von Beate Müller-Gemmeke
Die Gesellschaft wird immer älter, die Bevölkerung in Deutschland schrumpft und so auch der Anteil der Menschen im erwerbsfähigen Alter. Die Prognosen scheinen eindeutig. Doch was bedeutet diese Entwicklung für das Arbeitsleben der Zukunft? Vor welchen Herausforderungen stehen Gesellschaft und Politik? Und welche Rolle spielen die Gewerkschaften in diesem Zusammenhang?
Eines ist klar: Die demografische Entwicklung wird in absehbarer Zeit zu grundsätzlichen strukturellen Herausforderungen in Deutschland führen. Schon auf mittlere Sicht werden die sinkenden Schulabgängerzahlen und der starke Anstieg des Durchschnittsalters vieler Belegschaften die Arbeitswelt beeinflussen. Dadurch entstehen auch Anforderungen an die Personalpolitik der Unternehmen und an die Arbeit der Gewerkschaften. Ingenieur_innen und IT-Fachkräfte sind schon heute sehr gefragt. Glaubt man dem „Verein Deutscher Ingenieure“, dann sind sie absolute Mangelware. Doch Fachleute werden auch anderswo händeringend gebraucht. In der Alten- und Krankenpflege beispielsweise fehlen seit Jahren ausgebildete Fachkräfte. Heizungs- und Klimatechniker_innen werden gesucht, Elektriker_innen und Lokführer_innen sind inzwischen ebenfalls rar.
Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen setzt als Lösung komplett auf qualifizierte Zuwanderung. Dafür rührt die Bundesregierung mit Internetseiten die Werbetrommel. Von der Bundesregierung einberufene Demografiegipfel sorgen inzwischen dafür, dass sich Vertreter_innen von Ländern und Kommunen, aus Wirtschaft und Wissenschaft, von Verbänden und aus den Gewerkschaften treffen, um den demografischen Wandel und seine Folgen zu beratschlagen und möglichst Lösungen für alle prognostizierten Probleme zu finden. Doch die dortigen Gremien haben inzwischen - wenn auch zögerlich – noch einen anderen Grund für den Fachkräftemangel ausgemacht: Der Mangel an Fachkräften entsteht nicht nur, weil immer weniger Erwerbstätige in einer immer älter werdenden Gesellschaft arbeiten. Fachkräftemangel entsteht auch dann, wenn nicht alle in die Arbeitswelt integriert oder auf dem Arbeitsmarkt gehalten werden. Diese Sicht der Dinge ist ein Verdienst der Gewerkschaften.
Gesunde Arbeitsbedingungen
Der demografische Wandel wird dann zum Problem, wenn Beschäftigte nicht bis zur Rente arbeiten können und früher aus dem Erwerbsleben ausscheiden müssen. Deshalb setzen sich die Gewerkschaften zu Recht verstärkt für alters- und alternsgerechte Arbeitsbedingungen ein. Denn die Belastungen in der Arbeitswelt sind in den vergangenen Jahren enorm gestiegen. Neue Produktionssysteme sorgen in der Industrie für Arbeitsverdichtung und Stress. Schlechte Arbeitsbedingungen und eine zu geringe Personalausstattung tun dasselbe in der Pflegebranche. Auf diese Weise haben psychische Gefährdungen in der Arbeitswelt zugenommen. Gleichzeitig müssen die Beschäftigten immer länger arbeiten, flexible, nicht planbare Arbeitszeiten wurden zur Normalität, Schicht- und Nachtarbeit nahmen ebenfalls zu.
Es ist ein eindeutiges Warnsignal, wenn die Fehltage aufgrund psychischer Belastungen laut DAK-Gesundheit in den letzten 15 Jahren um 165 Prozent zugenommen haben. Während sich 1997 nur jeder 50. Beschäftigte wegen eines psychischen Leidens krankmeldete, war es 2012 bereits jeder 22 Beschäftigte. Psychische Erkrankungen sind gleichzeitig mit zurzeit 41 Prozent die Hauptursache für Frühverrentungen. Schuld daran sind die Arbeitsbedingungen in Deutschland, denn die Arbeitsverdichtung hat enorm zugenommen.
Die Gewerkschaften und auch wir Grünen fordern inzwischen eine Anti-Stress-Verordnung, die beim Arbeitsschutz ansetzt und Handwerkszeug für Betriebe und Aufsichtsbehörden bietet - zum Schutz der Beschäftigten. Arbeitsplätze müssen gerade im demografischen Wandel sowohl altersgerecht, als auch alternsgerecht gestaltet werden, so dass auch junge Beschäftigte geschützt werden und ihre Gesundheit im Laufe ihres Berufslebens erhalten bleibt. Eine entsprechende Sensibilisierung muss auch in den Betrieben ankommen. Hier gehen die Gewerkschaften schon heute voran und sorgen in manchen Branchen für ein Umdenken – etwa wenn sie, wie in der Chemiebranche, in der Stahlindustrie, bei der Bahn oder der Post, Demografie-Tarifverträge verhandeln, in denen Konzepte der Lebensarbeitszeit eine große Rolle spielen. Auf diese Weise sollen ältere Beschäftigte den Unternehmen mit ihrem Wissen und ihrer Erfahrung möglichst lange erhalten bleiben.
Verändertes Personalmanagement
Gleichzeitig ist jedoch auch das Personalmanagement gefragt. Allein schon aufgrund von sich ständig verändernden Anforderungsprofilen, technologischem Wandel und neuen Fertigungs- und Produktionsprozessen ist es notwendig, berufliche Fort- und Weiterbildung zu einem integralen Bestandteil von Personalpolitik zu machen. Doch auch hier gibt es zwischen Anspruch und Realität eine große Lücke. Laut dem „DGB-Index Gute Arbeit“ beklagen sich 68 Prozent der Beschäftigten, dass sie bei ihren Qualifizierungswünschen keine oder nur sehr geringe Unterstützung durch konkrete betriebliche Angebote erhalten. Viele Betriebe bieten ihren Beschäftigten nur in geringem Umfang Fort- und Weiterbildungen an. Auch dies haben Gewerkschaften zu ihrer Sache gemacht. Sie fordern von der Politik verlässlichere Rahmenbedingungen für lebenslanges Lernen – nicht zuletzt zum Nutzen der älter werdenden Belegschaften, aber auch für Migrant_innen und Geringqualifizierte. Diese und andere Rahmenbedingungen – wie etwa die Anti-Stress-Verordnung – muss die Politik setzen. Und die Unternehmen müssen sie anschließend umsetzen.
Der demografische Wandel erfordert letztendlich auch, alle gesellschaftlichen Gruppen in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Eine der größten Gruppen sind dabei die Frauen. Viele von ihnen können nicht in dem Maße erwerbstätig sein, wie sie es gerne wären. Die Vollzeiterwerbsquote von Frauen liegt in Deutschland bei mageren 55 Prozent. Damit liegt Deutschland innerhalb der EU an zweitletzter Stelle. Viel zu viele Frauen arbeiten hierzulande in Teilzeit oder Minijobs, sobald sie Kinder betreuen. Viele von ihnen würden gerne länger arbeiten. Doch es fehlt an entsprechenden flexiblen Kinderbetreuungsangeboten und an Arbeitszeitangeboten, die die Vereinbarkeit von Familie und Beruf berücksichtigen. So finden sich im Schichtbetrieb in der Krankenpflege kaum Frauen mit Kindern. Denn dass auch hier Teilzeit und flexiblere Arbeitszeiten möglich sein könnten, ist bis heute nicht in der Kultur der Unternehmen verankert. Gleiches gilt für Führungskräfte – auch in den Führungsetagen von Unternehmen ist es nicht verankert, dass Job-Sharing und Teilzeit auch auf einer Führungsposition möglich sind. Qualifizierte Frauen, die sich für Kinder entscheiden, haben es daher extrem schwer, den Sprung in die Führungsetagen zu schaffen.
Gewerkschaften mischen auch hier schon mit. Sie setzen inzwischen auf Betriebsvereinbarungen zur Balance von Arbeit und Privatleben, um von vereinzelten individuellen Vereinbarungen zu einem Regelwerk zu kommen, das im gesamten Betrieb gilt. Dort, wo diese Betriebsvereinbarungen existieren, erleichtern sie nicht nur Müttern mit Kindern die Vereinbarkeit von Arbeit und Privatleben. Auch Beschäftigte, die zeitweilig einen Familienangehörigen pflegen, profitieren von solchen Vereinbarungen.
Migrant_innen auf dem deutschen Arbeitsmarkt
Auch Migrant_innen zählen zu den stillen Reserven des brach liegenden Fachkräftepotenzials. Viele von ihnen arbeiten in Deutschland in einem Job, der nicht ihrer Qualifikation entspricht. Das liegt zum einem am diskriminierenden Einstellungsverhalten vieler Firmen, die bei einem ausländisch klingenden Namen immer noch zurückschrecken. Das liegt aber auch daran, dass die Anerkennung der im Ausland absolvierten Berufsausbildungen in Deutschland restriktiv ist. Hier gilt es neben einem Umdenken in der Gesellschaft Rahmenbedingungen weiter zu verändern, und da ist wieder die Politik gefragt.
Gleichzeitig sind viele Menschen mit Migrationshintergrund weniger stark in unseren Arbeitsmarkt integriert als ihre deutschen Kolleg_innen. Sie sind zu ge¬ringeren Anteilen erwerbstätig als die Gesamtbevölkerung. Und dieser Trend nimmt zu statt ab. Die Beschäftigungslücke – und damit der Unterschied zwischen der Erwerbs¬tätigkeit von Menschen mit und ohne Migrationshintergrund – ist von 11,9 Prozent im Jahr 2005 auf 12,3 Prozent im Jahr 2010 gestiegen. Hier liegen Potenziale brach. Auch der Integrationsbericht der Bundesregierung kommt zu dem Fazit, dass Maßnahmen zur Stärkung der Erwerbsbeteiligung von Migrant_innen zur Aktivierung beträchtlicher Angebotsreserven beitragen können.
Die Gewerkschaften machen hier insbesondere auf die Bildungssituation in den Schulen aufmerksam. Immerhin haben internationale Pisa-Studien längst nachgewiesen, dass Schüler_innen mit Migrationshintergrund in Deutschland besonders benachteiligt werden und zu wenig Förderung erhalten. Die Gewerkschaften fordern daher als zentrales Ziel ein Ende der sozialen Benachteiligung von jungen Menschen mit Migrationshintergrund in den Schulen und in der Berufsausbildung. Außerdem setzen sie sich verstärkt in den Betrieben für die Integration von Kolleg_innen ein.
Die Situation junger Beschäftigter
Wer als junger Mensch in Deutschland derzeit ohne lange Wartezeiten und eingeschobene Praktika einen Arbeitsplatz mit guten Arbeitsbedingungen findet, kann sich glücklich schätzen. Noch glücklicher können junge Auszubildende sein, wenn sie nach ihrer Lehre unbefristet übernommen werden. Denn junge Erwachsene machen nach ihrer Ausbildung weitaus häufiger als ihre älteren Kolleg_innen Bekanntschaft mit atypischer Beschäftigung. Befristete Jobs, Leiharbeit und Minijobs gehören zu den üblichen Beschäftigungsformen der unter 25-Jährigen. Innerhalb der letzten zehn Jahre ist der Anteil von atypischen Beschäftigten bei den unter 25-Jährigen um die Hälfte angestiegen. Insgesamt sind über 50 Prozent aller Leiharbeitskräfte in Deutschland jünger als 35 Jahre. Und zwei Drittel der Beschäftigten in der Leiharbeit beziehen einen Niedriglohn. Während insgesamt 20 Prozent aller Beschäftigten 2006 nur niedrig für ihre Arbeit entlohnt wurden, bezogen in der Altersgruppe der 15- bis 24-Jährigen fast 52 Prozent einen Niedriglohn – also jeder Zweite.
Diese prekäre Beschäftigungssituation wirkt sich äußerst negativ auf die Zukunftsperspektiven junger Beschäftigter aus. Sie erschwert nicht nur ihre Lebens- und Familienplanung, sondern führt auch zu andauernd schlechten Einkommensperspektiven und unsteten Beschäftigungsverläufen. Familien- und Lebensplanungen werden in der Regel auf bessere Zeiten verschoben. Ob die eintreten, bleibt für viele unsicher. Dass die jungen Menschen von heute die Fachkräfte von morgen sind, scheint die Wirtschaft in Deutschland vergessen zu haben. Entsprechend empört sind die Gewerkschaften. Und sie machen gute Arbeit mit den Jungen und für die Jungen. So hat ver.di im Tarifvertrag der Post durchgesetzt, dass Auszubildende wieder regulär übernommen werden und nicht in prekäre Arbeitsverhältnisse bei Tochterfirmen abgeschoben werden. Und auch die IG Metall hat unlängst im Tarifvertrag der Elektroindustrie die unbefristete Übernahme ihrer Auszubildenden festgeschrieben.
Gute Arbeitsbedingungen für alle
All dies sind Antworten der Gewerkschaften auf den demografischen Wandel. Dennoch ist die Zuwanderung aus unterschiedlichen Gründen Realität und auch gewollt. Die Hauptaufgabe liegt deshalb darin, die Arbeitsbedingungen hier vor Ort so zu gestalten, dass Fachkräfte kommen und bleiben. Und auch hier übernehmen die Gewerkschaften eine wichtige Funktion.
Nie zuvor waren so viele Menschen in den Arbeitsmarkt integriert wie heute. Mehr als 40 Millionen Menschen sind in Deutschland beschäftigt. Das ist ein historisches Hoch – doch das Arbeitsvolumen ist gleich geblieben. Gleichzeitig war der Arbeitsmarkt auch noch nie so gespalten wie heute. Die Zahl atypischer Beschäftigungsverhältnisse ist ebenso dramatisch gestiegen wie der Niedriglohnsektor. Das gilt für die Leiharbeit, für den Werkvertragssektor und für Minijobs.
Unter diesen prekären Bedingungen verliert Arbeit ihre Würde. Und sie verliert, wofür sie steht: Arbeit ist heute für viele Menschen kein Garant mehr für Einkommen und Sicherheit, sie schafft keine soziale Anerkennung mehr und sie sorgt so kaum noch für gesellschaftliche Teilhabe. Doch wer den Wert von Arbeit nicht anerkennt, investiert auch nicht in die Zukunft. Und das hat verheerende Folgen. Denn wo gute Arbeit Mangelware ist, herrscht in einer älter werdenden Gesellschaft auch Fachkräftemangel. Das lässt sich beispielsweise beim Bereich der Altenpflege beobachten, wo schon heute Pflegekräfte fehlen. Und das liegt nicht zuletzt an den oftmals schlechten Arbeitsbedingungen und der schlechten Entlohnung.
Die Gewerkschaften dürfen hier nicht nachlassen. Sie müssen sich weiterhin für bessere Arbeitsbedingungen und für gute Arbeit einsetzen. Das ist eine ihrer originärsten Aufgaben, gerade auch mit Blick auf den demografischen Wandel. Denn mit Niedriglöhnen und prekären Arbeitsbedingungen können Fachkräfte weder geworben noch gehalten werden.
Arbeitsmigration innerhalb der EU
Dennoch spielt bereits heute die Arbeitswanderung innerhalb der EU eine Rolle. Und zwar aufgrund der Entwicklungen im Euro-Raum. Denn die unsägliche Krise in den südlichen Ländern der EU bewegt immer mehr, vor allem jungen Menschen dazu, ihr Land zu verlassen. Ein Teil von ihnen kommt nach Deutschland. Im vergangenen Jahr wanderten im ersten Halbjahr 306.000 EU-Bürger_innen nach Deutschland, 24 Prozent mehr als im Vorjahreszeitraum. Die meisten kamen aus Polen (89.000) und den anderen ost- und südosteuropäischen Staaten. Gleichzeitig stieg die Zuwanderung aus Südeuropa besonders stark an. Aus Griechenland kamen im ersten Halbjahr 2012 fast 16.000 Menschen, aus Spanien 11.000 und aus Portugal rund 6.000. Und diese Zahlen werden noch wachsen.
Allzu große Probleme, sich zu integrieren, werden die Südeuropäer_innen vermutlich nicht haben. Denn viele, die kommen, sind hochqualifiziert. Mehr als 40 Prozent der Zuwandernden im erwerbsfähigen Alter haben einen Hochschulabschluss, so das Statistische Bundesamt. Der Anteil der Hochqualifizierten liegt damit höher als in der gesamten deutschen Bevölkerung. Mehrere empirische Studien zeigen, dass der Arbeitsmarkt, die Gesamtwirtschaft und der Sozialstaat in Deutschland von diesen neuen Einwander_innen profitieren. Ein Problem wird diese Wanderung jedoch für die Herkunftsländer im Süden werden. Diese Länder leiden nämlich nicht nur an enormer Staatsverschuldung, mangelnder wirtschaftlicher Wettbewerbsfähigkeit und derzeit hoher Jugendarbeitslosigkeit, sondern an denselben demografischen Problemen wie Deutschland. Das heißt, kommen die jungen Menschen, die in ihrem Heimatland ausgebildet wurden, zu deutschen Unternehmen, so verschärfen sich die demografischen Probleme in ihren Herkunftsländern. Die Zuwanderung aus dem Süden beraubt Griechenland, Spanien und Portugal ihrer Talente. Wie soll in diesen Ländern ein wirtschaftlicher Aufschwung möglich sein, wenn diejenigen fehlen, die ihn anstoßen könnten? „Braindrain“ nennt sich das in der Fachsprache und die Folgen sind auch bekannt. Die Krisenländer brauchen Unterstützung und Investitionen, dafür muss mit der von Europa geforderten sozial unverträglichen Sparpolitik Schluss sein.
Zuwanderung von außerhalb der EU
Gleiches gilt, wenn es um die Zuwanderung aus Nicht-EU-Ländern geht. Denn wenn sie hochqualifiziert sind, sollen sie kommen. Das ermöglicht zumindest die Blue Card, die im vergangenen Jahr von der Bundesregierung aufgelegt wurde und inzwischen weiterentwickelt wurde. Ende Februar kündigte das Bundesarbeitsministerium eine zweite Art Blue Card light an. Laut Kabinettsbeschluss sollen künftig nicht nur hochqualifizierte Fachkräfte aus dem außereuropäischen Ausland nach Deutschland kommen dürfen, um hier zu arbeiten und den Fachkräftemangel zu beheben. Nein. Künftig dürfen unter bestimmten Voraussetzungen auch „im Mittelbau des Arbeitsmark-tes“ Migrant_innen zuwandern, die in ihrem Heimatland eine Ausbildung abgeschlossen haben. Bundesarbeitsministerin von der Leyen ist der Überzeugung: „Qualifizierte Zuwanderung ist ein wichtiger Baustein, wenn es darum geht, den Wohlstand in Deutschland langfristig zu sichern.“
Aber auch hier droht der Braindrain, wenn wir nur all jene hereinlassen, die gut ausgebildet sind. Neue Ergebnisse der Wachstums- und Regionalökonomie zeigen inzwischen längst, dass die Wanderung von hoch qualifizierten Arbeitskräften dazu führen kann, dass die Wachstumschancen in der Welt weiter auseinanderdriften. Hier gilt es aufzupassen – und das ist auch eine vordringliche Aufgabe der Gewerkschaften. Sie sind europäisch und international organisiert und haben damit nicht nur die nationalen Herausforderungen im Blick, sondern auch die Herausforderungen weltweit.
Eine zentrale Aufgabe der Gewerkschaften und der Betriebsräte vor Ort ist es, für die Integration der Zuwander_innen in den Unternehmen zu sorgen. Notwendig für solch eine Integration sind gleiche Arbeitsbedingungen, das heißt, es muss das Prinzip gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort gelten. Dabei darf es nicht zu einer Konkurrenzsituation zwischen einheimischen und ausländischen Arbeitskräften kommen. Die Zuwanderung darf nicht die Standards in den Betrieben senken. Dieser Anspruch muss auch von Seiten der Wirtschaft ernst genommen werden, denn nur so kann Fremdenfeindlichkeit vermieden werden. Alle Beschäftigten müssen gleich behandelt werden.
Den Gewerkschaften kommt ganz allgemein die Rolle eines Wächters zu. Sie müssen in einer älter werdenden Gesellschaft mahnen und alters- und alternsgerechte gute Arbeit einfordern. Sie müssen die Politik treiben und sensibilisieren. Gleichzeitig ist es aber auch ihre Aufgabe, die Folgen europäischer und internationaler Zuwanderung hier und in den Herkunftsländern im Blick zu haben. Der demografische Wandel darf nicht mit vermeintlich einfachen Lösungen beantwortet werden. Es sind Strategien notwendig, die alle Menschen im Blick haben und sozial gerecht ausgestaltet sind.
Beate Müller-Gemmeke MdB, geb. 1960, Sozialpädagogin, seit 2009 Mitglied des Deutschen Bundestages, Sprecherin für Arbeitnehmerrechte der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, Mitglied im Ausschuss für Arbeit und Soziales, Sprecherin von GewerkschaftsGrün.