Schulkulturen zu schaffen und zu etablieren. Ich persönlich halte es da mit der Rap-Pionierin MC Lyte:

»We're jammin' on the for the daughters and sons
the struggle is not over until the battle is won«

(Bob Marley feat. MC Lyte 2000: Jammin`)

 

Fußnoten
(1) CRT ist ein akademisch-aktivistischer Ansatz, der sowohl die Auswirkungen von Rassifizierung und Rassismus – in ihren intersektionalen Schnittstellen – auf die Gesellschaft betrachtet als auch dazu beiträgt, diese zu verändern. Weiter unten erfolgt eine auf Bildung fokussierte Beschreibung der CRT. 
(2) Fünf Merkmale kennzeichnen dem Erziehungswissenschaftler Daniel Solórzano zufolge die CRT im Bildungsbereich: 1) die Intersektionalität von »Race« mit anderen Differenzkatego-rien 2) die kritische Dekonstruktion dominanter Ideologien 3) das Engagement für Social Justice 4) die Zentralität von erfahrungsbezogenem Wissen, konkret von Erfahrungs- und Wissensbeständen von Menschen of Color 5) der transdisziplinäre Zugang (vgl. Solórzano 1997/1998). 
(3) LatCrit steht für «Latina/o Critical Race Theory«
(4) In Deutschland wären mit Blick auf das linguistische Vermögen von Schüler_innen of Color exemplarisch etwa die Arbeiten der Linguistin Inci Dirim anschlussfähig (vgl. Dirim/ Mecheril 2010), die u.a. den »monolingualen Habitus« (Gogolin) von Schule kritisiert. 
(5) Für eine vertiefende Betrachtung der Bedeutung von Hiphop für eine kritische Pädagogik siehe exemplarisch auch Akom 2009.
(6) a) Verankerung des Themas Rassismus als verpflichtender Teil der Lehreraus- und -fortbildung b) Implementierung des Themas Rassismus in den Curricula verschiedener Unterrichtsfächer c) Verankerung des Verbots von sowie eines angemessenen Umgangs mit Diskriminierung im Schulgesetz d) Einrichtung einer unabhängigen Beschwerdestelle.

Literatur

  • Akom, A. Antwi (2009): Critical Hiphop Pedagogy as a Form of Liberatory Praxis. In: Equity & Excellence in Education, 42 (1).
  • Blue Scholars (2005): Commencement day. Album: The Long March
  • Dirim, Inci/ Mecheril, Paul: Die Sprache(n) der Migrationsgesellschaft. In: Mecheril et al (2010): Migrationspädagogik. Beltz Verlag.
  • Fleary, Sebastian (2010): Without love, there is no community. Without community, there is no liberation …reasonings über Schwarze Erfahrung, Empowerment & kritische Pädagogik. Unveröffentliche Diplomarbeit, Uni Bielefeld.
  • Freire, Paulo (1973): Pädagogik der Unterdrückten. Bildung als Praxis der Freiheit. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg.
  • Gomolla, Mechtild (2009): Interventionen gegen Rassismus und institutionelle Diskriminierung als Aufgabe pädagogischer Organisationen. In: Scharathow, Wiebke/ Leiprecht, Rudolf: Rassismuskritik, Band 2: Rassismuskritische Bildungsarbeit. Wochenschau Verlag.
  • Güngör, Murat/ Loh, Hannes (2002): Fear of a Kanak Planet: HipHop zwischen Weltkultur und Nazi-Rap. Hannibal Verlag.
  • Hall, Stuart (1994): Rassismus und Kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften 2. Argument Verlag. Hamburg.
  • hooks, bell (1994): Teaching to Transgress. Education as Practice of Freedom. Routledge
  • hooks, bell (2010): Teaching critical thinking. Practical Wisdom. Taylor & Francis Ltd.
  • Marley, Bob & the Wailers (1979): Babylon system. Album: Survival
  • Marley, Bob feat. MC Lyte (2000): Jammin`. Album: Chant Down Babylon
  • Mecheril, Paul (2004): Einführung in die Migrationspädagogik. Beltz Verlag, Weinheim und Basel.
  • Mecheril, Paul/ Broden, Anne (2010): Rassismus bildet: Bildungswissenschaftliche Beiträge zu Normalisierung und Subjektivierung in der Migrationsgesellschaft. Transcript Verlag.
  • Nguyen, Quoc Toan (2013): Entrinnbarkeiten. Rassismuserfahrung und Empowerment von Schüler_innen of Color. Zu erscheinen.
  • Sue, Derald Wing/ Lin  Annie I., Torino, Gina C./ Capodilupo, Christina M./ Rivera, David P. (2009): Racial Microaggressions and Difficult Dialogues on Race in the Classroom. Cultural Diversity and Ethnic Minority Psychology. 2009, Vol. 15, No. 2, 183–190.
  • Solórzano, D. (1997). Images and Words That Wound: Critical Race Theory, Racial Stereotyping, and Teacher Education. Teacher Education Quarterly 24: 5–19.
  • Solórzano, D. (1998). Critical Race Theory, Racial and Gender Microaggressions, and the Experiences of Chicana and Chicano Scholars. International Journal of Qualitative Studies in Education 11: 121–136.
  • Yıldız, Safiye (2009): Interkulturelle Erziehung Und Pädagogik: Subjektivierung und Macht in den Ordnungen des nationalen Diskurses. VS Verlag für Sozialwissenschaften.
  • Yosso, J. Tara: Whose Culture has capital? A Critical Race Theory Discussion of Community Cultural Wealth in Dixson, Adrienne D. / Rousseau, Celia K. (2006): Critical Race Theory in Education: All God` s children got a song Taylor & Francis: 167-188

 

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Toan Quoc Nguyen, praktiziert Zen und Viet Tai Chi, liebt Musik und studierte Pädagogik. Er arbeitet als politischer Bildungsreferent sowie als systemischer Coach und promoviert zum Thema »Rassismuserfahrung und Empowerment von Schüler_innen of Color«