15 Jahre Isolationshaft in der Türkei, Gefängnis in Griechenland und nun ein trostloses Leben in einem niedersächsischen Flüchtlingslager. Trotz alledem schafft es Turgay Ulu, politischer Flüchtling aus der Türkei, weiterzumachen, weiterzukämpfen und weiterzuschreiben. Wer unterstützt ihn, woher nimmt er die Kraft und wie kann sich wirklich was ändern?
Um Turgay Ulu, verfolgter Kommunist aus der Türkei, zu besuchen, muss man einen weiten Weg auf sich nehmen. Von Osnabrück aus erst 30 Minuten Zugfahren und dann noch einmal 30 Minuten Fußweg durch ein Dorf und den Wald. Hier liegt das Flüchtlingslager Bramsche-Hesepe, offiziell „Landesaufnahmebehörde Niedersachsen – Standort Bramsche“. Das Gelände ist eine ehemalige Kaserne, ein riesiges Areal. Ein Zaun und Überwachungskameras sowie ein Wachposten am Eingangstor verhindern, dass die Bewohner*innen nicht registrierten Besuch bekommen.
Zaun im Lager Bramsche - Bild: Lisa Doppler
Hinter dem Zaun sind gepflegte Grünflächen und ein Spielplatz zu sehen. Es ist nicht schön, aber auch nicht heruntergekommen wie oft in anderen Flüchtlingslagern Deutschlands. Auf dem Gelände, untergebracht in mehreren Wohnblocks, leben rund 550 Migrant*innen, Asylsuchende und Geduldete, die meisten von ihnen mit negativen Prognosen hinsichtlich ihrer Bleibeperspektive.
Freiwillige Ausreise – die elegante Abschiebung
Einer von ihnen ist Turgay, 37 Jahre alt. Er erklärt das Besondere am Lager Bramsche: „Hier gibt es ein spezielles Programm zur „Rückkehrförderung“. Soll heißen: Die Menschen sollen zur freiwilligen Ausreise überredet werden. Das ist einfacher und günstiger als eine Abschiebung, ist ja auch besser fürs Image.“ Auf der Homepage der Landesaufnahmebehörde wird mit lachenden Gesichtern am Flughafen für die Rückkehrförderung geworben. Alle sind zufrieden, leise und sauber verschwinden so die Menschen.
Turgay sieht das etwas anders: „Wir sind der absoluten Kontrolle durch die Behörden ausgesetzt, ständig wird uns vermittelt, dass wir nicht auf Dauer bleiben können.“ Immer gleiches Kantinenessen, geteilte Zimmer mit bis zu sechs Menschen, kaum medizinische Versorgung. Für die Kinder gibt es eine lagerinterne Schule, auch Ausländerbehörde, Medizinstation und Sozialamt befinden sich auf dem gleichen Gelände. Es gibt keinen Grund, das Lager zu verlassen. Wohin auch, mit maximal 40 Euro Taschengeld im Monat?
„Das Essen reicht gerade so, wir müssen nicht hungern. Aber manche Flüchtlinge übergeben sich danach regelmäßig, da es einfach nicht schmeckt", sagt er. "Auch gibt es eine Medizinstation, doch meist bekommen wir da nur Paracetamol. Dabei werden die Menschen vor Angst und vor Hoffnungslosigkeit depressiv. Die Kopfschmerzen sind nur Symptom.“
Nur Einer von vielen
In Bramsche regt sich trotz dieser Bedingungen nur leiser Protest der Flüchtlinge. „Im Oktober, direkt als ich in Bramsche ankam, gab es eine Demonstration mit 50 Leuten. Wir forderten eine Schließung des Lagers. Ich habe mich sehr darüber gefreut und hoffte, dass es so weiterginge. Leider war es nicht so“, berichtet Turgay. Er selbst hat viele Erfahrungen mit Demonstrationen. Als junger Student beteiligte er sich an antikapitalistischen Protesten in Istanbul und engagierte sich für die Freilassung politischer Gefangener. Dafür kam er selbst ins Gefängnis – erst „Todesstrafe“, dann umgewandelt in „Lebenslänglich“, so lautete das Urteil. Bis zu seiner Flucht war er 15 Jahre in der Türkei im Gefängnis und noch einmal einige Monate in Haft in Griechenland, auf dem Weg nach Deutschland. Und nun Bramsche. Wie kann ein Mensch das ertragen?
Protest Oktober 2011 - Bild: Lisa Doppler
„Ich bin Marxist und glaube an eine Welt ohne Lager und das bedeutet eine Welt ohne Grenzen, ohne Staaten. Ich habe schon viel durchgemacht, ja. Aber da es nicht um mich geht, sondern um eine befreite Gesellschaft, kann ich all das ertragen.“ Ein unglaublicher Elan treibt Turgay an. Zunächst, so erzählt er weiter, war er enttäuscht, dass der Protest so schnell wieder abbrach, doch schon schnell wurde ihm klar, warum. „Das Lager ist zermürbend, alle haben unzählige Probleme, die sie innerlich umtreiben. Doch dass es eine Lösung nur auf einer anderen Ebene geben kann, als sich um sein persönliches Schicksal zu kümmern, dieses Bewusstsein fehlt den meisten.“
Doch auch von dieser Enttäuschung lässt Turgay sich nicht entmutigen. Stattdessen versucht er, sich soweit wie möglich dem Druck, den das Leben im Lager ausübt, zu entziehen. Er hat Kontakte zu türkischen Genoss*innen, die jetzt ebenfalls in Deutschland leben, auch zu vielen Kurd*innen. Turgay verbringt so wenig Zeit wie möglich in Bramsche: „Hier zu sein, nur rumzusitzen und auf den Bescheid der Ausländerbehörde zu warten ist nur kraftraubend, also vermeide ich das so gut wie möglich“. Bei der Caritas in Osnabrück besucht er drei Tage die Woche einen Deutschkurs. Die Caritas hat ihm auch ein Streckenticket gegeben, sodass er jederzeit Freunde in Osnabrück besuchen kann. Damit ist er viel mobiler als die meisten Bewohner*innen.
Zusammenarbeit mit Studierenden
Wichtiger Bezug ist für Turgay zudem die Osnabrücker NoLager-Gruppe. „Die Gruppe, natürlich mit wechselnden Mitgliedern, gibt es schon fast genauso lange wie das Lager. Trotzdem ist die Zusammenarbeit mit den Flüchtlingen nicht konstant“, erzählt Lucie (kompletter Name der Autorin bekannt), eine Aktivistin. Bei den Treffen der überwiegend studentischen Mitglieder mit den Flüchtlingen, die wöchentlich abwechselnd in einem studentischen Café in Osnabrück und einer Pizzeria in Bramsche-Hesepe stattfinden, ist das Ziel der Arbeit immer wieder Thema. „Problem ist, dass die Bewohner*innen des Lagers meist mit ganz konkreten Problemen zu uns kommen - Bescheide von Behörden, Geldforderungen von Anwälten oder Krankheiten. Allen über 500 Menschen gerecht werden können wir sowieso nicht. Daher liegt unser Schwerpunkt in der Unterstützung bei Protesten“, sagt Lucie.
Doch obwohl alle Flüchtlinge aus dem Lager, mit denen Lucie spricht, und auch viele Menschen in Bramsche oder Osnabrück die Lebensbedingungen dort unhaltbar fänden, gäbe es kaum sichtbaren Widerstand: „Verständlicherweise haben die Flüchtlinge oftmals nicht die Energie, oder der Zusammenhang zwischen Politik und ihrem Leben im Lager ist ihnen nicht klar. Turgay ist da eine große Ausnahme“, meint Lucie.
Bei den Treffen gehe es immer wieder um die Frage, was von den Flüchtlingen erwartet werden kann und auch darum, was gerade die Aktivist*innen, die selbst alle aus Deutschland kommen oder die deutsche Staatsbürgerschaft haben, da zu entscheiden hätten. Ob sie überhaupt fordern dürfen, dass das Lager abgeschafft wird, wenn die Bewohner*innen nicht selbst die Initiative für den Protest übernähmen. Turgay widerspricht in dem Punkt vehement, er sieht das anders: „Das ist doch Ziel des Lagers, die Menschen so zu vereinnahmen, so zu zermürben, dass sie sich nicht mehr wehren können und wollen. Das spricht euch, die das durchschaut habt, doch nicht das Recht ab, dagegen aktiv zu werden.“
Turgay selbst lässt sich nicht einschüchtern von Behörden oder anderen Flüchtlingen. Er nutzt die Infrastruktur, die ihm seine Unterstützer*innen stellen: Er hat einen Laptop bekommen, kann das Café an der Uni benutzen wenn er Internet und einen ruhigen Platz zum Arbeiten braucht. Gerade schreibt er sein sechstes Buch – in der Türkei von kommunistischen Gruppen veröffentlicht wurden von ihm bereits Werke zu Marxismus, Kunst, Ästhetik und linker Politik in Anatolien. Seine 15 Jahre im Gefängnis hat er so gut es ging genutzt: „Immer, wenn die Gefängnisleitung mir Literatur verweigert hat, bin ich in den Hungerstreik getreten“. So hat Turgay sich mit Ökonomie, Philosophie, Psychoanalyse, Quantenphysik und vielem mehr beschäftigt. „Gesellschaftskritik muss immer interdisziplinär sein“, ist seine einfache Erklärung, und: „Politisches Engagement heißt auch Beschäftigung mit Theorie und vor allem Selbstorganisation statt auf Hilfe von außen zu warten, leider scheint das hier kaum jemand zu begreifen.“
Die schwierige Frage, was die Alternative zum Lager wäre, drängt sich auf. Doch für Turgay ist auch hier die Antwort absolut klar: „Es kann keine Alternative innerhalb dieses Gesellschaftssystems, innerhalb des Kapitalismus geben. Selbst wenn die Menschen dezentral untergebracht würden und mehr Asylanträge bewilligt würden, würde sich nichts Grundlegendes ändern.“
Integration? Darum geht es doch gar nicht
Auch von Integration will Turgay nichts hören, denn „Integration impliziert, dass Migrant*innen sich individuell verändern müssen, um in dieser Gesellschaft leben zu können. Wir sollen Deutsch werden, wie Deutsche denken und uns somit einer Gruppe zuordnen, der deutschen Gesellschaft mit ihren Werten.“ Doch sind es nicht gerade Werte wie Menschenrechte, auf die auch Turgay seine Theorie, seine Ideen vom Kommunismus stützt? „Der Fehler ist das „deutsch“ davor. Ich kann mich zu Menschenrechten bekennen, ja. Aber nicht, weil diese Teil von Deutschland sind, sondern weil ich an die Rechte jedes Menschen glaube. Und gerade das deutsche Asylsystem zeigt wunderbar beispielhaft, dass das nicht funktioniert, wenn Staaten dazwischen stehen. Ich und alle anderen Flüchtlinge in Bramsche können hier nicht in Würde leben.“
Dass es Lager gibt, findet Turgay dabei zwar schlimm, aber nicht verwunderlich. Diese entsprächen der Logik des Staates, folgten sogar konsequent aus Staatlichkeit: „Integrieren oder absondern. Das entspricht der Logik des kapitalistischen Staates, der alles erfasst. Daher habe ich auch nicht vor, mich integrieren zu lassen.“
Mit der Positionierung gegen Integration und gegen eine Gesellschaft, die Flüchtlinge zu Bittstellern macht und sie in Lager steckt, taucht wieder die Frage nach Handlungsalternativen auf. Hierzu meint Lucie von NoLager: „Natürlich wäre es schon einmal ein großer Schritt, wenn Asylbewerber*innen in Niedersachsen dezentral, also in ganz normalen Wohnungen, untergebracht würden, und das ist auch eines unserer Ziele, dafür kämpfen wir. Nur darf dabei die Kritik am Ganzen nicht verlorengehen. Konkrete Verbesserungen jetzt widersprechen der Hoffnung auf etwas Besseres nicht.“
Auch für Turgay bleibt daher neben der Hoffnung auf etwas Besseres die Kritik des Bestehenden. Er spricht auf Flüchtlingskonferenzen etwa des Karawane-Netzwerkes, einer bundesweiten Selbstorganisation, über Flüchtlingskämpfe als Teil einer antikapitalistischer Bewegung. Und dann ist da noch sein Buch. Es wird keine theoretische Abhandlung werden. Turgay schreibt an einer Zusammenfassung seiner Tagebücher. Tagebücher, die von 15 Jahren Gefängnis in der Türkei, von Isolationshaft in Griechenland und dem Leben als Asylbewerber in Deutschland erzählen. Ein Buch, das ein persönliches Schicksal beschreibt, das so persönlich gar nicht ist und ein Buch, das anderen Flüchtlingen Kraft und Mut geben soll, ihre Stimme zu erheben.
Lagersystem in Niedersachsen
• In Niedersachsen gibt es mit Braunschweig, Bramsche und Friedland drei große Lager für Asylbewerber*innen
• In Braunschweig und Bramsche sind jeweils bis zu 600 Menschen untergebracht
• Friedland diente zu Ostblock-Zeiten als Grenzdurchgangslager als erste Anlaufstelle für Flüchtlinge aus dem Osten. Danach wurde es vor allem zur Erstaufnahme von Spätaussiedlern genutzt. Nach der Schließung des Lagers in Oldenburg wird Friedland nun zum dritten großen Asylbewerberlager Niedersachsens umfunktioniert.
Lisa Doppler hat Migrationsforschung studiert und setzt sich gerade in ihrer Masterarbeit mit Kritik in Theorie und Praxis auseinander. Turgay hat sie im vergangenen Jahr bei Protesten vor dem Lager kennengelernt.