von Kadriye Acar
„Fange wie ein Türke an, führe wie ein Engländer aus
und beende wie ein Deutscher.“
Dieses geflügelte türkische Sprichwort wird gerne denen mit auf den Weg gegeben, die sich eine neue Existenz aufbauen möchten. Viele türkeistämmige Neu-UnternehmerInnen starten mit großem Elan und scheitern leider, weil sie, anders als viele Deutsche nicht planmäßig und Schritt für Schritt vorgehen. Ansonsten wäre die Zahl der türkeistämmigen Unternehmen noch höher, als sie heute schon ist. Aber es gibt dennoch viele unternehmerische Erfolgsgeschichten, und einige von ihnen werden in diesem Beitrag erzählt.
Kemal Öner blickt mit seinen 72 Jahren auf ein politisch und gesellschaftlich sehr aktives Leben zurück. So gründete er in Hagen den Bund der türkischen Demokraten und gehört zum Gründungsmitglied der ersten Moschee in Hagen-Haspe. Zudem verdanken die HagenerInnen ihm und seiner Frau Ismet den ersten türkischen Supermarkt - eröffnet in den 1970er Jahren.
Recep Keskin ist einer der erfolgreichsten türkeistämmigen Unternehmer in Deutschland. Als er mit 17 Jahren über ein Stipendium für die Hotelfachschule nach Deutschland kam, mussten seine Eltern eine Vollmacht ausstellen, damit der Minderjährige überhaupt alleine ins Ausland reisen durfte. Noch heute kann er perfekt einen Fisch filetieren und das Silberbesteck so putzen, dass man sich darin spiegeln kann. Mit 10 Jahren verließ er sein 150-Seelen Dorf Dervisli um in der nächsten Kreisstadt aufs Gymnasium zu gehen. Der 62jährige sagt, dass ihm schon als Kind klar war, dass er etwas Eigenes aufbauen musste – wollte er nicht wieder zurück ins Dorf und als Schafshirte enden.
Ali Güngörmüs hat es nicht nur bildlich vom Tellerwäscher zum Spitzenkoch geschafft. Der 35jährige Koch hat einen Michelin-Stern, 16 Punkte im "Gault Millaut", ist ein gefragter Gast in Fernsehshows und Aufsteiger in der Edel-Kochszene. 1986, mit 10 Jahren, folgte er mit seiner Mutter und seinen fünf Geschwistern und dem Vater von Tunceli in Ost-Anatolien nach München, wo letzterer bereits seit 1964 mit der ältesten Schwester lebte. Der Hauptschulschüler, der von sich selbst sagt, dass er nie Ambitionen auf die Realschule oder das Gymnasium hatte, entdeckte sehr früh seine Leidenschaft fürs Kochen und fing mit 14 Jahren eine Ausbildung an. Die Eltern, die heute zwischen Tunceli in Ost-Anatolien und München pendeln, sind stolz auf ihren Sohn, der nicht nur die Talkmasterin Hülya Avsar getroffen hat, sondern auch den türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan.
Die Anfänge
1971, während des Militärputsches in der Türkei, kam der Staatsbeamte Kemal Öner von Ankara nach Hagen. Ein Jahr später holte er seine Frau Ismet nach. Die beiden Kinder Olcay und Özgür blieben bei den Verwandten zurück. Wie die meisten „Fremdarbeiter“ - so wurden die „Gastarbeiter“ zunächst genannt - wollte auch er nur ein paar Jahre bleiben und dann zurückkehren.
„Der Anfang war sehr schwer“, sagt Ismet Öner. Sie, die in Ankara gewohnt war von einem Chauffeur kutschiert zu werden, wurde plötzlich zur Ausländerin, auf die man herabschaute. Für die junge Frau war dies eine ungewohnte Situation, mit der sie zunächst nur schlecht zurecht kam. Ihr Mann hatte seine Arbeit als Kontrolleur bei der Firma Intertractor GmbH in Gevelsberg, sie hatten ihn „angeworben“. Ismet Öner jedoch kam im Zuge des Familiennachzuges und nicht im Rahmen des Anwerbeabkommens. Das bedeutete, dass es für sie schwieriger war, einen Arbeitsplatz zu finden. Sie durfte nur dort arbeiten, wo man den Arbeitsplatz nicht mit einer/m geeigneten deutschen oder EU-BewerberIn besetzen konnte. Ismet Öner blieb nichts anderes übrig, als sich selbständig zu machen – wollte sie nicht „ganz dreckige Arbeit machen“, wie sie sagt oder „zu Hause Trübsal blasen.“
Wie viele andere TürkInnen nach ihnen machte das Ehepaar Öner aus der Not eine Tugend: Ismet Öner und ein Freund ihres Mannes eröffneten den ersten türkischen Supermarkt in Hagen. „Ich lernte jeden Tag ein paar deutsche Wörter“, sagt die heute 68jährige. „Wir hatten ja nicht nur türkische Kunden, bzw. zu der Zeit hatten wir mehr deutsche als türkische Kunden. Da musste ich schon etwas Deutsch können. Ich würde sogar sagen, dass ich damals besser Deutsch konnte als heute.“
Die erste Geschäftseröffnung scheiterte relativ schnell, weil sie ihrer Zeit voraus waren. Anfang der 1970er Jahre kamen fast ausschließlich Männer ohne ihre Familien nach Deutschland. Und sie waren es nicht gewohnt zu kochen. „Das war ein Denkfehler“, sagt das Ehepaar Öner heute.
Wir haben gedacht, dass wir Erfolg haben würden mit unserem Geschäft, weil die Leute, ebenso wie wir, das einheimische Essen vermissten. Aber wir haben täglich Kisten von Gemüse weggeworfen, weil die türkischen Männer nicht wussten, wie sie kochen sollten und die deutschen kannten das türkische Gemüse, zum Beispiel Auberginen oder Okraschoten, gar nicht.
Die Familie kommt nach
1974 holt das Ehepaar die Kinder nach Deutschland. Zu groß war der Schmerz, von ihnen getrennt zu sein. „Es zerreißt uns noch heute das Herz“, sagen die Eheleute Öner, „wenn wir daran denken, dass wir unsere Kinder alleine in der Türkei gelassen haben“. Kemal Öner guckt zu Boden als die Erinnerung hochkommt, wie sein Sohn ihn am Bein festhielt, weil die Kinder ihren Urlaub in Deutschland beendet hatten und wieder in die Türkei zurückfahren mussten. „So etwas vergisst man bis an sein Lebensende nicht“, sagt der Rentner.
Auch das Geschwisterpaar erinnert sich, wie schwierig es für sie war, alleine in der Türkei zurückgelassen worden zu sein. Die 44jährige Olcay, die heute selbst zwei Kinder hat, sagt, dass sie ihren Kindern niemals die Erfahrung der migrationsbedingten Trennung von den Eltern zumuten würde und auch nicht die Erfahrung der Migration ohne triftigen Grund:
Wenn ich auswandern müsste, würde ich die Kinder sofort mitnehmen. Niemals würde ich aus reiner Abenteuerlust irgendwohin auswandern. Wenn ich manchmal diese Auswanderersendungen im Fernsehen sehe, wo es den Leuten hier eigentlich gut geht und sie nur um der Sonne willen irgendwohin auswandern und die Kinder mitnehmen. So etwas würde ich nicht tun, weil ich weiß, wie schwer es ist.
Özgür Öner lebt und arbeitet in Belgien. Der 43jährige leitet das Brüsseler Büro des Bundesverbandes deutscher Wohnungs- und Immobilienunternehmen. Zuvor hat er im Europäischen Parlament gearbeitet. Wie seine Schwester hat auch Özgür Öner eine Bilderbuchkarriere gemacht, die ihn rund um die Welt führt. Auch er hatte sich überlegt, ein eigenes Geschäft zu eröffnen. Aber auf keinen Fall etwas „typisch“ Türkisches. „Das führt in eine Sackgasse“ sagt der Politikwissenschaftler. „Sich nicht vereinnahmen zu lassen, das ist der Schlüssel zum Erfolg.“ Seine Biographie, so sagt der Doktor der Politikwissenschaft, hilft ihm dabei, Einschluss- und Ausschlussmechanismen sowie Gruppenbildungsprozesse schneller zu erkennen. Egal ob in einer Gesellschaft, in einem Staat oder einfach auf einer Fete. „Man ist sensibler für solche Mechanismen, wenn man einen Migrationshintergrund hat und es am eigenen Leib erlebt hat.“
Um ihren Kindern diese Karrieren zu ermöglichen, musste Ismet Öner auch ihre zweite Existenzgründung aufgeben. Nach dem Supermarkt eröffnete die junge Frau 1976 ein Reisebüro. Wieder mit einem klaren Konzept: was braucht der Markt, was kann ich liefern.
Anders als es in der Vorstellung der deutschen und auch der türkischen Bevölkerung heute erscheint, waren die ersten GastarbeiterInnen keine ungelernten ArbeiterInnen vom Land. Fast jede dritte angeworbene Arbeitskraft war FacharbeiterIn oder eine angelernte Arbeitskraft. Damit war der Anteil dieser Arbeitskräfte im Vergleich mit denen aus anderen Anwerbeländern deutlich am höchsten.
Vom Schafshirten zum Bauunternehmer
Wie Özgür Öner sieht sich auch Recep Keskin als Kosmopolit und dies nicht nur, weil er als Unternehmer ohnehin viel unterwegs ist. So begleitete er Angela Merkel und auch den Staatspräsidenten Christian Wulff in die Türkei. Die mehrfache Migration hat ihn, davon ist er überzeugt, zu einem der erfolgreichsten türkeistämmigen Unternehmer in Deutschland gemacht. Mit 10 Jahren ging er, als Einziger von fünf Geschwistern, aus dem 150 Seelen-Dorf Dervisli in Zentral-Anatolien in die nächst größere Kreisstadt Esme.
Mein Vater war ein weitsichtiger Mann. Er sagte zu mir: Das Land, das wir haben, reicht nicht für alle. Später, wenn sie alle heiraten, Familien gründen, muss das Land nicht fünf sondern 20 bis 30 Menschen ernähren. Daher müssen mindestens 1 oder 2 Kinder aus dem Dorf raus.
In Esme war Recep Keskin bei Verwandten untergebracht, und der Vater machte dem Sohn klar, dass ein schulisches Versagen nicht in Frage käme. Denn hätte er versagt, wäre das im Dorf ein Signal gewesen, dass es sich nicht lohnt die Kinder aufs Gymnasium zu schicken, „weil es Recep auch nicht geschafft hat, der ja zu den schlauesten gehört“.
Nach dem Gymnasium ging Recep Keskin zum Studieren nach Ankara auf die Hotelfachschule. Die Wahl war rein zufällig: „Es ging zunächst darum aus dem Dorf, dann aus der Kreisstadt rauszukommen. In der Hotelfachschule waren Plätze frei. Als Kind wollte ich auch lieber Anwalt, Arzt oder Pilot werden.“
Besuche von der Familie erhielt der Jugendliche kaum. Weder auf dem Gymnasium, noch auf der Hotelfachschule. Die Eltern wussten ihn gut versorgt, dass war mehr als viele andere im Dorf über die eigene Situation behaupten konnten.
Im Nachhinein kann ich sagen, dass das eine harte Zeit war, aber es gab kein Zurück und ich wollte auch nicht zurück. Ich wollte vorwärts, was erreichen. Im Dorf hatte ich schon Geld verdient, indem ich Schafe gehütet hatte. Aber mir war klar, dass es draußen eine Welt gab, wo ich keine Schafe hüten musste.
Auf der Hotelfachschule gab es einen deutschen Lehrer, der sich darum bemühte, dass die Besten der Jahrgangsklasse ein Stipendium für Deutschland bekamen. „Schon damals war mir klar“, so Recep Keskin, „dass Mentoring auf dem Weg zur Selbständigkeit sehr wichtig ist. Ohne diesen Lehrer wäre ich nicht in Deutschland gelandet.“ 1966, mit 17 Jahren, wurde Recep Keskin von der Hotelfachschule Ankara nach Karlsruhe zur zweijährigen Ausbildung im Hotel Steigenberger geschickt. Die Enttäuschung war zunächst sehr groß. „Wir haben gedacht, dass uns alle mit offenen Armen empfangen würden. Dem war nicht so. Aber es war klar, will ich in diesem Land weiterkommen, muss ich die Sprache beherrschen.“ Recep Keskin durchlief alle Bildungsinstanzen, von der Volkshochschule, über die Mittlere Reife, Abendschule, bis zum Studium. „Ich habe gelernt“, so der 62jährige Bauunternehmer, „dass man als Ausländer viel härter arbeiten muss, um erfolgreich zu sein. Alleine schon aufgrund der Sprache. Wie soll man in einem Land erfolgreich sein, wenn man die Sprache nicht beherrscht?“
Noch heute, nach 45 Jahren in Deutschland und mit einer deutschen Ehefrau und mehreren Ehrentiteln sowie einer Professur für Architektur- und Bauingenieurwesen an der Technischen Hochschule in Dessau, bedauert es Recep Keskin, dass er die deutsche Sprache nicht besser beherrscht. Es reichte aber aus, um die Kanzlerin 2010 beim Integrationsgipfel zu beraten und den Staatspräsidenten Christian Wulff in die Türkei zu begleiten.
In zwei Jahren will Recep Keskin sein Unternehmen, das Traditionsunternehmen „Betonfertigteil Mark GmbH“ in Gevelsberg, an seinen 27jährigen Sohn Timur übergeben. Das Unternehmen existiert seit 170 Jahren und gehörte früher dem alten Adelsgeschlecht der Schaumburg. Recep Keskin fing hier als Fachingenieur an, mit der Option, später Anteile an der Firma zu erwerben. 2002 übernahm er die Firma komplett und rettete sie vor dem Konkurs. Hundert Beschäftigte produzieren hier täglich 1200 bis 1300 Tonnen Fertigteile, die für Stadien, Brücken, Lärmschutzwände und Einkaufszentren gebraucht werden.
Als Recep Keskin in den 1980er Jahren in die Firma einstieg, hatte er schon daran gedacht sein eigenes Unternehmen zu gründen. Aber zu dieser Zeit standen türkische StaatsbürgerInnen, die in Deutschland ein Unternehmen gründen wollten, vor größeren Hürden. Sie durften bis Mitte der 1980er kein Unternehmen gründen. Deshalb wichen viele aus und suchten sich deutsche GeschäftspartnerInnen, die dann als GeschäftsführerInnen auftraten. Mit dem Wegfall dieser Hürde ist die Zahl der türkeistämmigen UnternehmerInnen stetig angestiegen. Mittlerweile beträgt die Selbstständigenquote bei dieser Gruppe 11 Prozent. Damit liegen die türkeistämmigen Neu-UnternehmerInnen im allgemeinen Durchschnitt.
Als Vorstandsvorsitzender von ATIAD, dem Verband der türkeistämmigen Unternehmer in Europa, stellt Recep Keskin fest, dass die zweite und dritte Generation eine höhere Qualifikation für die Unternehmensgründung mitbringt. Sie lässt sich nicht auf so genannte ethnische Nischen wie Döner-Buden festlegen. Das ist ein wichtiger Trend. Stattdessen sind diese UnternehmerInnen In allen Bereichen zu finden, von Computer bis Raumfahrt. Ein Vorteil dieser jungen UnternehmerInnen ist, dass sie ihren Standort auf dem deutschen Markt und somit auch in der EU haben und gleichzeitig sehr gute Kontakte in die Türkei besitzen.
Durch die Verbesserung der deutsch-türkischen Wirtschaftsbeziehungen ist in den letzten Jahren nicht nur die Zahl der Neu-UnternehmerInnen gestiegen. Auch viele türkische Unternehmen haben sich in Deutschland niedergelassen. So hat sich das Handelsvolumen der türkischen Firmen in Deutschland innerhalb der letzten 10 Jahre fast verdoppelt. ATIAD spricht von einem Handelsvolumen von 25 Milliarden Euro.
Die junge Generation übernimmt das Geschäft
Wie Özgür Öner hat auch Timur Keskin Verständnis für seinen Vater, den er selten zu Gesicht bekam. „Er hat es für die Familie getan“ sagt er. „Ihm verdanken wir unseren Wohlstand.“ Der gelernte Bankkaufmann wird das Unternehmen in rund zwei Jahren von seinem Vater übernehmen und eine neue Tradition aufbauen. Der 27jährige sieht der Verantwortung dem Unternehmen gegenüber gelassen entgegen. „Wir leben im Hier und Jetzt. Ich weiß es ist ein geschichtsträchtiges Unternehmen, aber das ist für mich keine Belastung. Es geht darum im Jetzt das Unternehmen am Laufen zu halten. Zumal mein Vater ja immer mit Rat und Tat da sein wird.“
Recep Keskin hat fünf Kinder, die alle studiert haben. Aber es war Timur, der in das Unternehmen eingestiegen ist und es als zukünftiger Geschäftsführer übernehmen wird. „Ich habe mich schon immer fürs Baugewerbe und für den kaufmännischen Bereich interessiert. So haben mein Vater und ich darüber gesprochen, ob es eine Möglichkeit gibt, in die Firma einzusteigen.“ Das tägliche gemeinsame Arbeiten war zunächst gewöhnungsbedürftig, heute ist Recep Keskin stolz auf seinen Sohn, der täglich nicht unter 12 Stunden arbeitet. Das Bewusstsein, es für die eigene Firma zu tun und damit auch die Zukunft der eigenen Kinder zu gewährleisten, spornt Timur Keskin an, der in diesem Jahr geheiratet hat.
Recep Keskin und seine Frau Almut haben sich während des Studiums kennen gelernt. Die Kinder sind alle in Deutschland geboren und aufgewachsen. Timur Keskin besitzt sowohl die deutsche als auch die türkische Staatsbürgerschaft. „Ich bin stolz Türke zu sein, ich bin allerdings auch durch und durch Deutscher.“ Ob sein türkischer Großvater weiß, dass er das Unternehmen in Deutschland weiterführen wird, weiß Timur Keskin nicht. Dass der Opa stolz auf den Vater ist, der es in der Fremde so weit gebracht hat, weiß er aber und ist sich sicher, dass der Großvater auch stolz darauf ist, wenn der Enkel das Unternehmen übernehmen wird:
Wir sind was. Obwohl wir aus so einem kleinen Dorf kommen. Man kann sagen, wir sind was, wir haben es geschafft. Man sagt ja, vom Tellerwäscher zum Millionär. Ob es zum Millionär gereicht hat, ist eine andere Frage. Aber mein Vater hat was geschaffen. Wir müssen nicht auf das Geld achten, können in die Kneipe gehen und ein Bierchen bestellen, ohne darüber nachzudenken, ob ich das mir das überhaupt leisten kann.
Hauptsache keine FabrikarbeiterInnen
Olcay Girona, die Tochter von Kemal und Ismet Öner, sieht ihre Kindheit nicht so gelassen wie Timur Keskin, der keine Ausgrenzung erfahren hat. Als ältere Schwester fühlte sie sich für den Bruder verantwortlich, da beide Elternteile zum Teil bis in den späten Abend gearbeitet haben. Sie berichtet weiter:
Die Beziehung zwischen meinem Bruder und mir ist hier (in Deutschland) sogar noch enger geworden. Wir waren sehr selbständig, haben aufeinander aufgepasst. Die Eltern haben die Rollen aber auch gut verteilt. Ich hatte als die Ältere mehr Verantwortung, dafür musste ich auch den Kopf hinhalten bei manchen Dingen.
Auch Kemal und Ismet Öner sind stolz auf ihre Kinder. Stolz darauf, dass sie trotz der schwierigen Anfangsjahre erfolgreich ihr Studium abgeschlossen haben und nicht als HilfsarbeiterInnen in der Fabrik gelandet sind. 30 Prozent der MigrantInnen im Alter zwischen 20 und 30 Jahren besitzt keine Berufsausbildung.
Wenn Recep Keskin Schulen besucht oder in Unternehmen für die Ausbildungsplätze von türkeistämmigen Jugendlichen wirbt, stellt er fest, dass die dritte und vierte Generation, die mittlerweile hier heranwächst, nicht so ehrgeizig ist wie die zweite Generation.
Auch wenn jetzt 50 Jahre Anwerbeabkommen gefeiert wird, muss man leider sagen, dass die Eltern das Schulsystem noch immer nicht kennen. Die Eltern müssen miteinbezogen werden. Sie haben nur eine vage Vorstellung davon, dass aus dem Kind was Gutes werden soll. Dass sie dafür schon früh die Noten kontrollieren, zu den Elternsprechtagen gehen müssen, das ist ihnen fremd.
Einer dieser Jugendlichen, der ihm, dem Unternehmer, seinen Arbeitsplatz zu verdanken hat, ist Akin. Der Jugendliche aus Essen war „in schlechte Gesellschaft geraten“, wie seine Mutter sagt. Akin arbeitet nun bei einem Karosseriehersteller, sein Wunsch ist es sich selbständig zu machen. Womit, weiß der 20 jährige noch nicht.
In dem Alter wusste Ali Güngörmüs schon sehr genau, was er werden wollte: Koch. Sowohl er, als auch Recep Keskin und die Geschwister Öner, haben den Mut zum Risiko gehabt. Ali Güngörmüs, heute ein gefeierter Koch und Medienstar, erinnert sich gut an die Zeiten, als er anfing sich selbständig zu machen:
Schenken tut niemand heutzutage dem anderen was. Man muss sich das hart erkämpfen, erarbeiten. Ich kam als 27jähriger von München nach Hamburg. Das Restaurant hier war geschlossen, die Vorgänger hatten es in die Pleite geführt. Keiner hat an mich geglaubt, nur ich glaubte an meinen Traum…
Güngörmüs hat Kredite aufgenommen, all sein Geld in das Restaurant „Le Canard Nouveau“ investiert und gewonnen. Aber der Preis, den er dafür bezahlen muss, ist, dass sein kleiner Sohn ihn kaum sieht. So wie er auch seinen Vater nie gesehen hat. Sein Vater kam 1965 als Kanalarbeiter von Tunceli nach München. Alle sieben Kinder sind heute erfolgreich in ihrem Beruf. Auf alle sind die Eltern stolz, und doch sagt der Vater: „Es war finanziell nicht möglich die Kinder auf weiterführende Schulen zu schicken, das Geld reichte leider nicht aus. Aber alle Kinder, besonders Ali, haben einen besonderen Ehrgeiz entwickelt und es heute geschafft.“
Risikobereitschaft, so Recep Keskin, zeichnet die türkeistämmigen Neu-UnternehmerInnen aus. Eine Eigenschaft, die bei den deutschen UnternehmensgründerInnen nicht so ausgeprägt sei. Dafür, so der Unternehmer, sind die Deutschen tatsächlich organisiert und gehen planmäßiger vor.
Kemal und Ismet Öner sind mittlerweile RentnerInnen, die zwischen der Türkei und Deutschland hin- und herpendeln. „Unsere Heimat(en), auch wenn es im Deutschen keinen Plural für Heimat gibt.“ Kemal Öner ist in der Moschee-Gemeinde in Hagen aktiv und hat einen Verein ins Leben gerufen, in dem türkeistämmige Kinder Hausaufgabenbetreuung erhalten. „Ich habe meine Kinder unterstützt und bin sehr stolz auf ihren Werdegang. Sowohl privat als auch beruflich. Das will ich auch anderen Kindern geben.“
Einfach war es nicht, erst recht nicht für die erste Generation. Aber ohne die Migration nach Deutschland, so sind sich alle einig, wäre nicht nur Deutschland ärmer. Sie hätten alle ein anderes Leben, und vielleicht eines, das nicht so erfolgreich verlaufen wäre. Recep Keskin fasst das so zusammen:
Vielleicht wäre ich in der Türkei ein Schafshirte geblieben. Zwar der Chef der Hirten, aber eben ein Schafshirte. In Deutschland habe ich es durch Fleiß und Bildung zu etwas geschafft. Davon profitiert nicht nur Deutschland sondern auch mein anatolisches Dorf. Die Bildung ist der Schlüssel zu allem.
November 2011
Kadriye Acar arbeitet seit 1993 als freie Journalistin vor allem für öffentlich-rechtliche Sender (WDR, ZDF, ARTE). Ihre Schwerpunktthemen sind Türkei, Islam und Migration. Sie hat an der Uni Köln Germanistik, Islamwissenschaft und Politologie studiert.