Interview mit Gerrit Wustmann
Lieber Gerrit, Du bist Lyriker und Herausgeber. Leidet die Freizeit darunter?
Nein, gar nicht. Im Grunde ist der Übergang zwischen Freizeit und Arbeit fließend, weil ich überwiegend nur das tue, was ich tun möchte. Für alles andere ist das Leben auch zu kurz. Und was man ungern tut, das wird nicht gut am Ende.
2010 warst du das erste Mal in Istanbul. Dein erster Gedichtband „Beyoğlu Blues“ wurde 2011 zweisprachig publiziert. Im Folgejahr hast du das Istanbul-Stipendium der Stadt Köln erhalten. Am 1. Juni 2013 erscheint dein neuer Gedichtband „Istanbul Bootleg“. Wie kamst du auf die Idee, deine Gedichte ins Türkische übersetzen zu lassen, um sie in Deutschland zweisprachig zu veröffentlichen?
Es erschien mir nur folgerichtig, dass die Gedichte von Anfang an auch einem türkischsprachigen Publikum zugänglich sind. Der Austausch mit Lesern in beiden Ländern ist mir sehr wichtig. Bei einer Lesung im Istanbuler Goethe Institut mit sehr gemischtem Publikum quer durch alle Altersschichten kamen interessante Gespräche zustande. Das sind für mich die wichtigsten Momente: Dabei sein zu können, wenn Lyrik Dialog anstößt. Und, nicht zuletzt: Ich liebe den Klang der türkischen Sprache.
Mit deiner literarischen Arbeit leistest Du in Deutschland einen Beitrag für das Verständnis im Umgang miteinander. Woher rührt dein Interesse an verschiedenen Kulturen?
Wir leben in einer Welt, in der die unterschiedlichen Kulturen miteinander leben, und diese Entwicklung werden auch die Ewiggestrigen nicht mehr rückgängig machen. Gesellschaften definieren sich und ihr Wir-Gefühl aber immer noch vor allem über Abgrenzung, die geprägt ist von einer tiefgreifenden Angst vor allem, was nicht vertraut, was anders ist. Und das äußert sich in offenen Ressentiments. Dieses Problem existiert nicht bloß am rechten Rand, sondern in der breiten Mitte der Bevölkerung in Deutschland und ebenso in vielen anderen Ländern. Dass solche Ressentiments ziemlich schnell verschwinden, sobald man die jeweils andere Kultur erst einmal persönlich kennenlernt, ist auch kein Geheimnis. Ebenso reizt mich immer von Neuem der Blick über den literarischen Tellerrand. Gerade in der Literatur aus anderen Kulturräumen gibt es noch viel zu entdecken, viele Juwelen wollen freigelegt werden.
Die meisten Verlage sind nicht sehr wagemutig, insbesondere was Lyrik betrifft. Ist es nicht schwierig, Verlage für Istanbuler Gedichte zu finden?
Die Vermutung liegt nahe, aber ich hatte in den letzten Jahren immer wieder das Glück, engagierte Verlegerinnen und Verleger zu finden, die meine Arbeit auf vielerlei Weise unterstützen. Dafür bin ich ihnen sehr dankbar.
Werden Gedichte in Deutschland gelesen?
Lyrik ist vermientes Gelände, vor allem wenn man es marktwirtschaftlich betrachtet. Dabei kann ich mich selbst nicht mal beklagen, „Beyoğlu Blues“ zum Beispiel hat sich überdurchschnittlich gut verkauft, aber das ist die Ausnahme. Wenn ich auf die Leserzahlen der großen Lyrikmagazine im Netz schaue, schätze ich, dass es rund fünftausend Menschen in Deutschland gibt, die sich wirklich für Lyrik interessieren. Die Verkaufszahlen von Lyrikbänden sind freilich deutlich niedriger, meist im dreistelligen Bereich. Das passt zu Enzensbergers Schätzung, dass es hierzulande 1354 aktive Lyrikleser gibt, also solche, die auch Bücher kaufen. Das wiederum erklärt, weshalb so viele Verlage davor zurückschrecken, Lyrik zu veröffentlichen. Die meisten zahlen dabei drauf, manchen gelingt ein Nullgeschäft. Gewinn macht damit niemand.
Woran liegt das?
Schwer zu sagen. Es war ja nie wirklich anders. In den Siebzigern und Achtzigern gab es mal eine kleine Welle von Lyrikbestsellern, aber das ebbte schnell ab. Das waren Autoren wie Wondratschek oder auch Übersetzungen von Bukowski, die mit ihrem Alltagsduktus einen Nerv trafen. Das Publikum für Kunst, die erfordert, dass man sich Zeit nimmt, die nicht gefällig ist, die man nicht eben schnell konsumieren und dann abhaken kann, die einen fordert, war schon immer überschaubar. In der Literatur ganz besonders, aber auch bei Film, Musik und Bildender Kunst ist es ähnlich. Und es wird schlimmer, dem Buchmarkt geht es insgesamt nicht gut. So groß die Vorteile der neuen Medien auch sind, ich denke, dass die andauernde Berieselung mit Oberflächlichkeiten viel damit zu tun hat, dass die allgemeine Aufmerksamkeitsspanne nachlässt.
Hinzu kommt, dass die Schulen so ziemlich alles falsch machen, was man falsch machen kann in Bezug auf Literatur. Dieser Unsinn, die Schüler nach der einzig richtigen Interpretation suchen zu lassen – die es gar nicht gibt – und ihnen zu sagen, sie hätten das Gedicht nicht verstanden, wenn sie etwas anderes als die Lehrmeinung herauslesen, führt natürlich zu Ablehnung. Wer immer glaubt, etwas nicht zu verstehen, der kommt sich dumm vor, und dieses Gefühl mag niemand. Also lässt man später eben die Finger davon. Dabei wäre das Interesse eigentlich da, das habe ich selbst bei der Arbeit mit Schülern erlebt. Man muss ihnen lediglich die nötigen Freiheiten einräumen, sich offen und unverstellt mit literarischen Texten befassen zu dürfen. Was dabei herauskommt, nämlich dass die Schüler sich Literatur ganz von selbst erschließen, ist so viel mehr wert als all das Zeug, das ihnen von Germanisten und Literaturwissenschaftlern aufgezwungen wird.
Ich habe viele Jahre für das Theater gearbeitet, weil ich das Schreiben für das Theater als weitere Herausforderung für die Schriftstellertätigkeit empfand. Mit Falko Jakobs zusammen hast Du das Drehbuch zum Film „Hotep“ geschrieben und Co-Regie geführt. Wie kamst Du zum Film?
Über Falko. Ich lernte ihn 2006 kennen und er fragte mich ganz direkt, ob ich nicht Interesse hätte, bei Skyroad Films einzusteigen. Mir gefiel die Grundidee, die er für „Hotep“ hatte sehr, und seine bisherigen Kurzfilme fand ich sehr beachtlich. Ein paar Tage später steckten wir schon mitten in der Storyentwicklung. Eine Geschichte für die Leinwand zu schreiben ist, wie Du schon sagst, nochmal ein ganz anderes Herausforderungslevel, und später daran mitzuwirken und zu sehen, wie die eigenen Ideen zum Leben erwachen, von großartigen, talentierten Menschen interpretiert werden, ist eine wahnsinnig wertvolle Erfahrung. Umso mehr freut es mich, dass „Catena“, der zweite Langfilm von Skyroad Films, bei dem Falko Jakobs und Lars Ostermann federführend waren, nun auf zwei US-Festivals gewonnen hat. Inzwischen gibt es ihn auch als Video on Demand bei Vimeo.
Wie kam es, dass Du Faye Cukiers Buch „Flucht vor dem Hakenkreuz“ übersetzt hast? Führte die Übersetzung für Dich persönlich auch zu einer Aufarbeitung der Deutschen Geschichte?
Ich habe Faye in einem Café in Köln kennengelernt, als sie gerade einen Übersetzer suchte. Ich fand den Stoff interessant, also habe ich zugesagt. Es gibt nicht mehr viele Zeitzeugen, umso wichtiger ist es, ihnen Gehör zu schenken. Die deutsche Geschichte begleitet mich immer. Als meine Großmutter starb, fand ich bei ihr noch alte Wehrmachtsjahrbücher; die wenigen Momente, wenn sie von früher sprach, offenbarten, wie wenig sie zu begreifen bereit war, was damals passiert ist. Der Holocaust ist noch längst nicht so weit weg, wie man manchmal denkt, und vor allem existiert die Geisteshaltung, die das damals ermöglicht hat, bis heute. Und das in einem Land, das seine eigene Geschichte so intensiv aufgearbeitet hat wie kaum ein anderes.
Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass die Übersetzertätigkeit nervenaufreibend ist und viel Geduld abverlangt. Worauf kommt es Deiner Meinung nach bei einer guten Übersetzung an?
Auf Sensibilität. Was will der Autor sagen, wie will er es sagen, welchen Ton will er treffen? Das ist mitunter sehr schwer in eine andere Sprache zu übertragen, erfordert viel Geduld und Feingefühl und den Willen, sich ganz auf einen Text einzulassen und für eine Weile in ihm zu leben wie in der eigenen Kleidung.
War Istanbul so, wie Du es Dir vorgestellt hattest? Was zählt zu den unvergessenen Erlebnissen oder jenen, die dich geprägt haben?
Ich habe mir eigentlich gar nichts vorgestellt; dass ich im September 2010 nach Istanbul kam war eher Zufall, ich besuchte eine Freundin, die dort wohnte. Und ich erlebte etwas, das ich an keinem anderen Ort zuvor erlebt habe: Ich fühlte mich von der ersten Sekunde an zu Hause. Seitdem hat mich Istanbul nicht mehr losgelassen, das ist eine große Liebe, anders kann man es nicht ausdrücken. Im Vorwort zu meinem neuen Buch „Istanbul Bootleg“ vergleicht Doğan Akhanlı Istanbul mit einer Frau, der man verfällt. Dieses Bild trifft es ziemlich gut.
Dein neues Buch kann man ab heute im Handel vorbestellen. Eine Leseprobe, die ich daraus ausgesucht habe, ist auf der Webseite der Zwischenraum-Bibliothek zu lesen.
Ist es schwieriger das Werk zu schreiben, die Publikationsarbeit selbst oder die Betreuung des Werkes nach getaner Arbeit?
Der Schreibprozess selbst ist definitiv der schwierigste Teil. Er verlangt einem alles ab. Das Schreiben ist eine einsame Arbeit, die immer das Scheitern in sich trägt, vor allem bei einem Thema wie Istanbul, über das schon so unfassbar viel geschrieben wurde. Sich langsam heranzutasten an einen Aspekt, eine Nuance, der man etwas Neues hinzufügen möchte, ist kräftezehrend. Aber es lohnt sich. Immer wieder.
Über Istanbul gibt es unzählige Gedichte und Songs, aber auch Werke aus anderen Kunstgattungen, die der Stadt gewidmet sind. Kannst Du erklären, warum so viele Künstler von Istanbul angetan waren und noch immer sind?
Weil es, wie schon Franz Grillparzer sagte, auf der Welt nichts Vergleichbares gibt. Ich glaube, es ist gar nicht möglich, das zu beschreiben. Man muss es fühlen. Man muss auf der Fähre stehen, die vom Marmarameer in den Bosporus einfährt, rechts das Ufer von Kadıköy, links Sultanahmet, geradeaus Beyoğlu, muss sehen, wie über der Stadt die Sonne sinkt, sich die schwarze Silhouette Istanbuls vor dem Horizont abzeichnet und die darüber unablässig kreisenden Möwen… und man muss in solch einem Moment in sich hineinhorchen, dann findet man hüzün, diese Melancholie, die nur in dieser Stadt so ist, wie sie ist. Ich könnte jetzt das Übliche erzählen von den Gegensätzen, Ost-West, all dieses Zeug. Aber das wird Istanbul nicht gerecht. Man muss sich auf Istanbul einlassen, muss aber auch wissen, dass eine Urlaubswoche dafür nicht ansatzweise ausreicht.
Meine letzte Frage an Dich: Was wäre die eine Sache, die Du nicht mitnehmen würdest, wenn Du gezwungen wärst, auf einer einsamen Insel zu leben?
Das Gefühl, gezwungen zu sein.
Ich bedanke mich für das Interview!
Das Interview führte Safiye Can im Mai 2013
Gerrit Wustmann - Foto: Franko Jacobs
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