Vielfalt und Partizipation in der „türkischen Community“ in Deutschland

Anlässlich des 50. Jahrestags des Anwerbeabkommens zwischen Deutschland und der Türkei wirft Mürvet Öztürk einen differenzierten Blick auf die soziale Wirklichkeit und die Lebensrealitäten der mittlerweile vier Generationen türkischer Einwander*innen in Deutschland.

von Mürvet Öztürk

Nun ist es soweit, ein Jubiläum steht vor der Tür: „Die Türken“ sind vor 50 Jahren nach Deutschland gekommen. Genauer gesagt: jene Frauen und Männer aus der Türkei, die als Arbeitskräfte angeworben wurden. Sie waren nicht die ersten TürkInnen in Deutschland. Über die Studenten und Studentinnen, die in den 1940er Jahren aus der Türkei mit Stipendien einreisten und als hochqualifizierte Fachkräfte in die junge Republik zurückkehrten, spricht kaum jemand heute.

Die rund 750.000 Menschen aus der Türkei, die infolge des Anwerbeabkommen vor 50 Jahren einwanderten, sind hingegen überwiegend hier geblieben und leben nun in dritter bzw. vierter Generation in Deutschland. Viele ihrer Biographien sind in diesem Jahr beschrieben und veröffentlicht worden. Oft werden jedoch in diesen Darstellungen Stereotype und Klischees reproduziert. So unterstellt man beispielsweise, dass der Bedarf an politischer Teilhabe nur gering ausgeprägt war und ist, weil die meisten MigrantInnen aus dem ländlichen Raum der Türkei stammen und mit nur geringer Schulbildung nach Deutschland gekommen sind. Ebenfalls werden oft die EinwanderInnen aus der Türkei als homogene Gruppe wahrgenommen. Dass mit dem Anwerbeabkommen zwischen der Türkei und Deutschland durchaus vielfältige Bevölkerungsgruppen ihr Glück in Deutschland gesucht hat, erfährt man erst, wenn man genauer hinschaut.

Im Jahr des Jubiläums will ich versuchen, einen differenzierten und realistischen Blick auf die soziale Wirklichkeit dieser Menschen zu werfen. Ich habe selbst als Tochter von EinwanderInnen aus der Türkei die sogenannte „türkische Community“ als multireligiös, multiethnisch und multikulturell erlebt, dabei auch durchaus politisch interessiert und aktiv - bezogen sowohl auf die Türkei als auch auf Deutschland. Die Menschen nehmen die Entwicklungen in beiden Gesellschaften sehr genau zur Kenntnis, haben es jedoch lange Zeit vorgezogen, ihre Meinung als „stille Beobachter“, für sich zu behalten.

Lebensrealitäten der EinwanderInnen aus der Türkei



Viele der sogenannten „Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter“ kamen zunächst alleine nach Deutschland und holten anschließend ihre Familien nach. Manche wiederum sind nach ein paar Jahren in Deutschland mit ihren Ersparnissen in die Türkei zurückgekehrt. Wiederum andere haben in Deutschland geheiratet und eine Familie gegründet. Es gibt eine weitere Gruppe, die Anfang der 1980er Jahre unter der Regierung Kohl freiwillig in die Türkei zurückkehrte. Die damalige Bundesregierung bot bei freiwilliger Rückkehr als Anreiz die Auszahlung des Arbeitnehmeranteils aus der Rentenkasse an. Dieses Angebot löste eine ganze „Rückkehrerwelle“ in den Jahren 1982-1984 aus.

Meine Eltern beispielsweise kamen im Jahre 1970 nach Deutschland und haben ihre vier Kinder hier auf die Welt gebracht. Beide haben immer gearbeitet und ihren Lebensunterhalt selbst verdient. Als sie in Zeiten der „Rückkehrerwelle“ von NachbarInnen und Bekannten von Summen bis zu 80.000 oder 100.000 DM Rückerstattung der Rentenkassen erfuhren, spielten auch sie kurzzeitig mit dem Gedanken, diesen Schritt zu gehen. Doch wir Kinder haben uns gewehrt und uns durchgesetzt. Alle waren wir in Deutschland geboren und kannten Istanbul nur aus den Sommerferien. Wir konnten noch nicht mal richtig Türkisch und das Leben schien uns dort überhaupt sehr hart zu sein. Was sollten wir also in der Türkei? Es war uns wichtig, in Deutschland zu bleiben und weiter hier in die Schule zu gehen. Glücklicherweise ließen sich meine Eltern von uns Kindern überzeugen und die Diskussion war 1985 beendet.

Die Menschen jedoch, die in diesen Jahren in die Türkei zurückkehrten, waren voller Hoffnungen auf ein neues, unbeschwertes Leben. Ihre Kinder – obwohl viele von ihnen des Türkischen kaum mächtig - sollten eine gute Bildung erhalten, und die Eltern mit den Arbeitserfahrungen und den Deutschkenntnissen sollten eine gute Anstellung finden. Dass sie dabei den in die Rentenkasse zur Hälfte einbezahlten Arbeitgeberanteil ohne große Diskussion einfach dem deutschen Staat überlassen haben, war vielen RückkehrerInnen nicht bewusst, und die Politik konnte so nebenher die Rentenkassen sanieren.

Zwar steht die Situation der in Deutschland verbliebenen MigrantInnen aus der Türkei und ihrer Nachkommen im Zentrum der medialen und politischen Aufmerksamkeit und wird auch in der Türkei diskutiert, doch die Biographien dieser Rückkehrer der 1980er Jahre sind nicht ausreichend bekannt und bisher auch nicht erforscht worden. Es wäre Aufgabe der Türkei, durch soziologische Forschungsprojekte zu untersuchen, ob diese Menschen ausreichend in die türkische Gesellschaft integriert werden konnten und ob sie chancengerechten Zugang zum Arbeitsmarkt und zur Bildung fanden. Die Geschichten, die ich aus meinem privaten Umfeld kenne, zeigen, dass es nicht immer gut gelaufen ist. Viele RückkererInnen hatten Schwierigkeiten mit dem vergleichsweise unbürokratischen, intransparenten und auf den Leistungen von „VermittlerInnen“ basierenden System in der Türkei zu Recht zu kommen.

Die negativen Erfahrungen der ersten RückkehrerInnen bewirkten Ende der 1980er Jahre, dass viele der „zurückgebliebenen“ GastarbeiterInnen entschieden, sich nun erst Recht in Deutschland dauerhaft niederzulassen. Die Entschlüsse vieler MigrantInnen, Wohnungen und Häuser in Deutschland zu kaufen, gehen auf diese Zeit zurück, ebenso wie die Motivation, die Sprache zu lernen, um besser am gesellschaftlichen und politischen Leben teilhaben zu können. Doch die Wenigsten spielten Mitte bzw. Ende der 1980er Jahre mit dem Gedanken, die türkische Staatsbürgerschaft zugunsten der deutschen aufzugeben. Die Zeit schien für diesen Schritt noch nicht reif zu sein.

Vor diesem Hintergrund kann man sagen, dass eine aktive Integrationspolitik in Deutschland viel zu spät eingesetzt hat. Obwohl der Entschluss der Mehrheit der GastarbeiterInnen hier zu bleiben und ihr Leben in Deutschland zu gestalten, bereits Mitte der 1980er Jahre fest stand, wurde von der Politik Jahrzehnte lang diese Tatsache ignoriert. So verpasste sie es, die Einwanderungsrealität politisch zu gestalten.

Eingewanderte Vielfalt aus der Türkei



Es war ein Trugschluss auf beiden Seiten, dass „Türken aus der Türkei“ eine homogene Gemeinschaft bildeten. Durch neu entstandene Nachbarschaften, durch neue KollegInnen in der Fabrik oder durch die MitschülerInnen in der Schule wurde den MigrantInnen bald selbst deutlich, dass dem nicht so war. Vor allem bei ihren Festen stellten die GastarbeiterInnen schnell fest, dass sie unterschiedliche Traditionen pflegten: Die einen fasteten zum Ramadan, die anderen wiederum zu Aşura; die einen feierten Hıdırellez, die anderen Newroz, wiederum andere begingen das Gağant-Fest.

Als in Deutschland geborene und aufgewachsene Alevitin, entdeckte ich die Unterschiede innerhalb der „türkischen Community“ vor allem auf dem Schulhof und in der Klasse auf der Hauptschule, die ich bis zur zehnten Klasse besuchte. In der Kultur meiner Familie wurde zum Monat Ramadan entweder gar nicht gefastet oder maximal drei Tage. Daher wurde ich zu Anbruch des Fastenmonats von den türkischen MitschülerInnen gefragt, ob ich denn keine Muslima sei. Die Erklärungsversuche meiner Eltern, wir seien im Gegenteil die wahren MuslimInnen, weil wir die Treue zu Imam Ali hielten, dem Schwiegersohn und Cousin des Propheten Muhammad, der von den ummayadischen Usurpatoren umgebracht worden sei, nutzten mir auf dem Schulhof wenig. Ob die Interpretation meiner Eltern aus der mündlichen Tradition der AlevitInnen hervorging oder ob sie historisch und theologisch belegt war, konnte ich damals nicht beurteilen. Vor allem war klar, dass wir anders waren und andere Feste hatten als die meisten meiner türkischen Schulfreundinnen. Und das Verhältnis lud sich eher mit Spannung auf, als sich feierlich zu entspannen, wenn es um Religionsfragen und die theologische Interpretation bestimmter Feste ging. Dass die alevitische Identität eine Ursache hierfür sein könnte, wurde mir zwar früh bewusst, doch war mir das familiäre Schweigen in jenen Momenten keine Hilfe, um Spannungen zu bewältigen.

Irgendwann fasste ich mir ein Herz und beichtete einigen meiner langjährigen MitschülerInnen, dass wir eben nicht zum Ramadan fasteten, sondern zu Aschura, weil wir AlevitInnen seien. Diese Auskunft löste noch mehr Irritationen aus. Mir blieb es nicht erspart, dass auch meine SchulfreundInnen mich mit den altbekannten Vorurteilen konfrontierten, die es von sunnitischer Seite gegenüber AlevitInnen gibt. Die Antworten ihrer Eltern auf die Frage, was AlevitInnen seien, müssen wohl unterschiedlich und nicht immer freundlich ausgefallen sein…

Diese Szenen spielten sich Mitte der 1980er Jahre ab. Es ist wichtig zu wissen, dass sie sich heute immer noch auf unseren Schulhöfen ereignen. Vorurteile werden oft - unbewusst oder bewusst - aus dem Elternhaus mit in die Schule gebracht. Die Konflikte innerhalb der „türkischen Community“, die eben keine homogene Gemeinschaft ist, sind oftmals Ursache für diese Streitigkeiten. LehrerInnen, die keinen Einblick in die Hintergründe dieser Konflikte haben, sind daher überfordert. Die Schule könnte der Ort sein, an dem miteinander diskutiert wird, sich alle besser kennen lernen und auch Vorurteile abbauen. Doch dafür müsste in den Schulen ausreichend Raum und Zeit zur Verfügung stehen, und es müssten auch professionelle Angebote durchgeführt werden. Die Lehrerschaft muss in die Lage versetzt werden, die Vielfältigkeit ihrer türkeistämmigen Schülerschaft einzuschätzen, damit sie mögliche Konfliktfel-der identifizieren und ihnen vorbeugen kann. LehrerInnen müssen wissen, dass die Türkeistämmigen in Deutschland keineswegs alle MuslimInnen sind, dass viele einen christlich-armenischen Hintergrund haben, oder AssyrerInnen, kurdische Yezidi , AlevitInnen oder AgnostikerInnen sind. Die „türkische Community“ ist also viel heterogener, als manchen bekannt und lieb ist.

Sozialisation in der Alevitischen Familie



Meine Eltern, die im Jahre 1970 nach Deutschland kamen, waren als alevitische KurdInnen bereits in der Türkei eine Minderheit der Minderheit gewesen. Offen diskriminiert wurden sie allerdings nicht, weil sie sich in der Türkei nicht politisch engagiert oder auf die Pflege ihrer kulturellen Identität bestanden haben. Von der laizistischen Türkei erhofften sie sich gleiche Staatsbürgerrechte, gleichberechtigten Zugang zu Bildung und zum Arbeitsmarkt, also eine soziale, kulturelle Teilhabe und rechtliche Gleichberechtigung. Die bittere Armut in Zentralanatolien in den 1950er und 1960er Jahren und die archaische Kultur ihrer Dorfgemeinschaft trieb sie nach Istanbul, in die große Stadt der Hoffnungen und Träume.

Auf der Suche nach dem Glück, kamen beide - unabhängig voneinander - nach Istanbul, lernten sich kennen und heirateten. Ende der 1960er Jahre bewarb sich mein Vater bei der Außenstelle des Arbeitsamtes, bekam schließlich das Arbeitsangebot einer Textilfirma in Mönchengladbach und trat dort im Januar 1970 seine Arbeit an. Die ersten Monate lebte auch mein Vater in einem dieser „Gastarbeiterheime“ mit anderen Männern aus der Türkei zusammen. Als meine Mutter, die ebenfalls Arbeit in einer Garnfabrik gefunden hatte, ein halbes Jahr später nachfolgte, zogen sie in eine kleine Wohnung.

Die Türkeistämmigen, die man in dieser Zeit kennenlernte, wurden in der Regel schnell zu FreundInnen, weil man durch sie ein Stück Heimat finden und erhalten konnte. Erst viel später traten die Unterschiede in Kultur, Religion und Sprache in den Vordergrund. Die ersten Diskussionen über kulturelle Unterschiede wurden in den Fabriken, also am Arbeitsplatz, ausgefochten. Als Ende der 1970er Jahre in der Türkei politische Unruhen ausbrachen, war dies natürlich auch in den deutschen Fabriken ein Thema. Die Fragen, wer „links“ eingestellt war, wer „rechts“, wer „religiös“ oder „ungläubig“ war, wurden auf der Arbeit ausgetragen, neue Freundeskreise und Bündnisse formierten sich - dreitausend Kilometer von den Geschehnissen entfernt. Doch dazu später mehr.

Als Kind war mir klar, dass sich meine Eltern manchmal in einer anderen Sprache unterhielten. Wenn unsere Verwandten zu Besuch kamen, wurde ebenfalls diese andere Sprache gesprochen. Später erfuhr ich, dass es Kurdisch war. Doch manche meiner gleichaltrigen Cousins und Cousinen beherrschten auch diese Sprache. Mir gelang es durch intensives Lauschen und heimliches Nachfragen, diese Sprache irgendwie zu entschlüsseln. So konnte ich eines Tages, als meine Eltern sich heimlich in dieser anderen Sprache unterhielten, fast alles verstehen.

Wenn über das Für und Wider des Erlernens der Muttersprache der Migrantenkinder gesprochen wird, ist in der Regel das Türkische damit gemeint. Doch nicht jede Person mit türkischem Pass oder Vorfahren aus der Türkei hat Türkisch zur Muttersprache. In der Universität zu Köln, später auch anderswo, lernte ich Menschen aus der Türkei kennen, deren Muttersprache Lazisch, Georgisch, Tscherkessisch, Arabisch oder Armenisch war. Sie alle hatten Großeltern oder Verwandte in den Dörfern, die sie in den Sommerferien besuchten aber nicht immer verstehen konnten, weil die Alten kein Türkisch sprachen.

Dass die Türkei multireligiös, multikulturell und multiethnisch ist, war nicht nur den deutschen Arbeitgebern nicht be-wusst, die in erster Linie an gesunden und hoch motivierten Arbeitskräften interessiert waren. Auch unter den Türkei-stämmigen wurde und wird bis heute die Vielfalt der eigenen Landsleute verdrängt. Es wird daher Zeit, dass die ethni-sche, kulturelle und religiöse Vielfalt und Pluralität der Türkei und der türkeistämmigen Kulturen hierzulande von allen Seiten anerkannt wird – gemäß dem Motto „Einheit in Vielfalt“.

Mangelnde politische Partizipation: Trugschluss



Schon früh stellte ich fest, dass Politik einen großen Einfluss auf den Alltag der Menschen hat, auf die Möglichkeit, ihre Existenz zu sichern und sich zu verwirklichen. Durch die Diskussionen im Freundes- und Bekanntenkreis meiner Eltern, verfestigte sich bei mir die Überzeugung, dass, wenn Politik und Staat in einer pluralistischen Gesellschaft demokratisch verfasst sind, wenn auch die Grundrechte der Angehörigen von Minderheiten geachtet werden, sie gerecht behandelt und ihnen die gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht werden, der gesellschaftliche Zusammenhalt stabiler ist und besser funktioniert als in Staaten, in denen diese Werte und Normen nicht gelten. Viele hatten ihre Heimat verlassen, weil sie neben Armut in der Türkei auch Verstöße gegen ihre Grundrechte erlebten. Mit dieser Er-kenntnis und aufgrund meiner Beobachtungen innerhalb der hiesigen „türkischen Community“ kann ich der weit verbreiteten Annahme widersprechen, dass die MigrantInnen aus der Türkei generell politisch desinteressiert seien.

Als in der Türkei Ende der 1970er Jahre zahlreiche Streiks der Gewerkschaften stattfanden und die politischen Ausei-nandersetzungen zwischen „Linken“ und „Rechten“ sich zuspitzten, wurden diese Unruhen auch unter den GastarbeiterInnen spürbar. Als Kind wurde ich zu Versammlungen und Kongressen mitgenommen, deren Inhalt ich zwar nicht genau verstand, doch soweit erkennen konnte um zu begreifen, dass es um die politische Situation in der Türkei ging, wo die ArbeiterInnen und die Gewerkschaften für mehr Arbeitsrechte und Mitbestimmungsrechte kämpften. Auf solchen Versammlungen wurde ebenfalls heiß diskutiert, wie mit den Forderungen von Minderheiten umgegangen werden sollte.

Die Diskussionen innerhalb der kurdischen Gemeinschaft, der größten ethnischen Minderheit in der Türkei, wurden nach den politischen Unruhen Ende der 1970er Jahre auch in Deutschland immer heftiger. Auf der einen Seite stritten jene, die einen radikalen politischen Umbruch anstrebten und einen gerechten, säkularen Staat forderten, der alle BürgerInnen gleich behandelt, unabhängig von ihrer Ethnie oder Religion. Auf der anderen Seite gab es die Gruppe, die einen eigenen Staat gründen wollte. Dies führte schließlich zur Spaltung und zum Bruch: Eine Gruppe engagierte sich in der Demokratischen Linkspartei der Türkei, eine andere wiederum ging in die Kurdische Arbeiterpartei.

 

Ähnliche Diskussionen gab es auch innerhalb anderer Gruppen, die sich vor allem über die Fragen stritten, wie viel Islam im türkischen Staat sein darf und ob durch das Festhalten an der einheitlichen Türkischen Nation die Konflikte besser gelöst werden könnten. Als die Unruhen in der Türkei 1980 durch einen Militärputsch beendet wurden, der zur Inhaftierung vieler politischer AktivistInnen sowohl aus dem linken als auch dem rechten Lager führte, kehrte innerhalb der verschiedenen Communities in Mönchengladbach Resignation und oberflächliche Ruhe ein. Nicht mehr die politischen Entwicklungen in der Türkei standen jetzt im Vordergrund, sondern die Sorgen des Alltagslebens in Deutschland: Die Bildung der Kinder, das knappe Auskommen für die immer größer werdenden Familien. Ich verspürte ab 1982, als ich aus der Grundschule auf die Hauptschule ging, bis Ende der 1980er Jahre die heftigen Streitigkeiten zwischen und innerhalb der verschiedenen Gruppen nicht mehr.

All diese Entwicklungen schildere ich hier bewusst aus meiner kindlichen Erinnerung heraus, ohne Anspruch auf historische Exaktheit zu erheben. Sie sollen darlegen, dass viele in Deutschland geborene und aufgewachsene Türkeistämmige, wie ich, damals in ihren Elternhäusern durchaus mit politischen Diskussionen und Auseinandersetzungen in Berührung kamen, die sich allerdings bis Mitte der 1980er Jahre überwiegend auf die Tür-kei bezogen.

Wiedervereinigung und Ausländerfeindlichkeit



Wenn meine deutschen Freundinnen mir von ihren Verwandten im Osten erzählten, denen sie jedes Jahr Pakete schickten, hoffte ich, dass die Wiedervereinigung bald kommen würde. Ich lebte ja auch von meinen Verwandten getrennt und musste ihnen bei unseren Sommerurlauben immer viele Sachen aus Deutschland mitbringen. Doch die Vorstellung, dass eine Mauer Verwandte voneinander trennt, dass an der deutsch-deutschen Grenze auf Flüchtende geschossen wird, fand ich ungeheuerlich. Als dann die Mauer fiel und 1990 Deutschland wieder vereint war, war die Freude bei uns in der Familie sehr groß. Wir erhofften uns eine Zeit des Friedens, der Versöhnung und Einigkeit in Deutschland.

Die allgemeine Aufbruchsstimmung mischte sich mit meiner persönlichen: 1990 wurde ich volljährig und hatte den Führerschein erworben. In einem Jahr sollte ich Abitur machen, denn in der Zwischenzeit hatte ich meinen Hauptschulabschluss gemacht und mich entschieden, die Oberstufe zu besuchen. Dass nun der Ost-Westkonflikt beendet sein könnte, dass mit der Wiedervereinigung ein wichtiges Zeichen im Sinne der europäischen Integration gesetzt wurde, motivierte mich zum gesellschaftlichen Engagement.

Erst als die ausländerfeindliche Stimmung im vereinten Deutschland von den Stammtischen her immer lauter wurde und bei den Anschlägen in Hoyerswerda, Rostock, Mölln und Solingen Menschen ums Leben kamen, ließ mein jugendlicher Zukunftsoptimismus erheblich nach. Als im Mai 1993 in Solingen ein Anschlag auf das Haus einer türkischen Familie das Leben von fünf türkischen Frauen forderte, war meine Entrüstung groß. Ich konnte es nicht fassen, dass Menschen auf Grund ihrer ethnischen oder kulturellen Identität Opfer von Anschlägen wurden und sogar getötet wurden. Im gleichen Jahr ereignete sich eine weitere menschliche Katastrophe, diesmal in der Türkei, genauer gesagt in Sivas, dem Ort, dem meine Eltern entstammten und den sie vor ca. 30 Jahren verlassen hatten. In Sivas fielen im Juli 1993 in einem Hotel 37 Personen einem Brandanschlag zum Opfer, die überwiegende Mehrheit waren alevitische DichterInnen und DenkerInnen. Da seit Beginn der 1990er Jahre die meisten türkischen Haushalte mit Satellitenschüsseln ausgestattet waren, konnten wir in Deutschland live verfolgen, wie ein Mob von verblendeten religiösen Fanatikern den Tod von Menschen forderte, die gerade ein Kulturfest in einem Hotel in Sivas feierten. Der Auslöser soll der Besuch des atheistischen Schriftstellers und Intellektuellen Aziz Nesin auf dem Kulturfest gewesen sein, der die „Satanischen Verse“ Salman Rushdies ins Türkische übersetzt haben soll.

Die Geschehnisse dieser Jahre haben bei vielen türkeistämmigen MigrantInnen, die immer noch als „Gastarbeiter“ bezeichnet wurden, das Gefühl ausgelöst, keine „Gäste“ mehr sein zu wollen. Sie entschieden sich in Deutschland zu bleiben und ein fester Bestandteil dieser Gesellschaft zu werden. Sie wollten dazu gehören und das Land mitgestalten. So entschieden sich zu Beginn der 1990er immer mehr türkeistämmige Menschen, die Staatsbürgerschaft zu beantragen, um auch politisch teilhaben zu können.

Auch mich prägte die Erfahrung der rassistisch motivierten Anschläge auf Menschen. Ich wollte mich aktiv gegen solche Missstände in der Gesellschaft engagieren und so entschied ich mich nach dem Abitur und einer Ausbildung zur Groß- und Außenhandelskauffrau, Islamwissenschaft zu studieren. Mit mehr Kenntnis über islamische Kultur und Geschichte wollte ich mich später für den interreligiösen und innerkulturellen Dialog einsetzen. Es war mir wichtig, dass Menschen einander auf gleicher Augenhöhe begegnen. Dieser Weg führte mich zur Politik.

Gegenseitige Vorurteile abbauen



Mein Studium begann ich 1993 in Köln und war in diesem emotional sehr aufgewühlten Jahr mit dem Erlernen des Arabischen beschäftigt. Für viele AlevitInnen war es schwer nachvollziehbar, warum ich die Sprache der „islamischen Fanatiker“ lernen wolle, ausgerechnet in dem Jahr, in dem der Anschlag auf das Hotel Madimak in Sivas geschah. Doch nach meiner Überzeugung müssen wir das Recht, das wir für uns reklamieren, auch den anderen zubilligen und dürfen die Vorurteile, die wir als AlevitInnen erleiden, nicht unsererseits gegen gläubige SunnitInnen vorbringen. Und so versuchte ich auch in die alevitische Gemeinschaft zu wirken und Vorurteile gegenüber SunnitInnen abzubauen.

 Als ich dann erstmalig die arabischen Länder Tunesien, Ägypten, Libanon und Jordanien bereiste und ein halbes Jahr in Syrien verbrachte, konnten meine Verwandten dies schwer begreifen. Und wie es in solchen Fällen vorkommt, war mein zukünftiger Bräutigam, den ich meinen Eltern vorstellte und den ich später auch heiratete, ein Deutsch-Ägypter, der sowohl deutsche als auch arabische VorfahrInnen hat. Meine Eltern schlossen ihn schnell in ihr Herz und schätzten ihn, und dies tat auch unser Familienumfeld. Meine Eltern waren hier viel toleranter, als ich es vermutet habe. Auch die Familie meines Mannes nahm mich herzlich auf und ermöglichte mir zu Hause ein Stück deutsche Kultur. Heute sind deutsch-türkische, deutsch-kurdische oder türkisch-kurdische Ehen in meinem Bekanntenkreis in Mönchengladbach nicht mehr die Ausnahme, sie werden akzeptiert und als Bereicherung verstanden. Der beste Weg Vorurteile abzubauen, ist immer noch der direkte Kontakt, der Austausch und die Auseinandersetzung mit den eigenen Vorurteilen.

Teilhabe in Zukunft



All diese persönlichen Erfahrungen aus meiner Kindheit und Jugend haben meinen Weg und mein poltisches Engagement geprägt. Für die Menschen aus der „türkischen Community“ gilt es, ihre Pluralität und Vielfalt zu entdecken und die unterschiedlichen Lebensentwürfe und -wege auch innerhalb ihrer Communities zu akzeptieren.

Was die Integrationsdebatte und –politik in Deutschland betrifft, bin ich der Meinung, dass bessere Kenntnisse über die vielfältigen Hintergründe der Menschen aus der Türkei hier helfen würde, sie nicht pauschal und undifferenziert als eine homogene Gruppe zu begreifen. Denn viele interne, politisch gelagerte Konflikte innerhalb der Community blieben der deutschen Gesellschaft sehr lange unbekannt. Diese Konflikte zu kennen und einordnen zu können, ist meiner Meinung nach ein wichtiger Bestandteil der Diversity- und Integrationsdiskussion, die wir aktuell in Deutschland führen. Heute besitzen viele Menschen transnationale Identitäten und fühlen sich mit den politischen Entwicklungen sowohl in Deutschland als auch in der Türkei verbunden. Diese sogenannten Mehrfachzugehörigkeiten sind keineswegs ein Hindernis, um in Deutschland politisch zu partizipieren und sich zu engagieren.

Die „Loyalitätsfrage“, die türkeistämmigen Menschen mit Doppelpass immer gestellt wird, sollte langsam ein Ende finden. Über 50 Prozent der in Hessen eingebürgerten Menschen haben bereits heute eine doppelte Staatsbürgerschaft. Die größte Gruppe, die davon bisher ausgeschlossen bleibt, ist die Gruppe der türkischen StaatsbürgerInnen. Transnationale Identitäten sind eine Realität in vielen Ländern und auch in Deutschland. Demokratiepolitisch ist es wichtig, dass wir Menschen mit solchen Identitäten auch rechtlich eine Chance zur politischen Partizipation einräumen. Noch immer dürfen in manchen Städten und Stadtteilen unserer Republik Menschen, die seit über 30 Jahren dort leben, nicht einmal auf kommunaler Ebene mitentscheiden, wer ihr Bürgermeister oder Landrat werden wird! Um diese Teilhabe rechtlich zu ermöglichen, brauchen wir eine Erleichterung der Einbürgerung, die Hinnahme der Mehrstaatlichkeit und die Abschaffung der Optionspflicht.

 

November 2011

 

Bild entfernt.

Mürvet Öztürk absolvierte ein Studium der Islamwissenschaft und Geschichte an der Universität zu Köln. Es folgten Aufenthalte in Syrien, Libanon, Jordanien, Ägypten und Tunesien. Seit 2008 ist sie Mitglied der Grünen Fraktion im Hessischen Landtag