Bücherliste für unterschiedliche Lebensrealitäten - Kinderbücher in intersektionaler Praxis

Buchcover „My Princess Boy“ von Cheryl Kilodavis and Suzanne DeSimone
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Buchcover „My Princess Boy“ von Cheryl Kilodavis and Suzanne DeSimone

 

Die erste Auflage der Kinderbuchliste ist bei GLADT e.V. im Rahmen des Projektes „Mariannenplatz gegen Lesben-, Schwulen- und Transfeindlichkeit - Gemeinsam für Akzeptanz“ im Jahre 2010 entstanden. In dem Projekt ging es vorrangig darum, gemeinsam mit Menschen, die in Kreuzberg ansässig sind oder dort arbeiten, ein Zeichen gegen Diskriminierung zu setzen. Da sich an dem Ort zahlreiche Kindertageseinrichtungen befinden, kam die Idee auf, den dort arbeitenden Fachkräften und aktiven Elterngruppen eine Liste bereitzustellen, mit der sie ohne großen Aufwand Kinderbücher finden können, die unterschiedliche Lebensrealitäten von Menschen repräsentieren. Die Resonanz war sehr positiv – viele Einrichtungen hatten Interesse sich mit den ihnen angebotenen Themen zu beschäftigen. Eine Kinderbuchliste und ggf. eine eintägige Schulung konnte die Nachfrage bei Weitem nicht decken. Auch die festen Strukturen, in denen die Pädagog_innen an ihren Arbeitsplätzen häufig schon steckten, erschwerten es, neue Konzepte in die Tat umzusetzen. Durch diese Erkenntnis entstand die Idee an einem anderen Ort anzusetzen, und zwar dort, wo Konzepte erlernt werden: In Schulen für Sozialwesen. Unsere Vorstellung war es, die intersektionale Pädagogik einen Teil der Ausbildung werden zu lassen.
 

 

Initiative „i-Päd – intersektionale Pädagogik“

Im Zuge dessen gründeten wir im August 2011 bei GLADT e.V. die Initiative „i-Päd – intersektionale Pädagogik“. Die Initiative soll die Anerkennung der Komplexität von Identitäten in der Pädagogik fördern und stärken. Dabei geht es um die Identitäten von Kindern und Jugendlichen aber auch die der Lehrkräfte, Erzieher_innen und aller anderen Menschen, die mit Kindern und Jugendlichen zusammenarbeiten.

In diversen Lehreinheiten, Workshops und Fortbildungen erarbeiten wir gemeinsam mit den Teilnehmenden aufgrund welcher Identitätsmerkmale Menschen Ausschlüsse beziehungsweise gesellschaftliche Bevorzugung erfahren können. Dazu zählen vermutete und tatsächliche Merkmale, zum Beispiel das Geschlecht eines Menschen, die Herkunft und/oder Religion, die sexuelle Orientierung, die Geschlechtsidentität, der soziale Status, das Alter, das Aussehen, körperliche und geistige Befähigungen etc.

Wir gehen davon aus, dass diese Identitätsmerkmale für alle Menschen relevant sind. Oft werden sie uns aber dann erst bewusst, wenn wir Abwertung und Ausgrenzung erfahren. Zum Beispiel hat jeder Mensch ein Alter. Besonders thematisiert wird es aber erst, wenn ein Mensch deswegen als „zu alt“ oder „zu jung“ für etwas gilt. Um die Lebenswelten aller Menschen respektvoll zu behandeln, müssen Lehrkräfte,, Pädagog_innen usw., sich der Ausschlüsse bewusst werden um sie verhindern zu können.

Wir als Team von Pädagog_innen, Erzieher_innen, Sozialarbeiter_innen, Politikwissenschaftler_innen und Psycholog_innen bieten unterschiedliche Sichtweisen in Bezug auf intersektionale Praxis. Wir bieten Fortbildungen mit den Schwerpunkten Rassismus, Sexismus, Homophobie und Transphobie an, immer mit Blick auf Mehrfachzugehörigkeiten und Intersektionalität. Hier sensibilisieren wir für ungleiche Chancen, Diskriminierungen und Privilegien. Unser Ziel ist es unterschiedliche Lebensrealitäten fair zu repräsentieren und Diskriminierungserfahrungen von Menschen anzuerkennen.
 

„Problemorientierte“ und „nicht problemorientierte“ Bücher

Bevor wir in den Workshops beziehungsweise Wahlpflichtfächern unseren Teilnehmer_innen praktisches Werkzeug wie zum Beispiel Kinderbücher in die Hand geben, wollen wir sichergehen, dass die Relevanz intersektionaler Arbeit und die Rolle der Pädagog_innen verstanden wird. Denn es macht wenig Sinn, wenn Pädagog_innen Kinderbücher zum Thema Geschlechterrollen in der Kita anbieten, dann jedoch fortwährend Geschlechterklischees reproduzieren.

 

Unsere Arbeit basiert auf der Annahme, dass Kinder weniger diskriminieren und sich freier entfalten können, wenn sie einen positiven und fairen Umgang mit unterschiedlichen Lebensrealitäten kennen. Dies ist stark abhängig davon, wie die Erwachsenen in ihrer Umwelt auf Unterschiede reagieren. Nicht problemorientierte Kinderbücher bilden die Basis inklusiver Arbeit. Das heißt Kinderbücher, in denen zum Beispiel Kinder mit Rollstuhl die Protagonist_innen sind und es einen Handlungsstrang gibt, der nicht (ausschließlich) auf ihrer Identität basiert. So geht es nicht um Diskriminierung und „Anderssein“, sondern um Freundschaft, Träume oder ähnliches, wie es in vielen anderen Kinderbüchern der Fall ist. Häufig reicht es aus den Kindern diese Sorte von Büchern zur Verfügung zu stellen, damit sie sich wieder erkennen oder für sich Neues entdecken können.

 

Finden in den Kindergruppen Ausschlüsse statt, ist es an der Zeit dies zu thematisieren. Neben einigen Kinderbuchübungen anhand problemorientierter Bücher, halten wir unsere Kolleg_innen vor allem dazu an, selbst kreativ zu werden. Bereits existierende Kinderbücher, die gewohnte dominante Strukturen repräsentieren, können zum Beispiel umgeschrieben werden. Geschieht das in Zusammenarbeit mit den jungen Leser_innen bzw. Zuhörer_innen der Geschichten, bietet eine solche Arbeit die Möglichkeit der Thematisierung von Ungleichheiten. So kann ein Held der Geschichte zu einer Heldin oder die Familie Müller zur Familie Özdemir werden.
 

Buchempfehlungen

Ein problemorientiertes Buch, also eines, in dem es darum geht Diskriminierung zu benennen und dagegen vorzugehen, das wir gerne verwenden, ist das Buch von Mary Hoffmann und Caroline Binch „Erstaunliche Grace“, übersetzt aus dem Englischen.

Grace ist ein junges Schwarzes Mädchen, das bei einem Auftritt die Rolle des Peter Pan übernehmen will. Die weißen Kinder in ihrer Gruppe sagen ihr, dass sie nicht die passende Besetzung für diese Rolle sei. Immerhin sei sie ein Mädchen und dazu noch Schwarz. Nach einem Gespräch mit ihrer Großmutter und ihrer Mutter geht sie gestärkt in die Gruppe zurück und übernimmt die Rolle mit großem Erfolg. Es werden Sexismus und Rassismus in einer Geschichte thematisiert und gleichzeitig zielt es auf Empowerment von Schwarzen Mädchen bzw. allen Menschen, denen gesagt wird, dass sie etwas nicht können aufgrund ihrer Identität(en).

Ein nicht (nur) problemorientiertes Kinderbuch ist „Unsa Haus“ von Ben Böttger, Rita Macedo und anderen. In diesem Buch sind gleich mehrere Geschichten zu finden, in denen vor allem Kinder of Color und Schwarze Kinder die Hauptrollen spielen. Ihre Familien bestehen aus unterschiedlichen Konstellationen und sie selbst widersprechen vielen Geschlechterklischees. Die Kinder bewältigen gemeinsam Herausforderungen in ihrem Leben. So muss Fredi ihre Familie mit zwei Vätern als eine „richtige“ Familie verteidigen. Dani ist unglücklich, weil er von seinen Eltern kein schönes glitzerndes Kleid zum Geburtstag bekommt, sondern nur ein ganz langweiliges. Liam leidet unter der Trennung der Eltern und lernt seine Befürchtungen zu formulieren. Dieses Buch kann sowohl dazu dienen aufkommende Themen zu diskutieren, als auch ein Ort der Identifikation sein für Kinder of Color, Schwarze Kinder, Kinder mit Rollstuhl, Kinder aus verschiedensten Familienkonstellationen und Kinder, die geläufigen Geschlechterrollen nicht entsprechen.

Beide Bücher haben Einzug in die Bücherliste gefunden, weil sie unserem Anspruch von themenübergreifender Intersektionalität entsprechen, obwohl sie sehr unterschiedliche Ansätze haben. Wir finden beide Ansätze wichtig und arbeiten mit einer Kombination aus beiden.

Ein weiteres nicht problemorientiertes Buch ist „Warten auf Seemann“ von Ingrid Godon und André Sollie. Der Leuchtturmwärter Mattes wartet sehnsüchtig auf den Seemann, der ihm versprochen hat, ihn auf eine Weltumseglung mitzunehmen. Jeden Tag hält er Ausschau nach ihm und niemand glaubt mehr daran, dass der Seemann zurückkehrt. Aber eines Tages holt er Mattes ab und sie sind beide sehr glücklich. Das Buch schafft es die Liebe und Sehnsucht des Leuchtturmwärters auch ohne Label und Kategorien zu beschreiben. In diesem Fall siegt das Subtile über das Plakative – immerhin hat uns bei der Auswahl der Bücher natürlich auch die Umsetzung der Geschichte, die Gestaltung der Bilder und das Potential für Veränderung interessiert.

Und so begeistern wir uns für das Werk „Die Kinderkiste“ von Toni Morrison, ihrem Sohn Slade und Giselle Potter (aus dem amerikanischen Englisch) ähnlich wie für „Meta Morfoß“ von Peter Hacks und Gisela Neumann, der Pflichtlektüre in Grundschulen der ehemaligen DDR: Zwei Geschichten, die von (mal mehr und mal weniger offensichtlich) dem Recht auf Selbstbestimmung und der Freiheit der eigenen Entwicklung handeln.

Die Kinderkiste ist der Ort, in den Kinder eingesperrt werden, die zu laut lachen und spielen. Es ist der Ort, den die Eltern für ihre Kinder schaffen, weil sie „das Beste“ für sie wollen. Eine Kiste, die mit allen Spielsachen ausgestattet ist, die sich die Kinder wünschen könnten – nur dürfen sie diese Kiste nicht verlassen. Sie träumen von der Natur und schaffen es am Ende sich den Weg zu ihren Träumen zu bahnen.

Das Buch thematisiert vor allem Adultismus, die Diskriminierung von Kindern durch Erwachsene. Nicht thematisiert wird hingegegen, dass die Hauptrollen ein Kind of Color, ein Schwarzes Kind und ein weißes Kind spielen.

Meta Morfoß' Leben wird in einer kreativen Geschichten verpackt, die die eigentliche Botschaft auch mal in den Hintergrund rücken lässt. Meta ist ein junges Mädchen, die sich verwandeln kann. So verwandelt sie sich in einen Stift, Engel und auch schon mal in ein Krokodil. Den Erwachsenen passt das nicht, sie halten es für gefährlich. Und so treffen sich der Lehrer und der Müllmann bei Metas Familie Zuhause. Die Tante Herr Maffrodit setzt sich für ihre Nichte ein und plädiert auf Selbstbestimmung und Flexibilität der Identität.

Auch hier stehen die Rechte der Kinder im Vordergrund. Die Irritation, die durch ein Gespräch zwischen dem Müllmann und Tante Herr Maffrodit, der Person mit Schnurrbart und Kleid, entsteht, bietet nebenbei eine Vorlage, Geschlecht und Geschlechtsidentität zu thematisieren.

Sowohl für junge wie für ältere Menschen soll unsere intersektionale Pädagogik auch Spaß und Leichtigkeit bedeuten, sowie Potential für Entfaltung und Neugierde mitbringen. Doch nicht alle Kinderliteratur mit politischer Mission erfüllt diesen Wunsch.
 

 

Englischsprachige Publikationen

Englischsprachige Veröffentlichungen gibt es viele. Diese benutzen wir teilweise auch in unserer Arbeit, in dem wir sie selbst übersetzen und vorlesen. In die Kinderbuchliste haben wir davon keine aufgenommen, eines empfehlen wollen wir trotzdem.

Eines dieser Bücher ist „My Princess Boy“ von Cheryl Kilodavis and Suzanne DeSimone. Die Geschichte, geschrieben von der Mutter des Protagonisten, handelt von einem Jungen of Color, der nicht in die gängigen Geschlechterrollen passt und gern eine Prinzessin wäre. Die Botschaft ist stets: „Es ist gut, dass du bist, wie du bist und es ist schön, dass es dich genauso gibt.“  

Weitere englische Titel können schon mit wenig Recherchearbeit im Internet entdeckt werden. Auf dem Blog MEDIA DIVERSITY UK gibt es zum Beispiel eine Booklist for Black Girls. Auf goodreads kann jede_r die eigenen Lieblingsliteratur zur Diversity Book List hinzufügen. Die deutschsprachigen Erscheinungen sind im Vergleich dazu noch deutlich weniger.
 

Gruppen, Foren und weitere Bücherlisten

Es gibt einige Gruppen und Foren im deutschsprachigen Raum, die sich auf die Suche nach Alternativen zu der gängigen Kinderliteratur begeben. Wir verfolgen unter anderem die Einträge in der Facebook-Gruppe „Empowerment durch Lesen“. In dieser geschlossenen Gruppe können alle Mitglieder Kinderbücher und andere relevante Literatur posten und diese dann diskutieren lassen. Dies ist eine sehr hilfreiche Methode unterschiedliche Sichtweisen auf ein Buch zu bekommen. Nicht alle Bücher, die den Anspruch haben divers zu sein, erfüllen dies auch. Bücher über Kinder of Color – häufig geschrieben von weißen Erwachsenen – reproduzieren oft rassistische Bilder. Diese Bücher finden keinen Platz in unserer Kinderbuchliste.

Der Verband Binationaler Familien und Partnerschaften stellt im Internet eine „interkulturelle“ Kinderbuchliste zur Verfügung. Mehrsprachigkeit und Religion sowie Geschichten mit und/oder von People of Color stehen im Vordergrund. Zusätzlich gibt es ein Forum, in dem die Eltern, wie bei „Empowerment durch Lesen“, ihre Lieblingsliteratur vorstellen können. Doch bleibt diese oft unkommentiert.

Ein Fundort für ein noch breiteres Spektrum an Themen ist die Liste von Kinderwelten -„Vorurteilsbewusste Kinderbücher“. Sie ist schon 2008 erschienen und enthält so nicht mehr die neusten Erscheinungen, ist aber sehr umfangreich.

Wer nach Neuerscheinungen sucht, kann bei Baobab Books fündig werden. Bücher gegen Ethnozentrismus, Rassismus, Paternalismus, Fundamentalismus und Sexismus – das ist die Leitlinie des Verlages. Literatur zu anderen Themen wie Homosexualität und Geschlechtsidentität zum Beispiel gibt es beim  Atelier Neundreiviertel. Die dritte Auflage der Kinderbuchliste von i-Päd ist in Arbeit und wird eine Sammlung der Neuerscheinungen enthalten.

In dieser dritten Auflage wollen wir die Erfahrungen, die wir im Austausch mit unseren Teilnehmer_innen gesammelt haben, einfließen lassen und unsere eigene Praxis erneut reflektieren.  Kategorien, die bisher nur wenig repräsentiert sind, werden literarischen Zuwachs finden. Außerdem hoffen wir die Liste um Jugendliteratur erweitern zu können. Wir freuen uns immer über Anregungen!