von Firouz Vladi
Die Beteiligten an der Gründung des Landesverband der Muslime in Niedersachsen (Schura) waren von Anfang an der Auffassung, dass die Entwicklung des Islams in Niedersachsen, etwa durch den Religionsunterricht, mit den Institutionen des Landes Niedersachsen gemeinsam erfolgen muss. Nicht mit der Brechstange, nicht mit Klagen und Prozessen. Das führt niemanden weiter, es führt zur Verhärtung von Fronten, die man gar nicht erst aufbauen sollte. So entwickelt sich jetzt ein zunehmend konstruktives Miteinander, auch wenn es gelegentlich ächzt im Gebälk. Es geht um vertrauensbildende Maßnahmen zwischen den AkteurInnen und darin ist das Projekt – Gott sei gelobt - mit Erfolg gesegnet.
Zur Entstehung der Schura-Niedersachsen
Im Sommer 2001 hatte sich die Mehrzahl der muslimischen Organisationen Niedersachsens zweckorientiert zusammengetan und den „Arbeitskreis Islamischer Religionsunterricht“ gegründet. Dies waren zunächst fast alle nichtstaatlichen muslimischen Verbände und Organisationen, die es – soweit sich das beurteilen ließ – in Niedersachsen gibt.
Schon ein halbes Jahr später waren Niedersachsens MuslimInnen weiter zusammengerückt. Nicht weltpolitisch motivierte Ereignisse oder innenpolitische Sorgenfalten bildeten den Hintergrund, sondern das gewachsene Vertrauen der muslimischen Gruppen untereinander auf der einen Seite, die Erkenntnis über das zur besseren Integration Vernünftige auf der anderen Seite, besonders aber der zunehmende Druck von Seiten der muslimischen Eltern auf ihre Moscheegemeinden und Verbände und der Wille zum islamischen Religionsunterricht an den Schulen.
Im Jahre 2002 wurde dann auf einer breiten Basis, unter Berücksichtigung der Erfahrungen anderer islamischer Landesverbände und der in der religionsverfassungsrechtlichen Literatur formulierten Anforderungen an eine Religionsgemeinschaft der Landesverband der Muslime in Niedersachsen (Schura) als eingetragener Verein gegründet.
Schura, arabisch für Ratsversammlung, ist als korporativer Landesverband konzipiert, er umfasst als Mitglieder nur in Niedersachsen eingetragene Vereine. Schura soll die religiöse Basis, also die Orts- oder Moscheegemeinden als Religionsgemeinschaften im engeren Sinne repräsentieren. Vertretene Richtungen sind Sunniten und Schiiten. Dabei bildet sich mit einer türkischstämmigen Mehrheit sowie deutschen und arabischen MuslimInnen im Vorstand die Lebensrealität in Niedersachsen ab.
Mitglieder sind sowohl die Gemeinden aus fast allen nichtstaatlichen türkischen Verbänden, als auch Hochschulgruppen und Gemeinden insbesondere afghanischer, arabischer, bosnischer, pakistanischer, iranischer und deutscher Zusammensetzung sowie sufische und hochschulgebundene Gemeinden wie die Islamische Studentengemeinde an der Universität Clausthal mit eigenem Moscheegebäude. In der Gründungsphase war die Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion - DITIB beteiligt und stellte den ersten Vorsitzenden. Aus internen Gründen der DITIB musste dieser gemeinsame Pfad wieder verlassen werden, auch wenn zur Zeit, wie weiter unten gezeigt wird, nach neuen Wegen der Kooperation gesucht wird.
Deutlich wird an dieser selbst gewählten Struktur der Schura, und dies gilt ähnlich auch für mehrere andere Bundesländer, dass die MuslimInnen in Deutschland zwar noch vielfach an die Organisationen herkunftsländischer Identität gebunden sind, zugleich aber begonnen haben, Strukturen entlang des föderativen deutschen Staatsaufbaus zu bilden. Darin drückt sich deutlich eine Hinwendung zur Zukunft im deutschen Staate aus. Wer bei Schura Mitglied sein möchte, muss - neben der formellen Mitgliedschaft - eine Grundsatzerklärung unterzeichnen und in der Moschee - etwa am Schwarzen Brett - aushängen. (1)
Als Verband steht Schura vor der islamischen Aufgabe, den Mittelweg einzuhalten: Im Hinblick auf eine - gerade für die nachwachsende Generation – Lebensmitte in Deutschland klar im Aufbau einer muslimischen Repräsentanz und Religionsgemeinschaft voranzuschreiten und gleichzeitig die Moscheebasis, also die Mitglieder nicht zurückzulassen. Auch um nicht Gefahr zu laufen, dass sich ein Teil der Gläubigen als nicht verstanden oder repräsentiert abspaltet und eigene und gar fundamentalistische oder separatistische Wege einschlägt.
Dabei ist von Anfang an ein Anliegen der Schura, Spannungen zwischen MuslimInnen, die in nationalen, ethnischen, konfessionellen oder historischen Ursachen wurzeln und in ihren Herkunftsländern teils friedlich, teils - wie heute im Irak - gewalttätig ausgetragen werden, keinen Platz auf deutschem Boden finden zu lassen. Alle Verbände sind aufgerufen, allen Spaltpilzen wirksam zu begegnen und - mehr noch - Instrumente zu ihrer Überwindung zu entwickeln. Genau hier sollte auch ein Interesse des Landes liegen, den Verband auf diesem Wege nicht ohne Unterstützung zu lassen; dies betrifft hier insbesondere Investitionen in den Strukturaufbau.
Entwicklung des Schulversuchs zum islamischen Religionsunterricht
Die Religionsausübung ist geschützt und frei. Religionsunterricht ist eine gesetzliche Pflichtaufgabe des religionsneutralen Staates. Schura sieht hierin ein historisches und nicht hoch genug einzuschätzendes Geschenk der deutschen Gesellschaft und eine Chance. Diese Chance soll es auch ermöglichen, den Islam in Deutschland frei zu leben, selbstbestimmt von den hier lebenden MuslimInnen, frei von Einflussnahme des Auslands, frei von in- oder ausländischen staatlichen Versuchen der Gleichschaltung der Religion oder ihrer Institutionen. Es ist für die MuslimInnen eine positive Herausforderung, die islamische Lehre und die freiheitlich demokratische Grundordnung der Bundesrepublik als vereinbar festzustellen. Nur wenn ihre RepräsentantInnen dies bekennen und umsetzen, folgen ihnen auch die Menschen. Der Unterricht ist ein wichtiger Weg dorthin.
Der islamische Religionsunterricht, zu dem das Land in einer 2002 begonnenen Kooperation mit den MuslimInnen und mit Erfolg einen mehrjährigen Schulversuch auf Grundschulebene durchführt, soll in wachsendem Umfang, wie es das Grundgesetzt gebietet, als Regelunterricht angeboten werden. Schura hat die Weichen zu einer auch formal regulären Kooperation mit der Schulverwaltung gestellt und seine Satzung den aktuellen Anforderungen an die Definition einer Religionsgemeinschaft angepasst. Im Gespräch mit dem Kultusministerium konnte erreicht werden, dass bezüglich einer Teilnahmepflicht am Unterricht nicht eine förmliche Mitgliedschaft von Kind bzw. Eltern Anknüpfungspunkt ist – also anders als bei mit der Taufe in die Kirche eingetretenen christlichen Kindern. Vielmehr wurde ein Anmeldemodell etabliert.
Dabei war, um auch die kritischen „Durchhänger“ im Projektverlauf hier zu erwähnen, in der ersten Phase des Schulversuchs festzustellen, dass entgegen der Ankündigungen des Landes den MuslimInnen eine ernsthafte Mitsprache bei der Auswahl und Fortbildung der Lehrkräfte und der Auswahl der Lehrmittel keineswegs eingeräumt wurde, dass das Land durch die Selektion zur Teilnahme am Runden Tisch – zunächst unter Einbeziehung alevitischer, unter Auswahl nur im Stadtgebiet Hannover ansässiger Moscheevereine und unter Auslassung von Gemeinden der Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs - einseitig die Zusammensetzung der „Religionsgemeinschaft“ definierte. Auch war erkennbar eine offene Kommunikation zwischen Religionsgemeinschaft und Schulen bzw. Lehrkräften nicht gewünscht. Weiterhin war das Ziel keineswegs Religionsunterricht um des Verfassungsgebotes und der religiösen Erziehung willen. Vielmehr ging es sehr einseitig um Integration unter staatlicher und jedenfalls nichtmuslimischer Vorstellung von dem, was Islam wäre oder eher noch sein soll, um diese Integrationsaufgabe zu erfüllen. Offenkundig wurde das Projekt von manchem in Politik und Verwaltung im Schatten des 11. September 2001 und als ein prophylaktischer Baustein einer seither sich ausbreitenden Sicherheitsdebatte gesehen.
Auf viele Fragen der Eltern konnte Schura oft nicht antworten, denn es fehlte die ordentliche Einbindung in das Projekt; so entstand bei vielen Eltern und über sie bei vielen Moscheegemeinden der Eindruck, es handele sich doch nur um ein rein staatliches Projekt und die muslimischen Beteiligten am Runden Tisch seien Statisten. Da Schura als Verein demokratisch strukturiert ist, kann die Mitwirkung ihrer Beauftragten nur erfolgreich sein, wenn auch die Basis in der Elternschaft und den Moscheegemeinden das nötige Vertrauen in die Zukunft des Projekts aufbringt. Aber auch etliche Lehrkräfte waren verängstigt. Es bestanden Zweifel an den vorgegebenen Inhalten und Vermittlungsformen und es fehlte kompetente islamische Literatur. Islamische Feste sollten nicht gefeiert, Gebete nicht gehalten werden und für den Ramadan war eine persönliche Vorbildleistung der Lehrkräfte nicht erfragt.
Es war anstrengend, diese Phase durchzustehen; aber es gehörte auch zur verabredeten Vorgehensweise bei Schura, nicht hundert Prozent zu erwarten. Standen wir vor einem Scherbenhaufen? Ganz sicher nicht, denn es liegen ja Erfolge vor und es sind keine Grundsatzentscheidungen veröffentlicht oder Maßnahmen getroffen, die – soweit zu erkennen - einer Weiterentwicklung des Projektes in eine verfassungsgemäße Richtung entgegenstehen. Es hat sich vielmehr heute zum Guten gewendet! Dies ist sicher auch ein Erfolg des vertrauensbildenden und in der Sache gegenseitig motivierenden Miteinanders der Beteiligten am Runden Tisch. Und dafür gilt der Dank allen Beteiligten, besonders den ReferentInnen im niedersächsischen Kultusministerium!
Erfreulich ist, dass bei den Eltern und den Gemeinden das Angebot des islamischen Religionsunterrichts sehr gut aufgenommen wird. Die Teilnahmequote liegt bei 75 bis 95 Prozent an den jetzt ca. 42 Schulstandorten mit über 2.000 Schulkindern der Grundstufe. Inzwischen liegt ein gemeinsam erarbeitetes zweites Kerncurriculum vor [www.db2.nibis.de/1db/cuvo/datei/kc-iru-2010.pdf]. Ein für die Beteiligten Schulkinder zurzeit noch schmerzliches Defizit ist die Beschränkung auf die Primarstufe. Mit dem Wechsel in die weiterführende Schule fallen diese Kinder ins Leere.
Anforderungen im Kontext der Einrichtung eines Lehrstuhls für Islamische Studien
Schura begrüßt die Entscheidung des Bundes, u.a. einen Lehrstuhl für islamische Studien an der Universität Osnabrück einzurichten. Mit der Einführung islamischer Studien ist die Erwartung des allmählichen Entstehens einer islamischen akademisch-theologischen Elite auch in Deutschland verbunden. Hier bleibt zu hoffen, dass die deutsche Universität MuslimInnen die Kraft gibt, hagiographische Verkrustungen zu überwinden und zu eigenen guten Traditionen zurückzukehren, also zu einem vernunft- und wissensbetonten Selbstverständnis. Dies wäre auch das Beste, was über hier ausgebildete Imame in der Moschee der nachwachsenden Generation mitgegeben werden könnte: der gesellschaftlichen Umwelt und der eigenen Tradition mit Liebe und zugleich kritischer Reflexion zu begegnen.
Bei den Ausbildungsanforderungen bzw. den Inhalten ist zu berücksichtigen, dass etwa ein Drittel der Moscheen in Deutschland nichttürkischer Identität und in der Mehrheit ohne Anbindung an einen der großen Dachverbände sind. Hierzu gehören sunnitische und schiitische Richtungen, die sich auch in Bezug auf die Lehrpläne und das Lehrpersonal der staatlichen Universität wieder finden sollen.
Es fehlt bisher eine innerislamische Erhebung zu den Aufgaben und der Beschäftigungssituation von Imamen in den Moscheevereinen in Deutschland und daraus abgeleitet eine genaue „Arbeitsplatzbeschreibung“. Der Imam sollte nach Auffassung der Schura - aus Gründen der Verantwortungsteilung, der Identifikation und auch aus Kostengründen - im Moscheevorstand Verantwortung übernehmen, etwa als Geschäftsführer.
Avni Altiner, Vorsitzender der Schura, betonte unlängst: „Der weltanschaulich neutrale Staat muss sich aus den inneren Angelegenheiten der Religionsgemeinschaften heraushalten. Es ist Angelegenheit der Kirchen und anderen Glaubensgemeinschaften, über ihre religiösen Inhalte zu bestimmen. Die Wahrnehmung religiöser Aufgaben wird eben ausschließlich in den Moscheegemeinden und ihren Zusammenschlüssen geleistet, was sie kraft Verfassung zur Mitwirkung in dem vom Deutschen Wissenschaftsrat empfohlenen Beirat an der Universität berechtigt. Die Einbeziehung der muslimischen Verbände in wichtige Entscheidungsprozesse bringt auch Synergieeffekte mit sich: Durch die Möglichkeit zur Partizipation an wissenschaftlicher Theologie und der Demokratie wird eine Identifikation mit der hiesigen Gesellschaft, die ja mittlerweile ihre eigene geworden ist, gefördert.“ (Islamische Zeitung, Nr. 182, 8-2010)
In Niedersachsen ist die nötige Kooperation in einem Beirat an einem Lehrstuhl Sache der Landesverbände DITIB und Schura. Aber das vom Wissenschaftsrat in seiner Empfehlung vom Januar 2010 vorgeschlagene Beiratsmodell kann nur akzeptiert werden, wenn es in verbindlicher Weise einer Befristung unterliegt. Alles andere wäre die Einführung eines abgesenkten Sonder-Religionsverfassungsrechts für Muslime. Sobald der Staat sich die Einladung in den Beirat ganz oder teilweise vorbehält, übernimmt er bereits eine Definitionshoheit über den Islam; damit beginge der religionsneutrale Staat Verfassungsbruch!
Wenn von religionsverfassungsrechtlicher Seite sehr zu recht vor einem Sonderstaatskirchenrecht abgesenkten Niveaus für Muslime in Deutschland gewarnt wird, dann liegt der Ball jetzt auf der Seite der RepräsentantInnen und politischen MeinungsführerInnen des Islams in Deutschland. An ihnen liegt die Entscheidung, sich im abgesenkten Niveau, also Beiräten oder Runden Tischen, auf Dauer einzurichten oder einen Aufschwung in die Funktion einer Religionsgemeinschaft zu übernehmen; dies erwächst nur durch eigenes Tun, nicht durch Warten auf staatliches Handeln.
Die fünf norddeutschen islamischen Landesverbände (Schuras) haben auf der Herbstsitzung 2010 der „Konferenz der Islamischen Landesverbände“ (s.u.) ihre Unterstützung für die Einrichtung eines Lehrstuhls für Islamische Studien an der Universität Osnabrück vereinbart und die gemeinsame Mitwirkung in einem dort zu bildenden Beirat zugesagt. Damit strahlt dieses Projekt neben Niedersachsen positiv auf die muslimischen EinwohnerInnen in Bremen, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein aus.
Auf dem Weg zum Staatsvertrag
Christian Wulff hat im Frühjahr 2005 als Ministerpräsident in Niedersachsen den MuslimInnen – angeregt durch 50 Jahre Loccumer Vertrag - das Angebot über eine staatsvertragliche Regelung der Fragen gemeinsamen Belanges in zeitlicher Nähe in Aussicht gestellt. Ein Vertrag setzt – wie auch Artikel 7(3) GG – Partnerschaft und Augenhöhe voraus. Dies ist eine politische Gestaltungsaufgabe von großer Tragweite, insbesondere im Hinblick auf die Sicherung des langfristigen inneren Friedens entlang der Grenzen der Religionsgemeinschaften. Christian Wulff hat dies bereits im Jahr 2005 sehr klar beschrieben. (2) Dieser Schritt kann und wird bei den MuslimInnen im Lande auch Ängste abbauen und Vertrauen schaffen.
Für Schura ist klar, dass ein Staatsvertrag islamischerseits nur all jene bindet, die Mitglied in den beteiligten Religionsgemeinschaften, hier DITIB und Schura sind oder durch den Ritenvollzug (insb. Gebet, Freitagsgebet, Festgebete, Pilgerfahrt, Ramadan-Veranstaltungen, Jugendangebote, Trauungen oder Bestattungen) sich ihrer Dienstleistungen bedienen. Damit wird sich auch auf längere Sicht sich die Bindungswirkung auf ca. 70 Prozent der MuslimInnen erstrecken. Die Verfassung verbietet eine Zwangsmitgliedschaft und stellt die Organisationsform der Religionsgemeinschaft frei und ermöglicht es ebenso, sich gar nicht zu organisieren. Dennoch erstrecken sich die Garantien aus Artikel 4 GG auf die Religion und ihre Anhänger, unbeschadet des Grades ihrer Organisation. Es bleibt in diesem Lichte dennoch eine auf Zweckmäßigkeit ausgerichtete Aufgabe der verfassten Religionsgemeinschaften, einen hohen und weiter wachsenden „Anschlussgrad“ zu erzielen.
Ein Staatsvertrag hat auch für alle nichteingebundenen MuslimInnen unverkennbaren Nutzen; deshalb steht die politische Wirkung des Projektes im Vordergrund. So sind ja auch in den christlichen Konfessionen all jene immer zahlreicher werdenden ChristInnen von den Kirchenstaatsverträgen begünstigt, die die Organisation Kirche durch Austritt verlassen. Um Vertragspartnerin zu sein, benötigt die Religionsgemeinschaft neben der – leichter herzustellenden – formalen Struktur auch einen inneren „Aggregatzustand“, der die logistischen Voraussetzungen bietet: Personal, Geschäftsstelle, juristische, sprachliche und Verwaltungskompetenz, Finanzen und Haushaltsplan, Transparenz der Mitgliedschaft und die Gewähr der Akzeptanz der Verhandlungsthemen und -ergebnisse im Hinblick auf einen Staatsvertrag im wechselseitigen Diskurs zwischen Verband und Mitgliedschaft. Diese Voraussetzungen sind in den großen Kirchen seit langem gegeben; in der muslimischen Religionsgemeinschaft müssen diese weiterhin wachsen; dies ist ein langsamer Prozess. Aber dieser Prozess ist eine unumkehrbare Entwicklung, die zugleich ein Spiegelbild der wachsenden Integration ist. Wer aus i.d.R. zentralstaatlich strukturierten Ländern hierher zugewandert ist, wird erst lernen müssen, dass „Religionsrecht“ in Deutschland überwiegend Landesaufgabe ist. Dies sowie die spezifisch deutsche Figur eines „Kirchenstaatsvertrages“ müssen von der Verbandsspitze in die Mitgliedsgemeinden kommuniziert werden.
Im Herbst 2008 hatte der niedersächsische Ministerpräsident beschlossen, Gespräche über Sachthemen in Vorbereitung vertraglicher Vereinbarungen zwischen Land und islamischen Religionsgemeinschaften zu führen. Dazu wurde unter Federführung des Ministeriums für Inneres, Sport und Integration – inzwischen ist das Ministerium für Soziales, Frauen, Familie, Gesundheit und Integration zuständig - eine Arbeitsgruppe unter Beteiligung der in Niedersachsen ansässigen islamischen Verbände und der beteiligten Ressorts eingerichtet. Schura hatte zur Vorbereitung der Einrichtung der Arbeitsgruppe eine Themenliste erarbeitet.
Ein Staatsvertrag muss auf Jahrzehnte tragfähig sein und juristisch belastbare Vertragspartner binden. Vor diesem Hintergrund sollen auf dem Weg zu einem Staatsvertrag heute zunächst nicht oder kaum streitbefangene Themen zwischen Land und MuslimInnen ausgehandelt werden. Mit wachsendem Vertrauen der VerhandlungspartnerInnen zueinander, mit erfolgreicher Aushandlung schwierigerer Themen und mit wachsendem religions- und rechtspolitischen Verständnis der Muslime und ihrer Vereinigungen soll es sodann in einem überschaubaren Zeitraum zu einem belastbaren und geregelten Miteinander von Staat und Religionsgemeinschaft kommen können. Dies gilt entsprechend auch für Vereinbarungen auf dem Niveau unterhalb eines Staatsvertrages.
Es ist dabei weiterhin selbstverständlich und von der Verfassung geboten, dass in einem solchen Prozess die MuslimInnen sich selbst repräsentieren und - anders als in der „Deutschen Islamkonferenz“ - keiner vom Staat bestellten KuratorInnen, etwa für eine „schweigende Mehrheit“ oder nicht organisierte MuslimInnen bedürfen. Die Verbände würden in letzterem Falle ihre Kooperation sicher verweigern müssen.
Schura Niedersachsen im Konzert der islamischen Verbände
Im Februar 2005 fand im niedersächsischen Seevetal eine Tagung statt, auf der neue Strukturen zur innerislamischen Arbeit und der Repräsentanz der MuslimInnen in Staat und Gesellschaft vorbereitet wurden. Die Einladung erging gemeinsam durch den Islamrat für die Bundesrepublik Deutschland und den Zentralrat der Muslime in Deutschland (ZMD); Schura Hamburg war Gastgeberin. An dieser Tagung haben mit mehr als 80 RepräsentantInnen die Mehrheit aller nichtstaatlichen islamischen Verbände – unmittelbar und mittelbar – auf Landes- und Bundesebene teilgenommen.
Sie waren im breiten Konsens übereingekommen, einheitliche demokratische und föderale Organisationsstrukturen zur Vertretung der MuslimInnen auf Landes- und Bundesebene zu schaffen. Diese Ideen sollten mit den Mitgliedsvereinen und mit den bei der Tagung nicht anwesenden islamischen Organisationen zeitnah erörtert werden. Einerseits sollte der Weg für eine Verbesserung der innerislamischen Arbeit und der Glaubensausübung geebnet werden mit dem Ziel einer besseren Integration der MuslimInnen in die hiesige Gesellschaft, andererseits sollte dadurch ein legitimer Ansprechpartner für Staat und Gesellschaft entstehen. Eine Steuerungsgruppe wurde beauftragt, auf dieser Beschlussgrundlage eine konsensfähige Struktur zu erarbeiten.
Zu diesem 2005 ursprünglich entwickelten Konzept selbständiger Landesvertretung und einer aus diesen gewählten Bundesvertretung müsse nach Vorbringen von Schura Niedersachsen auch ein Gremium gehören, in dem sich die aufzubauende theologisch-akademische Elite wiederfindet; aus dieser heraus könnten dann der Staat und die Universitäten einen „natürlichen“ Ansprechpartner anstelle der heute propagierten Beiräte finden. In den zwei Folgejahren wurden Mustersatzungen für Landesverbände entwickelt und deren Neugründung in weiteren Bundesländern in Aussicht genommen. Im muslimisch bevölkerungsreichsten Bundesland NRW fand sich keine Kraft zur Gründung eines Landesverbandes.
Zu gleicher Zeit, als Bundesinnenminister Schäuble im Verlaufe des Jahres 2006 zur „Deutschen Islam Konferenz“ aufrief, begann der Einheitsprozess zu stagnieren. DITIB zeigte im Zuge der weiteren Ausarbeitung der bevorstehenden Neustrukturierung nun eine gewisse Kooperationsbereitschaft; die in Köln ansässigen Dachverbände setzten auf eine Zusammenarbeit mit DITIB. Es wurde als top-down-Konstrukt der „Koordinationsrat der Muslime“ (KRM) bestehend aus DITIB, VIKZ, Zentralrat und Islamrat aus der Taufe gehoben. Die Landesverbände waren nicht beteiligt worden, der Einheitsprozess einer Neustrukturierung im Sinne einer demokratischen bottom-up-Struktur hat damit erst einmal ein Ende gefunden. Die Uneinigkeit der vier im KRM vertretenen Verbände im Zusammenhang mit der Teilnahme an der 2. Deutschen Islam Konferenz und die Unfähigkeit zur innermuslimischen Solidarität auf den Ausschluss des Islamrates durch den Bundesinnenminister zeigt nach Auffassung des Verfassers mehr als deutlich, dass die Bildung eines KRM ein Fehlschlag ist, politisch und mehr noch aus unmittelbarer islamischer Sicht.
Mit der Einrichtung neuer Lehrstühle, mit den Beschlüssen der Deutschen Islam Konferenz zum Ausbau des islamischen Religionsunterrichts und den jetzt schon in Hamburg und Niedersachsen geführten Staatsvertragsverhandlungen kommen jedoch auf die Landesverbände vermehrt Aufgaben und Verantwortung zu, wie sie von einer Struktur nach Art des KRM nicht getragen werden können. An die muslimischen Verbände ist daher die Aufforderung gerichtet, ihren im Februar 2005 zunächst eingeschlagenen Weg der „Einheit der Muslime“ mit einem föderalen basisdemokratischen Verbandsaufbau wieder zu beschreiten.
Dieser Prozess war ja auch ohne Legitimierung durch die Ortsmoscheen unterbrochen worden. Die weiterhin tätigen islamischen Landesverbände haben auf ihrer Sitzung im März 2009 in Frankfurt a.M. beschlossen, eine regelmäßige „Konferenz der islamischen Landesverbände“ (KILV) zu institutionalisieren. Hierzu gehören die Islamische Glaubensgemeinschaft Baden-Württemberg, die Islamische Religionsgemeinschaft Hessen, Schura Bremen, Schura Hamburg, Schura Niedersachsen und Schura Schleswig-Holstein. In Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen befinden sich derzeit Landesverbände im Aufbau.
Aktueller Stand
Im Herbst 2010 steht Schura vor der wichtigen Zukunftsaufgabe, zusammen mit DITIB - beide repräsentieren zusammen mehr als 90 Prozent der Moscheen – eine verbindliche Struktur aufzubauen, die Vertragspartnerin des Landes zum Abschluss eines Staatsvertrages sein soll, vorrangig aber Religionsgemeinschaft im rechtlichen Sinne des Artikel 7.3 GG, d.h. Partnerin des Landes beim regulären islamischen Religionsunterricht an öffentlichen Schulen.
In der Deutschen Islam Konferenz wurde eine Vorlage von Prof. Heinrich De Wall über die verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen eines islamischen Religionsunterrichts überarbeitet und verabschiedet. Dies nimmt das niedersächsische Kultusministerium zur Grundlage für die Aufforderung an die beiden am Runden Tisch vertretenen muslimischen Verbände DITIB und Schura, spätestens im Januar 2011 ein gemeinsames Gremium (vergleichbar der Konföderation evangelischer Kirchen in Niedersachsen) zu bilden, dass die Funktion einer Religionsgemeinschaft im Sinne von Art. 7.3 GG und dem vorgenannten Papier wahrnehmen kann.
Im Rahmen der Bildung einer gemeinsamen Strukturen mit den Aufgaben einer islamischen Religionsgemeinschaft in Niedersachsen wurden von Schura Strukturmodelle entwickelt. Diesen liegen die nachfolgenden Überlegungen zugrunde, die im Falle der tatsächlichen Einrichtung von beiden Verbänden vertraglich untereinander gesichert und verbindlich gegenüber dem Land erklärt werden müssen.
Soweit Muslime in Niedersachsen in Bezug auf die Religion organisiert sind, werden sie durch die Moscheevereine auf der Ebene der persönlichen Mitgliedschaft erfasst; hierzu werden die jeweils anhängenden Familien mitgezählt. Die Moscheevereine in Niedersachsen werden mit zusammen ca. 150 Moscheen nahezu vollständig durch diese beiden Verbände vertreten. Gruppierungen, deren Verfassungstreue unsicher ist, stehen außen vor. Berücksichtigt man, dass auch ohne förmliche Mitgliedschaft MuslimInnen die Leistungen von Moscheen in Anspruch nehmen, und erfasst man die Teilnahme von Männern am Freitagsgebet (für Frauen und Kinder ist dies keine Pflicht, weiterhin sind viele durch Schulpflicht und Arbeitsplatz unabkömmlich), dem wöchentlichen gemeinsamen Hauptgottesdienst, so umfasst dies deutlich mehr als die Hälfte der MuslimInnen in Niedersachsen; d.h. beide Verbände repräsentieren das islamische Leben im Bundesland.
Der bisherige Verlauf des Runden Tisches zum islamischen Religionsunterricht hat über mehr als sechs Jahre gezeigt, dass die inhaltlichen Positionen, wie sie für die Lehrinhalte in der Schule relevant sind, bei beiden Verbänden stets übereinstimmten. Eine Verschmelzung der Verbände oder das Aufgehen der einen in die andere Organisation sind zurzeit unrealistisch und werden nicht angestrebt. Stattdessen kann hier die Bildung gemeinsamer und autorisierter Kommissionen treten. Als Voraussetzung für das Wirksamwerden der Strukturen und der Kooperation mit dem Land ist deren Einrichtung und Arbeitsweise durch Vertrag zwischen den Verbänden verbindlich zu regeln.
Dies kann u.a. von folgenden Leitgedanken getragen werden:
- Beide Verbände sind für sich genommen Religionsgemeinschaften, also Zusammenschlüsse zur allseitigen Erfüllung der religiösen/rituellen Aufgaben.
- Die förmlichen Mitgliedschaften der Moscheegemeinden in den Verbänden sind transparent nachweisbar. Die Mitgliedschaften der Individuen und ggf. ihner zugehörigen Familienmitglieder in dem örtlichen Moscheeverein sind grundsätzlich nachweisbar.
- Der Glaubensinhalt und damit der Islam sind klar definiert; es ist erkennbar, wer dazu und wer nicht dazu gehören kann.
- Die zu bildenden Kommissionen bestehen aus legitimierten und in der Sache kompetenten Personen, die diese Aufgaben für je eine längere Zeit wahrnehmen.
- Die Kommissionen samt den dahinter stehenden Verbänden besitzen die Merkmale der langfristigen Dauer und Verbindlichkeit, und diese Merkmale prägen die Festlegung der Grundsätze des Religionsunterrichts.
- Die Kommissionen sind aufgrund der verfassungsmäßigen Neutralität des Staates in religiösen Angelegenheiten so beschaffen, dass ein Mandat eines Drittstaates nicht vorliegt; vielmehr können die Ortsgemeinden ihre Glaubensgrundsätze selbständig formulieren. Sie sind nur den beiden (Landes-)Verbänden in Niedersachsen gegenüber verantwortlich. Sie haben sich zur Verfassungstreue verpflichtet.
- Die Kommissionsmitglieder sind aus ihren Verbänden frei gewählt; Delegierte sind weder von Drittstaaten mandatiert noch deren AmtsträgerInnen. Sie wirken - ganz im islamischen Sinne - ohne Ansehen von Nation (Herkunft, Staatsangehörigkeit), Sprache, Geschlecht, Hautfarbe, sozialem Stande oder islamischer Rechtsschule. Sie sind nur der Lehre des Islams, dem deutschen Grundgesetz und ihrem Gewissen sowie dem Kindeswohl bzw. dem Wohl der Muslime in Niedersachsen verpflichtet.
- Die Kommission für den islamischen Religionsunterricht ist zur Lehrerlaubnis (Idschaza) für Lehrkräfte und für die Zulassung von Schulbüchern befugt.
Abzuwarten bleibt, ob es die Schura und DITIB schaffen, im Januar 2011 geeignete Grundsatzbeschlüsse zu fassen und den weiteren Weg mit dem Land förmlich zu vereinbaren. Schura ist hierzu bereit. Es spricht im Fall der Nichteinigung rechtlich nichts dagegen, seitens des Landes den islamischen Religionsunterricht mit nur einem Verband, in diesem Fall Schura als zumal größerem, zu vereinbaren. Gelingt aber – so Gott will – die Einigung, dann haben Land und MuslimInnen in Niedersachsen zum ersten Mal in der deutschen Geschichte das Fundament für einen regulären islamischen Religionsunterricht gelegt, mehr noch, für die Institutionalisierung des Islams in Deutschland – ganz im Sinne des Diktums des Bundespräsidenten vom 3. Oktober 2010 – einen Meilenstein gesetzt!
Endnoten
1 Die Grundsatzerklärung des Landesverbandes der Muslime in Niedersachsen e.V. lautet wie folgt: Schura Niedersachsen ist ein Zusammenschluß in Niedersachsen bestehender islamischer Moscheegemeinden und religiöser Vereinigungen. Sie versteht sich als autonome islamische Religionsgemeinschaft in einem säkularen und pluralistisch strukturierten Staatswesen. Schura Niedersachsen bekennt sich nach § 4 (Allgemeine Grundsätze) ihrer Satzung zum Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland und der Verfassung des Landes Niedersachsen. Ihre Tätigkeit beruht auf den Prinzipien der freiheitlich-demokratischen Grundordnung und den Prinzipien des sozialen Rechtsstaats. Nach den Grundsätzen des Islam missbilligt Schura Niedersachsen jede Diskriminierung der Menschen aufgrund Rasse, Geschlecht, Hautfarbe, Sprache oder Religion. Das Recht auf Glaubens- und Meinungsfreiheit gehört zu den Prinzipien des Islam: „kein Zwang in der Religion“. Schura Niedersachsen lehnt jede Form der Gewaltanwendung als Mittel der religiösen oder politischen Auseinandersetzung ab. Schura Niedersachsen ist unabhängig von politischen, religiösen und wissenschaftlichen Instanzen des Auslandes. Als Mitglied erkennen wir gemäß § 5 der Schura-Satzung die vorstehenden Grundsätze als verbindlich an. [Der Vorsitzende (Unterschrift), Ort, Datum, Stempel.]
2 Christian Wulff: „… die Suche nach dem Konsens über Glaubensüberzeugungen, Weltanschauungen und Wertvorstellungen entscheidet über die Stabilität und somit Zukunft einer Gesellschaft! Es ist heute nicht zu viel gesagt, wenn ich behaupte: Hier entscheidet sich auch die Frage nach einer friedlichen Zukunft für die ganze Menschheit, also nichts weniger als die Frage nach dem Weltfrieden! … Allen politisch Verantwortlichen muss daran gele¬gen sein, dass in unserer Gesellschaft interkultureller und interreligiöser Friede und Ausgewogenheit herrschen, dass gegenseitiges Verstehen und Vertrauen das Klima im Land, in Europa wie auch international prägen. Insbesondere den großen Volksparteien muss daran gelegen sein, dass vom Dialog niemand ausgeschlossen wird, der sich dem Gemeinwohl verpflichtet fühlt und auf dem Boden unserer Verfassung steht.“ Auszug aus der Rede „Der interreligiöse Dialog als Aufgabe unserer Gesellschaft“ vom 14. Januar 2005 in der Hofkirche der Residenz München.
Firouz Vladi ist Gründungsmitglied des Landesverbandes der Muslime in Niedersachsen und als Vorstandsmitglied für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig.