von Prof. Klaus Dörre
Comeback der Gewerkschaften
Nach vielen Jahren der Mitgliederverluste und der sinkenden Mobilisierungsfähigkeit stehen die deutschen Gewerkschaften so gut da wie schon lange nicht mehr. Lohnforderungen finden Unterstützung in den Medien. Beim gesetzlichen Mindestlohn war das Agenda-Setting erfolgreich. Einige Mitgliedsgewerkschaften, allen voran die IG Metall sowie in jüngster Zeit auch Ver.di, verzeichnen Mitgliederzuwächse, und selbst im gewerkschaftsfernen Osten der Republik werden Interessenvertretungen in Betrieben gewählt, die lange als uneinnehmbare Festungen galten. All dies zeigt: Die Gewerkschaften sind zurück – im Betrieb, in der Tarifarena und auch im politischen Geschäft. Ist dieses Faktum unstrittig, so wird über Ursachen, Reichweite und Nachhaltigkeit der Gewerkschaftserfolge kontrovers diskutiert. Neben der Rekorderwerbsbeteiligung, die sich zugunsten von Organisationsmacht auswirkt, sind es wohl auch neue Formen des Organizing, der Mitgliedergewinnung und -aktivierung, die zum aktuellen Comeback der deutschen Gewerkschaften beigetragen haben. Nachfolgend wird diese Sichtweise in vier Schritten begründet. Im Anschluss an eine knappe Skizze gewerkschaftlicher Machtressourcen werden idealtypisch zwei Formen des Organizing skizziert und sodann anhand von Organizing-Beispielen deutscher Gewerkschaften präzisiert. Abschließend folgt ein kurzes Resümee, das den Stellenwert von Organizing-Ansätzen für gewerkschaftliche Erneuerungsprozesse diskutiert.
Machtressourcen und Gewerkschaften
Gewerkschaftsmacht basiert wesentlich auf dem Bemühen von Lohnabhängigen, Konkurrenzen zumindest zeitweilig und in den Grenzen bestimmter Branchen und Territorien zu überwinden, um auf der Basis geteilter Interessen und Wertorientierungen kollektive Ziele zu verfolgen. So definiert, handelt es sich um einen Spezialfall von Arbeiter- oder besser: von Lohnabhängigenmacht. Im Anschluss an Wright (2000, S. 962) und Silver (2005, S. 30-44) kann zwischen struktureller Macht und Organisationsmacht von Lohnabhängigen unterschieden werden. Strukturelle Macht erwächst aus der Stellung spezifischer Arbeiter- und Angestelltengruppen im ökonomischen System. Sie kann auf primärer Verhandlungsmacht beruhen, die einer angespannten Arbeitsmarktsituation entspringt, sie kann sich aber auch auf Produktionsmacht gründen, welche aus einer besonderen strategischen Stellung einzelner Lohnabhängigengruppen in der Wertschöpfungskette resultiert. Davon zu unterscheiden ist Organisationsmacht, die erst aus dem Zusammenschluss zu kollektiven politischen oder gewerkschaftlichen Organisationen entsteht und Logiken kollektiven Handelns umfasst, die darauf zielen, die Verfügungsgewalt des Kapitals über den Einsatz der Produktionsmittel einzuschränken oder zumindest zu modifizieren.
Strukturelle Macht wird häufig spontan ausgeübt. Sie tritt in Gestalt von „labour unrest“ (Silver 2005, S. 11, 44 ff.), plötzlichen Unruhen und situativer Empörung auf; sie kann sich aber auch als informelle Sabotage oder Absentismus in Produktionsprozessen bemerkbar machen. Organisationsmacht ist demgegenüber prinzipiell auf handlungsfähige Gewerkschaften, Parteien oder ähnliche Akteure angewiesen. Während strukturelle Macht ohne Gewerkschaftsapparate und formale Organisationen auskommen kann, handelt es sich bei Organisationsmacht um eine Ressource, die nur durch strategisch geplantes kollektives Handeln und formale Organisierung zu erschließen ist.1 Organisationsmacht von Gewerkschaften kann die strukturelle Macht partikularer Lohnabhängigengruppen substituieren und erweitern, aber doch nicht vollständig ersetzen. Letztendlich ist Organisationsmacht eine abgeleitete Machtform, die kaum ohne professionelle Repräsentanten, ohne haupt- und ehrenamtliche Funktionäre auszukommen vermag.
Institutionelle Macht und Gewerkschaften
Allerdings lässt sich die Macht von Lohnabhängigen auch jenseits von Organisationsgrenzen institutionalisieren. Neben den beiden klassischen Formen von Arbeiter- oder besser: von Lohnabhängigenmacht existiert – was Beverley Silver ausblendet – vor allem in den entwickelten Kapitalismen noch eine dritte Machtquelle, eben institutionelle Macht. Für sie ist charakteristisch, dass Institutionen soziale Kompromisse über ökonomische Konjunkturen und kurzzeitige Veränderungen gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse hinweg festschreiben und teilweise auch gesetzlich fixieren. Strukturelle und Organisationsmacht werden auf diese Weise in gesellschaftliche Institutionen inkorporiert (Fligstein 2001). Die Beziehungen zwischen organisierter und institutioneller Arbeitermacht sind nicht einfach zu modellieren. So ist wahrscheinlich, dass die Organisationsmacht von Lohnabhängigen stark entwickelt sein muss, damit die Gegenseite deren Institutionalisierung anerkennt und akzeptiert. Ist sie erst konstituiert, kann institutionelle Macht positiv auf die Organisationsmacht etwa der Gewerkschaften zurückwirken. Umgekehrt liegt nahe, dass eine Aushöhlung und Schwächung von Institutionen, die gewissermaßen geronnene Lohnabhängigeninteressen verkörpern, destruierend auf die organisierte Repräsentanz von Arbeiter_innen und Angestellten zurückwirken können.
Die Institutionalisierung von Arbeitermacht erlebte ihre Blütezeit in den „goldenen Jahren“ eines prosperierenden Wohlfahrtskapitalismus. Allerdings variierte die Inkorporierung von Lohnabhängigeninteressen von Staat zu Staat. Vor allem skandinavische Sozialwissenschaftler_innen argumentieren, dass das unter dem Einfluss von Arbeiterbewegungen erreichte Niveau einer De-Kommodifizierung von Lohnarbeit maßgeblich auf die institutionelle Ausprägung von Wohlfahrtsstaaten Einfluss nimmt. Zugespitzt formuliert: Je stärker die Organisations- und Mobilisierungsfähigkeit von Arbeiterbewegungen, desto umfassender und expansiver der Wohlfahrtsstaat (z. B. Korpi 1983; Esping-Andersen 1985). Sicher, darauf haben Kritiker_innen dieser These hingewiesen, reicht der Verweis auf die Stärke von Arbeiterbewegungen allein nicht aus, um die institutionellen „Varieties of Capitalism“ angemessen erklären zu können (vgl. Esping-Andersen 1998). Dennoch spricht einiges dafür, dass die Institutionalisierung von Arbeitermacht und die Expansion des Wohlfahrtsstaats (Rothstein 1992, 1998) einander zumindest während einer spezifischen Entwicklungsetappe der westlichen Kapitalismen wechselseitig positiv verstärkt haben.
Reproduktionsbedingungen institutioneller Macht
Das kann dazu führen, dass auch die gewerkschaftlichen Handlungsstrategien variieren, wenn die Institutionensysteme unter Veränderungsdruck geraten. Institutionalisierte Arbeitsbeziehungen legen den Gewerkschaften Handlungsstrategien nahe, die auch dann noch überzeugend erscheinen, wenn sich gesellschaftliche Kräfteverhältnisse bereits gravierend verändert haben. Die Nutzung institutioneller Macht setzt in einem solchen Fall voraus, dass die Gewerkschaften trotz nachlassender Bindungsfähigkeit gesellschaftlich weiter als authentische Repräsentant_innen der Lohnabhängigen anerkannt werden. Die Chance, institutionelle Macht über ihre Erzeugungsbedingungen hinaus wirksam werden zu lassen, kann Gewerkschaften dazu animieren, Repräsentationsdefizite durch institutionenkonformes Verhalten kompensieren zu wollen. Dabei laufen die Lohnabhängigenorganisationen jedoch beständig Gefahr, Handlungsstrategien zu konservieren, denen die Geschäftsgrundlage allmählich abhanden kommt. Die Gefahr eines Missmatchs zwischen institutioneller und Organisationsmacht von Gewerkschaften dürfte in Arbeitsbeziehungssystemen mit einem hohen Institutionalisierungsgrad besonders ausgeprägt sein. Umgekehrt sind Gewerkschaften in voluntaristischen Systemen – nicht automatisch, sondern im Sinne strategischer Optionen – möglicherweise rascher zu grundlegenden Veränderungen ihrer organisationalen Praktiken in der Lage als Arbeitnehmerorganisationen in einem vermeintlich robusten institutionellen Schutzraum.
Strategien kooperativer Einflussnahme, gleich ob Lohnzurückhaltung oder Beteiligung an regionaler Strukturpolitik und betrieblicher Modernisierung (Dörre/Röttger 2006: 229 ff.), versuchen, den Gewerkschaftseinfluss mittels Institutionenpflege zu erhalten. Solche Strategien können zeitweilig durchaus erfolgreich sein. Sie setzen aber relative Machtgleichgewichte zwischen Kapital und Arbeit voraus, die nur fortbestehen, wenn auch die Mittel vorhanden sind und genügend Machtressourcen reproduziert werden, um der Ausprägung großer Machtasymmetrien gegebenenfalls wirksam entgegentreten zu können (Aronowitz 2005; Carter 2006: 415-426; Naglo 2003). Gelingt dies nicht, geht die Logik der Einflussnahme früher oder später zu Lasten der gewerkschaftlichen „Sozialintegration“, das heißt sie schwächt die Motivation potentieller Mitglieder und reduziert zugleich die Binde- und Konfliktfähigkeit der Gewerkschaften. Ein solcher Umschlagpunkt scheint inzwischen auch in Deutschland erreicht. Jedenfalls hat die Politik der Lohnzurückhaltung und der Wettbewerbspakte den Mitgliederschwund der Gewerkschaften nicht stoppen können; Mitgliederzuwächse gibt es zumeist nur dann, wenn Gewerkschaften ihre Konfliktfähigkeit mit für die Mitglieder guten Resultaten unter Beweis stellen (Dribbusch 2011).
Organizing – strategischer Organisationswandel "Made in USA"
Die schleichende Erosion von institutioneller Macht hat einen Teil der DGB-Gewerkschaften dazu motiviert, nach neuen Wegen zur Stärkung von Organisationsmacht Ausschau zu halten. Das gilt insbesondere für Ansätze, die unter das Label „Organizing“ subsumiert werden. Stilbildend für die internationale Debatte um gewerkschaftliches Organizing ist das Beispiel der Service Employees International Union (SEIU) und ihrer inzwischen legendären Kampagne „Justice for Janitors“. Die SEIU hatte sich infolge eines umfassenden Organisationswandels innerhalb kurzer Zeit von einer dahinsiechenden Business Union in eine konfliktfähige Gewerkschaft mit den höchsten Mitgliederzuwächsen in den USA gemausert.2 Andere nordamerikanische Gewerkschaften wie UNITE (Union of Needletrades, Industrial and Textile Employees). HERE (Hotel Employees and Restaurant Employees International Union), UBC (Union Brotherhood of Carpenters and Joiners of America) und LIUNA (Laborers’ International Union of North America) haben sich zwischenzeitlich ebenfalls für eine Ausrichtung am sogenannten Organizing-Modell entschieden.3 Markenzeichen der genannten Gewerkschaften ist, dass sie sämtliche Aktivitäten mit dem Ziel einer nachhaltigen Stärkung ihrer Organisationsmacht verbinden. Und just diese Fokussierung dürfte wohl erheblich zur raschen internationalen Rezeption des Organizing-Modells beigetragen haben.
Begriffe und Modelle
Die Redeweise von einem Modell suggeriert indessen eine begrifflich-konzeptionelle Eindeutigkeit, die so nicht existiert. Gegenwärtig wird unter gewerkschaftlichen Praktiker_innen und Wissenschaftler_innen kontrovers diskutiert, welche Handlungsstrategien, Organisationsformen und interessenpolitischen Inhalte mit der Organizing-Kategorie bezeichnet werden können. In der deutschen Debatte werden teilweise Definitionen favorisiert, die sich wesentlich auf Organisationstechniken und Methoden der Mitgliederwerbung konzentrieren (z. B. Dribbusch 2007, S. 30 ff.). Das ist durchaus legitim, zumal Fragen nach der Übertragbarkeit von Organizing-Ansätzen auf deutsche Verhältnisse sich auf diese Weise pragmatisch beantworten lassen. Allerdings koppelt ein solch enges Verständnis die Organizing-Debatte von anderen Dimensionen gewerkschaftlicher Erneuerung ab. Um dergleichen zu vermeiden, kann an eine Organizing-Definition angeknüpft werden, wie sie die US-amerikanischen Sozialwissenschaftlerinnen Voss und Sherman (2000) vorgeschlagen haben. Die beiden Autorinnen haben gezeigt, wie bürokratische Strukturen und eingeschliffene Praktiken so verändert werden können, dass es zu einer Wiederbelebung gewerkschaftlicher Aktivitäten und zu einer erhöhten Mitgliederbindung kommt. Entscheidend ist demnach der Wechsel von einem Service-Modell gewerkschaftlicher Repräsentation, das eine weitgehend passive Mitgliedschaft über qualifizierte Dienstleistungen zu binden sucht, zu einem Organizing-Modell, welches auf Mitgliedermobilisierung setzt, die Arbeitspraxis der Basisorganisationen verändert und neue, partizipative Organisationsstrukturen schafft.
Zwei Grundvarianten des Organizing
Von Beispielen aus den USA inspiriert, arbeiten Voss/Sherman (2000) drei Faktorenbündel heraus, die den erfolgreichen Organisationswandel erklären sollen. Zwei Beobachtungen beziehen sich auf innerorganisatorische Phänomene. Zum einen schafft das verbreitete Bewusstsein über eine tiefe politische Krise der Organisation an der Basis Voraussetzungen für einen Führungswechsel. Das neue Personal, das sich lokal durchsetzt, verbindet die eigene Positionierung mit einer strategischen Neuorientierung. Zum anderen bleibt der Wandel aber nicht auf die örtlichen Gewerkschaftsgliederungen beschränkt. Er erfasst die gesamte nationale Organisation und ist, wie im Fall der SEIU, teilweise mit heftigen Konflikten an der Spitze der Gewerkschaft verbunden. Von zentraler Bedeutung ist indessen eine dritte Beobachtung: Ein Teil der Führungskräfte, die – mitunter aufgrund von Druck aus der Zentrale – neu eingestellt werden, kommt „von außen“ und verfügt über Erfahrungen mit sozialen Bewegungen, Graswurzelinitiativen und Stadtteilarbeit. Den bewegungssozialisierten Gewerkschaftern fällt es offenbar leichter, einen umfassenden Strategiewechsel in Gang zu setzen. Sie verfügen in der Regel über komplexere Gerechtigkeitsvorstellungen als Gewerkschafter_innen „mit Stallgeruch“. Eingefahrene Gewerkschaftstraditionen und Handlungsroutinen verfangen bei ihnen nicht. Dafür sind die neuen Aktivist_innen mit Techniken sozialer Mobilisierung in der Zivilgesellschaft bestens vertraut. Aufgrund ihrer alten Kontakte sehen sie sich zugleich in der Lage, Bündnisbeziehungen zu NGOs und Bewegungen außerhalb der Arbeitswelt zu knüpfen, um deren besondere Machtressourcen für die Gewerkschaft zugänglich zu machen (ebd., S. 327-331).
Die beiden Grundvarianten des Organizing
Schon die starke Betonung des Bewegungsmoments signalisiert, dass Voss und Sherman mit dem Organizing-Modell keineswegs ein inhaltsleeres Set an Rekrutierungstechniken assoziieren. Vielmehr beschreiben sie einen Typus des Gewerkschaftshandelns, der sich durch die Beteiligung von Mitgliedern an der Politikentwicklung, durch unkonventionelle und teilweise höchst konfliktträchtige Aktionsformen sowie eine thematisch breite politische Agenda auszeichnet. Im Zentrum offensiver Organisierungsmodelle steht die Gewinnung neuer Mitglieder, ein Ziel, zu dessen Realisierung unkonventionelle, teilweise auch konfrontative Taktiken angewendet werden (ebd., S. 316). Charakteristisch für entsprechende Ansätze ist die starke Betonung von sozialer Gerechtigkeit und Menschenwürde. So verstanden, impliziert der Übergang zum Organizing-Modell einen strategischen Organisationswandel, der auch die Beziehungen zwischen gewerkschaftlichen Funktionsträgern und (potenziellen) Mitgliedern nachhaltig verändert. Mittlerweile sind die Befunde von Voss und Sherman durch zahlreiche weitere Studien erhärtet worden (z. B. Fiorito 2004; Heery 2005). Wir gehen davon aus, dass Bewegungsorientierung, Mitgliederpartizipation und Kampagnenfähigkeit ein konzeptionelles Dreieck bilden, in dem sich – jenseits institutioneller Besonderheiten der nationalen Systeme der industriellen Beziehungen – gewerkschaftliche Erneuerung vollziehen kann.
Organizing – eine strategische Option auch für deutsche Gewerkschaften
Lassen sich die US-amerikanischen Erfahrungen auf deutsche Verhältnisse übertragen? Häufig wird diese Frage angesichts der unterschiedlichen nationalen Systeme industrieller Beziehungen und der divergenten Gewerkschaftstraditionen mit einer gehörigen Portion Skepsis beantwortet. Aller berechtigten Warnungen vor unreflektierten Übernahmen von Praktiken aus anderen Arbeitsbeziehungsmodellen zum Trotz (Frege 2000), haben Organizing-Ansätze inzwischen in der Bundesrepublik rasch Karriere gemacht. In der IG Metall legt eine eigens geschaffene Kampagnenabteilung Organisierungs-Projekte auf. Die Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di erprobt Organizing unter anderem in Krankenhäusern, im Handel und im Überwachungsgewerbe. Auch die Gewerkschaft Bau, Agrar, Umwelt (BAU) bildet Organizer_innen aus und bemüht sich um eine offensive Mitgliederrekrutierung. Die Frage ist nicht mehr ob, sondern wie von den angelsächsischen Beispielen, vor allem aber auch aus eigenen Organizing-Experimenten gelernt wird. Noch ist es viel zu früh, um bereits eine abschließende Bewertung von Pilotversuchen vorzunehmen. Einige Projekte befinden sich erst am Beginn, abgeschlossene sind noch nicht ausgewertet, die Erfahrungen mit fehlgeschlagenen Projekten werden eher unter dem Teppich gehalten, eine wissenschaftliche Evaluierung kann erst mit zeitlichem Abstand erfolgen und über Erfolgskriterien wird teilweise innerorganisatorisch sehr kontrovers diskutiert.
Beispiele für Organizing deutscher Gewerkschaften
Ungeachtet dieser Einschränkungen lassen sich auf der Grundlage empirischer Forschungen doch erste Erkenntnisse zur Organizing-Praxis deutscher Gewerkschaften formulieren.
(1) Strategische Handlungsfähigkeit
Erfolgreich sind Organizing-Projekte nur dann, wenn sie mit ausreichenden Ressourcen ausgestattet sind, mit langem Atem betrieben und von den lokalen Gewerkschaftsleitungen unterstützt werden. Sind diese Bedingungen nicht gegeben, erweisen sich Organizing-Projekte, wie Nachtwey/Wolf (2013) an Beispielen aus dem Krankenhaussektor belegen, häufig als Strohfeuer. Die hauptamtlichen Organizer_innen, die von „außen“ kommen, erzielen zwar möglicherweise punktuelle Erfolge bei der Mitgliederrekrutierung; doch mit der Beendigung des Projekts und dem Rückzug des professionellen Organizing-Teams zerfallen die Ansätze. Nachhaltig wirken Organizing-Ansätze, wie die Autoren ebenfalls anhand eines Klinikum-Falls belegen, sofern es den lokalen Akteur_innen gelingt, „strategische Handlungsfähigkeit“ zu entwickeln. Damit ist gemeint, dass die lokalen Gewerkschafter_innen sich selbst in die Lage versetzen müssen, im Betrieb „politikfähig“ zu sein, das heißt Taktiken und Ressourceneinsatz flexibel an variierende Situationen anzupassen. Dazu gehört es auch, Erfolge und Misserfolge anhand klar identifizierbarer Kriterien offen gegenüber Mitgliedern und Aktiven zu kommunizieren.
(2) Problem Nachhaltigkeit
Expansives Organizing in schwach organisierten Betrieben und Branchen zielt – anders als in den USA – häufig zunächst auf Betriebsratsgründungen. Hier ergeben sich teilweise ähnliche Probleme wie im Falle der Mitgliedergewinnung. Hat eine im Zuge des Organizings aktivierte Gruppe von Gewerkschafter_innen erst einmal einen Betriebsrat gegründet oder, auch das kommt vor, die Mehrheit in einem Betriebsratsgremium gewonnen, passt sie sich häufig rasch den institutionellen Gegebenheiten an. Mitgliederpartizipation, Kampagnen- und Bewegungsorientierung kommen, wie Tom Urban am Fall eines Betriebs aus der Telekommunikationsbranche schildert (es handelt sich um einen Fall aus einer noch nicht fertig gestellten Dissertation), zum Erliegen, sobald die professionellen Organizer_innen ihre Arbeit eingestellt haben. Schon im Anfangsstadium von Organizing-Prozessen kann sich eine andere Problematik einstellen.
(3) Organisierung schwacher Interessen
Organizing kann in Branchen, Betrieben und in Gruppen erfolgreich sein, die sich traditionell durch eine schwache gewerkschaftliche Repräsentanz auszeichnen. Das gilt insbesondere für prekär Beschäftigte und hier insbesondere für Leiharbeiter_innen. Organisationserfolge stellen sich in diesem Bereich teilweise auch unabhängig von gezieltem Organizing ein. Offenbar wächst die Konfliktbereitschaft gerade in Dienstleistungsbereichen mit hohen Anteilen an häufig prekärer Frauenarbeit. Streiks nehmen nicht nur zu (Dribbusch 2011, Uellenberg 2013), sie werden tendenziell weiblicher und finden zunehmend in Bereichen statt, in denen, wie im Falle der Erzieherinnen, gewerkschaftliche Organisationsmacht lange Zeit unterentwickelt war (Kutlu 2013). Der von mehreren DGB-Gewerkschaften getragenen Mindestlohn-Kampagne kommt in diesem Feld eine symbolisch-politische Funktion zu. Nicht minder wichtig sind dezentrale Initiativen. So haben zahlreiche DGB-Gliederungen mit Bestandsaufnahmen zur Entwicklung prekärer Beschäftigung begonnen. Im Organisationsbereich der IGM zielte eine Kampagne zunächst darauf, wenn nicht „Equal pay, equal treatment“ so doch „Besser-Vereinbarungen“ für Leiharbeiter_innen durchzusetzen. Inzwischen gibt es eine branchenspezifische tarifliche Regelung für Leiharbeiter_innen, die Lohnzuschläge sowie Übernahmeregelungen vorsieht. Auch dies dürfte erklären, weshalb ein erheblicher Teil der Mitgliederzuwächse im Organisationsbereich der IGM auf Eintritte von Leiharbeiter_innen zurückzuführen ist (Urban 2013, Wetzel 2012). Allerdings handelt es sich um Erfolge unter Vorbehalt. „Wir geben der Gewerkschaft eine Chance, wollen aber sehen, dass etwas für uns dabei herausspringt“, lautet das bezeichnende Statement eines jungen Leiharbeiters, der diesen Sachverhalt treffend auf den Punkt bringt (Dörre et. al 2013).
(4) Bedingungsgebundene Gewerkschaftsarbeit
Lernprozesse machen sich auch in Organisationsbereichen bemerkbar, in denen eine bewusste Orientierung an Organizing-Ansätzen nicht vorhanden ist oder gar abgelehnt wird. In diesem Zusammenhang fällt die Wiederentdeckung der Mitglieder auf, die sich in unterschiedlichen gewerkschaftlichen Politikansätzen bemerkbar macht. Ein markantes Beispiel stellt die bedingungsgebundene Tarif- und Gewerkschaftsarbeit von Ver.di dar. Bei dem seit 2009 vor allem in den neuen Ländern angewandten Ansatz wird das Ungerechtigkeitsgefühl von Beschäftigten anhand von Kernarbeitsthemen im eigenen Betrieb abgefragt, um daraus gemeinsame Forderungen und eine strategische (Ver-)Handlungsperspektive zu entwickeln (Dilcher 2010). Ver.di kombiniert bei diesem Ansatz, der zuerst im Gesundheitssektor angewandt wurde, strategische Tarifpolitik mit stärkerer Beteiligungsorientierung und gewerkschaftlicher Aktivierung. Die Prämisse dieses Ansatzes lautet: Verhandelt wird nur, sofern wir im Unternehmen über genügend aktive Mitglieder verfügen, die bereit sind, eine Tarifforderung notfalls auch konfliktorisch durchzusetzen. Im Zuge der bedingungsgebundenen Tarif- und Gewerkschaftsarbeit wurde in einem Pilotprojekt in einem Klinikum erfolgreich mit der Geschäftsführung über das Gerechtigkeitsanliegen der Beschäftigten verhandelt und gleichzeitig der gewerkschaftliche Organisationsgrad von etwa 3,5 auf 30 Prozent gesteigert. Die betriebliche Interessenvertretung hatte zunächst darüber informiert, dass bei Fortbestehen der tariflichen Regelungen eine wachsende Diskrepanz der Löhne von Ost- und West-Beschäftigten die Folge wäre. Dies löste einen Mobilisierungsschub im Betrieb aus. Ein Angebot der Geschäftsleitung, das Betriebsrat und Gewerkschaftsleitung bereits anzunehmen bereit waren, wurde in einer Mitgliederversammlung abgelehnt und mittels Arbeitskampf ein noch besserer Abschluss durchgesetzt. Inzwischen macht der Ansatz in unterschiedlichen Organisationsbereichen von Ver.di Karriere. Dabei erweist es sich als Schwierigkeit, ihn im Gültigkeitsbereich von Flächentarifverträgen anzuwenden.
(5) Organisierung ohne Organizing
Auch im Organisationsbereich der IG Metall gibt es Rekrutierungserfolge, die sich nicht auf ambitionierte Organizing-Projekte zurückführen lassen, wohl aber Elemente solcher Praktiken aufgreifen. Dazu gehört zunächst eine „nachholende Professionalisierung“ der Mitgliederbetreuung durch Rückholgespräche und Ähnliches (Urban 2013). Hinzu kommt aber auch ein betriebliches Krisenmanagement, das zu einem wachsenden Ansehen der Gewerkschaften in den Belegschaften beigetragen hat. Allerdings sind es keineswegs die „Elitendeals“ von 2008-2009, die mit Kurzarbeit und Abwrackprämie für Organisationserfolge verantwortlich sind. Betriebsrecherchen legen eine differenzierte Betrachtungsweise nahe. Danach war der gewerkschaftliche „Krisenkorporatismus“ auf der Betriebs- und Unternehmensebene häufig mit Konflikten um Beschäftigungssicherung verbunden, in deren Verlauf auch die Anerkennung der Gewerkschaften zunahm. So wollte das Management des Zulieferunternehmens Schaeffler 4.000 Beschäftigte entlassen, um die Absatz- und Liquiditätskrise des Unternehmens zu meistern. Mobilisierungen bis hin zu Streikmaßnahmen konnten dies verhindern – zum Segen des Unternehmens, wie sich rasch herausstellte. Denn als die Konjunktur wieder anzog, wäre es schwer geworden, zuvor entlassene Fachkräfte wieder einzustellen. Wie Recherchen in anderen Betrieben bestätigen (Schmalz u.a. 2013), ist es die eigenständige, aktive betriebliche Interessenpolitik, die – gerade auch in schwierigen Krisensituationen – zu einer Stärkung gewerkschaftlicher Organisationsmacht beitragen kann.
All diese Beispiele belegen, dass die deutschen Gewerkschaften dabei sind, Erfahrungen mit neuen Konzepten zu machen, die der aktiven Stärkung von Organisationsmacht dienen. Gleich, ob sie offiziell als Organizing bezeichnet werden oder ob sie sich im Gegenteil vom Organizing-Begriff distanzieren – stets geht es darum, die gewerkschaftliche Organisationsfähigkeit und -bindung mittels direkter Partizipation von (potentiellen) Mitgliedern zu stärken. Zwar scheint die Prognose, der zufolge „betriebliche Interessenvertretungen nach einer Phase des kooperativen Co-Managements nun vermehrt in eine basisorientierte Interessenvertretung hineinsteuern“ (Rehder 2006, S. 242) noch einigermaßen verwegen. Der Verbreitungsgrad unkonventioneller Mitgliederpartizipation ist vorerst wohl noch begrenzt. Auch ist die Initiierung dezentraler Beteiligungsformen innergewerkschaftlich höchst umstritten, ihre Auswirkungen auf überbetriebliche Tarifabkommen lassen sich noch nicht präzise benennen und teilweise fehlt es – auch aufgrund fehlender Qualifikationen – schlicht an partizipationsbereiten Gewerkschaftsmitgliedern. Dennoch kann kein Zweifel bestehen, dass, ganz im Sinne des Organizing-Modells, das Problem einer Stärkung gewerkschaftlicher Organisationsmacht innergewerkschaftlich wie auch in der betrieblichen Arena, wieder an Bedeutung gewonnen hat und weiter gewinnt.
Gewerkschaften und soziale Bewegungen
Selbst beim schwierigen Thema „Gewerkschaften und soziale Bewegungen“ lassen sich bei genauem Hinsehen größere gemeinsame Schnittmengen feststellen, als man auf den ersten Blick vermuten könnte. Zwar hatten zum Beispiel die Anti-G8-Mobilisierungen für die DGB-Gewerkschaften eine ungleich geringere Bedeutung als für einen Teil der Organizing-Unions in den USA; die Themen der globalisierungskritischen Bewegungen sind aber auch für die deutschen Gewerkschaften relevant. Es gibt einen teils formalisierten, teils informellen Austausch mit sozialen Bewegungen auf Spitzenebene wie an der Basis. Einige Gewerkschaften sind mit Repräsentant_innen an der Sozialforen-Bewegung4 beteiligt, teilweise kommt es zu inhaltlich-politischem (Arbeitsmarktpolitik, Bahn-Privatisierung) und in begrenztem Maße auch zu personellem Austausch. In diesem Zusammenhang darf nicht übersehen werden, dass die deutschen Gewerkschaften den US-amerikanischen Organizing-Unions auf vielen betriebs- und tarifpolitischen Feldern noch immer ein gutes Stück voraus sind. Das gilt zum Beispiel für arbeitspolitische Gestaltungsansätze, wie sie im Projekt „Gute Arbeit“ zu unterschiedlichen Themen (Gesundheitsprävention, demographischer Wandel, Leistungssteuerung; Schröder/Urban 2009) erprobt werden. Diese Ansätze sind auch geeignet, um den Gewerkschaften in den expandierenden Segmenten mit qualifizierten, teilweise managementnahen Tätigkeiten Aufmerksamkeit zu verschaffen. Vorerst befinden sich entsprechende Ansätze aber noch im Stadium der Erprobung, und sie sind bislang nicht systematisch mit Initiativen zur Stärkung gewerkschaftlicher Organisationsmacht verbunden worden.
Vergleich USA und Deutschland
Am Maßstab einer Überwindung der gewerkschaftlichen Repräsentationskrise gemessen, handelt es sich bei den Organizing-Ansätzen sowohl in den USA als auch in Deutschland vorerst um zarte Pflänzchen der Erneuerung, deren Wirkungen erst mit gebührendem zeitlichen Abstand bewertet werden können. Als Besonderheit gegenüber der nordamerikanischen Kontrastfolie springt im Falle der deutschen Gewerkschaften ins Auge, dass zahlreiche Aktivitäten auf eine Sensibilisierung vorhandener Betriebsrät_innen, die Neugründung von Interessenvertretungen oder die Wiedererlangung von Tarifverträgen zielen. Auch aus diesem Grund schlagen sich Kampagnen und Initiativen nicht unmittelbar in Mitgliederzuwächsen nieder. Allerdings zeigt sich ebenfalls, dass Gewerkschaftsgliederungen durchaus zu Schrittmacher_innen bei der aktiven Stärkung von Organisationsmacht werden können. Bis zu einer systematischen Ausrichtung nicht nur des Funktionärskörpers, sondern auch eines Teils der Mitgliedschaft auf offensives Organizing („Mitglieder werben Mitglieder“), ist es aber noch ein weiter Weg.
Transnationales Lernen
Versucht man, die Schwierigkeiten transnationaler Lernprozesse zu systematisieren, zeigt sich rasch, dass längst nicht alle Hemmnisse auf institutioneller Divergenz beruhen. In Deutschland hat sich vorerst ein eher pragmatisches Organizing-Verständnis durchgesetzt. Die Betonung von Professionalität bei der Mitgliedergewinnung provoziert häufig Kritiken, die – aus der Warte eines weiten Organizing-Verständnisses formuliert – vor Entpolitisierung warnen (vgl. Beiträge in Hälker 2008). Demgegenüber sei zunächst angemerkt, dass eine pragmatische Orientierung durchaus ihre Berechtigung besitzt. Das vor allem aus drei Gründen. Erstens wurzelt eine reale Schwierigkeit von Adaptionsversuchen darin, dass die Implikationen eines politischen Organizing-Verständnisses häufig sehr vage bleiben. Allgemeine Hinweise auf Konfliktfähigkeit, Bündnispolitik und die Notwendigkeit intensiver Mitgliederwerbung lösen gerade bei aktiven Gewerkschafter_innen allenfalls Schulterzucken aus. Können diese gewerkschaftlichen Schlüsselgruppen doch mit gewissem Recht behaupten, alles vermeintlich Neue bereits zu praktizieren. Tatsächlich lässt sich das Innovative an Organizing-Ansätzen – das Mapping von Betrieben und Belegschaftsgruppen, die Vorbereitung durch strategische Recherche, detailliert geplante Kampagnen, die systematische Erzeugung von Druck auch außerhalb des Betriebs oder die symbolische Konstruktion von Kollektividentitäten – im Grunde nur durch konkreten Anschauungsunterricht, durch Lernen von und in der Praxis herausarbeiten. Zweitens bleiben auch politisierende Organizing-Konzepte wirkungslos, sofern sie nicht in lokale und betriebliche Praktiken münden, sondern in Apparat-Kontroversen verharren, die ohne praktische Folgen bleiben. Drittens schließlich tauchen dort, wo Organizing zur Praxis in den Betrieben wird, tatsächlich Übertragungsschwierigkeiten auf, die ihre Ursache auch in institutioneller Divergenz haben.
Organizing und innerbetriebliche Machtverschiebungen
Wie bereits angesprochen, sind die deutschen Gewerkschaften – anders als die US-amerikanischen, die ihre Anerkennung unmittelbar in den Firmen durchsetzen müssen – in den Unternehmen vor allem über Betriebsrät_innen präsent. Von den Belegschaften gewählt, resultiert die gewerkschaftliche Bindung betrieblicher Interessenvertreter_innen wesentlich aus politischer Einsicht, organisatorischen Vorteilen und moralischer Verpflichtung. Betriebsrätliche Macht beruht vor allem darauf, dass die Interessenvertreter_innen uneingeschränkt als Repräsentant_innen ihrer Belegschaften agieren können. Organizing-Ansätze rütteln jedoch zumindest implizit am Vertretungsmonopol der Betriebsrät_innen. Wo in den Unternehmen aktive gewerkschaftliche Kerne entstehen, kommt es unweigerlich zu Verschiebungen im Macht-Dreieck von Belegschaft, Betriebsrat und Gewerkschaft. Eingespielte Arbeitsteilungen werden in Frage gestellt, Betriebsrät_innen müssen sich gegenüber einem neuen Akteur legitimieren, die Gewerkschaft ist nun im Betrieb sichtbar und die Managementseite kann sich nicht mehr darauf verlassen, dass in jedem Fall gilt, was der Betriebsratsvorsitzende sagt. Solche Veränderungen können nicht spannungsfrei verlaufen. Relativ unproblematisch sind sie dort, wo Betriebsrät_innen ein explizit gewerkschaftliches Selbstverständnis pflegen (Candeias/ Röttger 2008). Anders verhält es sich bei Interessenvertreter_innen mit schwacher gewerkschaftlicher Bindung oder gar gewerkschaftsskeptischer Haltung. Hier gibt es bereits Fälle, in denen Interessenvertreter_innen die betrieblichen Organizing-Aktivitäten als missliebige Konkurrenz betrachten und im Extremfall gar mit Gewerkschaftsaustritt quittieren.5 Derartige Konflikte müssen nicht zwangsläufig eskalieren, sie verweisen aber auf die Notwendigkeit, gewerkschaftliche Organizing-Aktivitäten frühzeitig und verbindlich mit den verantwortlichen Betriebsräten abzustimmen.
Demokratisierung als Strategie
Jenseits von Schwierigkeiten, die – auch – aus institutioneller Divergenz resultieren, stehen Organizing-Ansätze in den USA wie auch in Deutschland vor einem gemeinsamen Problem. Bei allem gebotenen Pragmatismus ist zu klären, aus welchen Gründen sich Beschäftigte überhaupt in Gewerkschaften organisieren und engagieren sollen. Diese zentrale Sinnfrage lässt ein Organizing-Verständnis, das primär auf neue Methoden der Mitgliederrekrutierung abstellt, unbeantwortet. Dementsprechend fragil sind dann häufig Rekrutierungserfolge. Zwar kann es in aufwendigen Kampagnen im günstigsten Fall gelingen, rasch neue Mitglieder zu gewinnen, doch die Zugänge sind nicht nachhaltig. Sobald die betriebliche Routine wieder eintritt, Positionen und Funktionen vergeben sind, gehen neue Mitglieder häufig genauso rasch verloren wie sie gekommen sind. Um organisationspolitisches Strohfeuer zu vermeiden, werden Organizing-Ansätze daher nicht umhinkommen, die Sinnfrage ihrer Adressat_innen zu beantworten. Die globale Finanzkrise und ihre Folgen bieten hierfür genügend „Problemrohstoff“. In einer Phase epochaler Umbrüche wären die Gewerkschaften schlecht beraten, würden sie sich infolge ihrer akuten Repräsentationsschwäche von der politischen Bühne verabschieden. Vielmehr müssen sie gerade jetzt den Nachweis erbringen, dass „sie allgemeine und weitverbreitete gesellschaftliche Anliegen repräsentieren“ (Crouch 2008, S. 146). Die Neudefinition von Wirtschaftsdemokratie, wie sie gegenwärtig in Ver.di und in der IG Metall diskutiert werden, wäre ein solches Anliegen. Soll es glaubwürdig formuliert und mit Organizing-Bestrebungen verknüpft werden, hat das unweigerlich Konsequenzen für das Selbstverständnis, die Organisationsstrukturen und die Programmatik der Gewerkschaften.
Alternative Gesellschaftsvorstellungen
Organizing, eingebettet in eine transformierende Demokratisierungsstrategie, kommt letztlich nicht ohne eine alternative Gesellschaftsvorstellung aus. Hier macht sich eine zentrale ideologische Schwäche vieler Gewerkschaftsbewegungen in den Zentren bemerkbar. Über Jahrzehnte haben nicht nur die US-amerikanischen, sondern auch die deutschen Gewerkschaften auf die Formulierung eines alternativen Gesellschaftsprojekts verzichtet. In der Stunde der Systemkrise des Finanzmarkt-Kapitalismus macht sich dieser Mangel sträflich bemerkbar. Lange schien es, als sei das Beschwören der Systemfrage ein angestaubtes Relikt aus der Mottenkiste unverbesserlicher Traditionalist_innen. In einer historischen Konstellation, in der der Finanzmarkt-Kapitalismus seine eigenen Legitimationsgrundlagen mit rapider Geschwindigkeit untergräbt und die Berater_innen des neuen US-Präsidenten für langfristige Investitionen in einen ökologisch-sozialen „New Deal“ plädieren, wäre es fatal, würden sich die Gewerkschaften mit organisationspolitischem Pragmatismus zufrieden geben. Gerade die aktiven Gruppen benötigen eine Grundüberzeugung, auf deren Basis sie die gesellschaftlichen Krisenphänomene in Argumente für gewerkschaftliche Organisierung ummünzen können. Die Idee, mit Organizing-Ansätzen demokratische Verhältnisse zu fördern, könnte Teil einer solchen Grundüberzeugung sein.
Vorerst jedoch haben sich innovative Praktiken und Erneuerungsbemühungen auch in Deutschland noch nicht zu einer kohärenten Interessenpolitik verdichten können. Von einem wirklichen strategischen Organisationswandel, wie ihn ein weites, ein politisches Organizing-Verständnis impliziert, kann in den DGB-Gewerkschaften vorerst noch keine Rede sein. Punktuell sind die Praktiker_innen bei der Erneuerung der Organisationsmacht von Lohnabhängigen aber schon weiter, als uns ein – auch sozialwissenschaftlich gestützter – Niedergangsfatalismus glauben machen will.
Fußnoten
1 In anderen Fällen kann sich strukturelle Macht in der gewerkschaftlichen Organisierung von oft berufsständischen Teilgruppen ausdrücken, die ihre strukturelle Macht vor allem zur Durchsetzung ihrer Interessen ohne übergreifendes Solidarprinzip einsetzen.
2 Was allerdings in jüngster Zeit auch mit sozialpartnerschaftlichen Abkommen kombiniert wird (Choi/Schmalstieg 2009).
3 Das Konzept ist selbst in der US-Gewerkschaftsbewegung umstritten. Fortwährende Auseinandersetzungen mündeten 2005 in die Gründung eines eigenständigen Dachverbandes Change to Win (CTW) der „Organizing-Gewerkschaften“, der teilweise etwa sechs Millionen Mitglieder vertrat. Inzwischen gibt es jedoch neue Spaltungen und auch die Nachhaltigkeit der Organizing-Praktiken, etwa von SEIU, ist höchst umstritten.
4 Die Sozialforen-Bewegung versteht sich als öffentlichen Raum der gemeinsamen Diskussion von Globalisierungskritikern, Kirchen, Gewerkschaftern, NGOs.
5 So erste Erkenntnisse aus einer Evaluierungsstudie zu verschiedenen Organizing-Projekten im Organisationsbereich von Ver.di (Nachtwey/Wolf 2013).
Literatur
- Aronowitz, S. (2005): On the Future of American Labor, in: Working USA. The Journal of Labor and Society 8 (3), S. 271-291.
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Klaus Dörre, Professor am Lehrstuhl für Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssoziologie der FSU Jena und Sprecher der DFG-KollegforscherInnengruppe "Landnahme, Beschleunigung, Aktivierung. Dynamik und (De-)Stabilisierung moderner Wachstumsgesellschaften".