"Traumwechselstörung" von Rumjana Zacharieva

Lesedauer: 11 Minuten
Rumjana Zacharieva
Teaser Bild Untertitel
Rumjana Zacharieva

nachtgedicht II
 

ich will wieder nachts um 2 uhr gedichte schreiben
mit Einstein Chagall und Shakespeare
will ich schlafen
und hin und wieder will ich mir
einen seitensprung leisten
mit dem eigenen mann

ich will als einzige last auf dem herzen
ein bisschen glas tragen
in einem passenden
einemzerbrechlichen rahmen
der aus der fassung springt
wenn mich einer umarmt
und vor glück von mir
lauter scherben am boden bleiben

die schlinge um meinen hals
soll einzig die kordel
meiner lesebrille sein

 

Aus dem Gedichtband „traumwechselstörung“, Edition VOSS im Horlemann Verlag, Berlin, 2013, ISBN 978-3-89502-366-8

 

Meine Ankunft in Deutschland
 

Es war vor 35 Jahren, als nur ein Vogel in den Westen fliegen konnte, fliehen, ohne erschossen zu werden. Ich hatte zwar keine Flügel, aber einen Brautschleier. Und er trug mich über die Grenze und über einige andere noch, bis nach Deutschland.

Ich bin da. Endlich. Mitten im Herzen des Kapitalismus! Ach, wie duftet mir der verfaulende Kapitalismus! Wer das gesagt hat, weiß ich nicht mehr, ist auch egal. Ich kann nirgendwo Menschenschweiß riechen, die Böden des Frankfurter Flughafens, die Wände, die Riesenfenster – sie alle duften nach sauber. Niemand rempelt mich an. Niemand kommt mir zu nahe. Niemand duzt mich. Keiner schiebt mir verwelkte Nelken unter die Nase. Keiner schlägt mir auf die Schulter. Keiner empfängt mich mit nassen Küssen, Zwiebelatem und dem Versprechen, mich direkt zu besuchen, sobald ich meine Hauspantoffeln angezogen habe. Keiner wühlt seine dicken Finger in meine Frisur, als wäre ich drei Jahre alt, keiner schlägt mir freundschaftlich auf den Hintern und freut sich, dass ich zugenommen habe. Keine neidischen Blicke, denn keiner will nach Deutschland. Sie, die Einheimischen und die Fremden – Engländer, Franzosen, Amerikaner, Afrikaner, Australier und sonstige freie Bewohner dieses Planeten – sind ja schon alle da, wo alle Bulgaren, Russen, Tschechoslowaken, Polen und sonstige Ostblöckler hin wollen und nicht können.

Ich steuere in Richtung Ausgang. Ich schwitze vor Aufregung. Verstohlen hebe ich den Arm, schnuppere an meiner Achselhöhle. Ich hoffe, ich rieche nicht zu streng! Das erste, was ich mir besorgen werde, oder besser, worum ich Johannes bitten werde, ist ein Deospray. Mein erster Traum während der langen, sonnendurchglühten bulgarischen Sommer, durchtränkt von betäubenden Gerüchen nach Männer- und Weiberschweiß, nach abgestandenen Füßen und stundenlang ungewechselten Damenbinden, im Bauch klappriger alter Dorftiere von Bussen, die das Land überqueren und niemals eine Toilette an Bord haben.

Der Zöllner am Ausgang, olivgrün gekleidet wie ein bulgarischer Förster, freundlich und erschütternd frisch duftend, heißt mich lächelnd willkommen, als ich samt Gepäckwagen und vorsintflutlichem braunen Koffer aus Presspappe an ihm vorbeigleite. Der Zöllner, der erste Kapitalist nach den Stewardessen im Flugzeug, der mir begegnet, ist mir freundlich gesinnt, obwohl ich aus dem feindlichen Lager stamme und verbotene Lukanka, meine luftgetrocknete Lieblingswurst, eine 1,5 l-Flasche mit Selbstgebranntem von unserem persönlichen Pflaumenbaum auf dem Lande bei Maminka, meiner Großmutter, und frischen Schafskäse unter meinem einzigen Rock im Gepäck versteckt halte, samt den Lammfellhandschuhen, bulgarische Handarbeit.

Leise rieselt die gewaltige Stimme einer hübschen Frau mit mahagonifarbenem Pony, starkem französischen Akzent, schlechtem Deutsch, marionettenhaften Bewegungen und blendendem Zahnpastalächeln von allen Seiten auf mich herab, blendender sogar als das Lächeln meiner eigenen Mutter. Ich kenne diese Sängerin von der Schallplatte, die mir Johannes bei seinem ersten Besuch in Bulgarien geschenkt hat, und ich weiß, dass Name und Nachname der Sängerin, nach der in Frankreich kein Hahn kräht, und die der Liebling der Deutschen ist, mit M anfangen, aber ich komme nicht darauf.

Ich sehe Johannes immer noch nicht. Meine Ungeduld wächst.

Alle Deutschen, Männer, Frauen und Kinder, im Frankfurter Flughafen sehen aus, als hätten sie gerade in diesem Moment das Badezimmer verlassen: selbstzufrieden, sauber und fröhlich. Meine bulgarischen Freunde und Verwandten fragen mich seit unserer Hochzeit, wieso ich eigentlich keine weißen Hosen und Röcke, keine pastellfarbenen Blusen und keine  blondierten Toupier-Frisuren trage, wie es sich für eine Deutsche gehört. Komisch, was meine Landsleute für Vorstellungen von den Deutschen haben! Die können nur von Doris-Day-Filmen stammen, die ausnahmsweise bei uns in Bulgarien nicht verboten sind. Aber was hat Doris Day mit Deutschland zu tun? Und außerdem widerspricht dieses Image und alles, was ich bei meiner Ankunft sehe, meiner eigenen Vorstellung vom finsteren schmutzigen Kapitalismus total, ich bin sprachlos.

Die Welt glänzt plötzlich und ist schrecklich bunt: Reklame, Reklame, Reklame! Mein Gepäckwagen mit dem alten Koffer quietscht fröhlich, mir wachsen Flügel und ich eile meinem immer noch unsichtbaren deutschen Mann mit dem Gefühl entgegen, den größten Coup meines Lebens gelandet oder mindestens einen Sechser im Lotto gewonnen zu haben. Wo sind die sozialistisch-kommunistischen Losungen: „Alles für den Menschen“, „mens sana in corpore sano“, „Kinder, ihr seid unsere Zukunft“, „Der Staat – das bist DUUU“? Statt Lenin, Marx und Engels prangt ein Riesenkorb mit lauter Kohlköpfen an der Wand, mit Möhren und Zwiebeln. Die sind aber bodenständig, die Deutschen! Und wo sind die Aufforderungen zu Sparmaßnahmen „Gramm-Stotinka-Zentimeter“? Neiiiien!

Hier fordert man mich von allen Wänden und Reklameschildern auf, verschwenderisch zu sein, auf die Pauke zu hauen, Geld auszugeben! Man ist höflich zu mir, ohne mich und mein Einkommen zu kennen. Das ist mir sehr sympathisch, denn ich habe gar keins. Siehste, das ist die Demokratie! Man rechnet mir sogar im Voraus aus, wie viel ich sparen werde, wenn ich was kaufe, das ich überhaupt niemals würde kaufen wollen. Egal was und wie viel ich ausgegeben habe, egal ob ich es bräuchte oder nicht, bin ich immer im Vorteil. Von einer notorischen und ewigen Bittstellerin und Bittsteherin, vor staatlichen Bäckereien, an Schaltern und Bushaltestellen, vor verschlossenen Türen sämtlicher Ämter und Krankenhäuser, bin ich heute mit meiner Landung in Frankfurt zur Königin avanciert. Das gefällt mir. Niemand reibt mir die Notwendigkeit der Treue zum Vaterland unter die Nase. Möglicherweise existiert dieses Wort für die deutschen Barbaren nicht, bloß für uns bulgarische, balkanesische und fern- und nahöstliche Barbaren. Ich heiße zwar nicht Alice, aber eindeutig bin ich im Wunderland. Hier ist ein BH mehr wert, hoch an die Wand gehängt zu werden, als die deutsche Nationalfahne. Ich könnte die ganze Welt umarmen!

Ich begnüge mich mit meinem Mann. Johannes, meine Welt, kommt mit ausgebreiteten Armen auf mich zu. Ich flüchte mich in seine Arme, fühle den Stoff seines hellblauen, frisch gebügelten Baumwollhemds. Er duftet nach Sonne, nach goldenem Bac-Spray und betörendem Sonnenschutzmittel, das für mich zum Synonym für Wärme und Glück wurde, damals, 1966, in Warna am Schwarzen Meer.

 Alles fing mit jenem Sommer an. Ich war ein braves, fünfzehnjähriges, unanständiges Mädchen, tüchtig in der Schule, Absolventin der preparatory class der English Language Politechnical School in Russe an der Donau, zu Zeiten der Osmanen Rustschuck genannt. Wie alle meine Landsleute glaubte ich von Herzen an die Macht des Wortes, des geschriebenen Wortes. Nichts in meinem Leben war größer und wichtiger als das gerade geschriebene Gedicht. Jedes Gedicht ein neuer Schmetterling im Bauch. Jeder neue Mann in meinem Blickfeld ein neues Gedicht.

Ich sitze am Schreibtisch in meinem Jugendzimmer, das nie ein Kinderzimmer gewesen ist, da ich bis zum dreizehnten Lebensjahr bei den Großeltern gelebt habe. In meiner Stadt, die früher Elias Canettis „Stadt der geretteten Zunge“ war, wird der Sommer immer wieder auf über 40 Grad Celsius angeheizt. Hier herrscht dicke Luft aus dreißig Fabriken, Gerbereien, Webereien und Chemiebetrieben. Die Lungen der Menschen und die Blätter der Kastanienbäume sechs Etagen unter meinem Fenster werden von dieser Hitze regelrecht versengt.

Das Hungergefühl, das ich aus der Schule mitgebracht habe, verwandelt sich in ein spasmenartiges Glücksgefühl unterm Rippenbogen, ausgelöst durch das Berühren des weißen Blatts mit dem weichen teuren Kohlestift, mit dem ich normalerweise in der Kunststunde zeichne. Die Umrisse der Wände mit den lichtdurchfluteten, realistischen russischen Schischkin-Landschaften verschwimmen vor meinen Augen. Die von Vater eigenhändig aus einem alten Schlafzimmerschrank gezimmerte Einbaubibliothek zerfällt sanft in unsichtbare Elemente aus Büchern, Brettern und Nischen.

Vergeblich attackiert der Duft nach frisch aufgewärmtem Mensaessen aus gebackenem Fleisch, Zwiebeln, Tomaten, Paprika, Petersilie und Bohnenkraut meine Nüstern, mein Geruchssinn ist fast ausgeschaltet. Zusammen mit der rot angestrichenen, misslungenen Chemie-Klassenarbeit warten die ungeschriebenen Hausaufgaben noch zu meinen Füßen – in der auf den Boden geschmissenen, noch ungeöffneten Schultasche. Ich bemerke nicht einmal Mutter, wie sie vorsichtig anklopft, die Tür einen Spalt breit aufmacht, die mahagonifarbene Haarpracht schüttelt, rückwärts wieder geht und Vater informiert, sie schreibt!

Einige Publikationen in überregionalen Schülerzeitungen haben aus mir ein Paradepferd gemacht und mein schlechtestes Gedicht zur Hymne des Gymnasiums. Die Strafe für so viel Ruhm im zarten Teeniealter musste ich mir fünf Jahre lang bis zum Abitur täglich mehrere Male, gebrüllt aus dreihundert Kehlen, anhören: bei der Morgengymnastik, im Sportunterricht beim Marschieren, auf Schulfesten.  Kann sein, dass das einer der Gründe war, warum ich Bulgarien so schnell verließ.

Mutter und Vater, beide parteilose Sportlehrer, beide Liebling und Schwarm ihrer Zöglinge, hatten sich etwas Schönes für den Sommer ausgedacht. Wir fuhren zu dritt ans Meer, nach Drushba, das früher St. Konstantin und Elena hieß, dort, wo der frühere Zarenpalast am grünen Ufer träumte. Im Pionierlager daneben hatte Vater Dienst, in den Ferien stieg er vom Sportlehrer zum Leiter des Pionierlagers auf. Als Chef stand ihm ein eigenes Zimmer zu, von der Küche durch eine Nische getrennt, und das Privileg, Frau und Tochter als Gäste bei sich zu haben.

Mutter und ich waren in jenem Sommer einfach Privatpersonen, die vom billigen, aber schmackhaften Mensaessen und von der Unterkunft profitierten. Während die Jungpioniere morgens um sechs Uhr mit der Posaune aus ihren Betten verjagt wurden, hätten wir uns einfach einmal im Bett umdrehen und weiter schlafen können, wenn wir gewollt hätten. Das Frühstück, bedeckt mit einer Zeitung, wurde uns in der Riesenküche aufbewahrt. Dort hätten wir in aller Ruhe mit der Frau des Lagerarztes frühstückten können, einer sehr sportlichen und netten Person mit rauchiger Stimme und welker Haut.


Schon am zweiten Morgen unserer Ankunft hielten wir die Posaunen und Vaters Trillerpfeife nicht mehr aus, die uns genauso aus dem Bett jagten wie alle anderen und das Betreuungspersonal. Also trotteten Mutter und ich an den Strand, an die Stelle, an der sich die Lagerbewohner unter Vaters Leitung zwei Stunden später in Reih und Glied zum Sonnen niederlassen würden, verließen aber das umzäunte Stück Strand und gingen vom Meer aus auf die bunten Schirme zu, die nur von Ausländern oder Gebühr zahlenden bulgarischen Urlaubern benutzt werden durften.

Es war fünf Uhr früh. Die salzige Kühle der Luft betäubte unsere Sinne. Die Härchen am ganzen Körper und unsere Brustwarzen sträubten sich, sobald die Füße tief in den kalten Sand versanken. Die Lockrufe der Möwen tauchten im Tiefflug ins rhythmische Gemurmel der Brandung, die weder Ebbe noch Flut kennt. Ein Hauch von Salz, Zahnpasta, jodhaltigen Algen und Schwefel haftete an unseren Lippen. Zwischen zwei Schirmen breiteten wir unsere Badetücher aus, die sich recht hart anfühlten und leicht nach Mottenpulver dufteten. Wir legten uns hin und schliefen weiter in der schon sehr starken Morgensonne, während wir  die jodhaltige Luft einatmeten und von weitem Vaters Trillerpfeife und das Gekreische der Kinder vernahmen. Ich träumte von Alexander, meinem Freund, der versprochen hatte, mich am Strand zu besuchen; er konnte zwar nur für zwei Tage kommen, aber er würde es tun. Ich nickte ein. Als Alexander damals, 1968, im letzten Moment Angst vor der eigenen Courage bekommen und unseren Plan, über die Grenze nach Jugoslawien in den Westen zu fliehen, einfach verworfen hatte, arbeitete er nach Abschluss des Kunstgymnasiums in Sofia ein Jahr lang in der Konservenfabrik „Dunavija“ in Russe an der Donau und sortierte faule Tomaten, genau wie wir Abiturientinnen und Abiturienten des englischsprachigen Gymnasiums. Er hatte Augen nur für mich, obwohl all meine Mitschülerinnen nach Arbeitsschluss bei ihm Schlange standen, alle wollten von ihm gezeichnet werden. Dann kam das neue Schuljahr und ich bereitete mich fürs Abitur vor, während Alexander erst einmal Malerei an der Kunstakademie in unserer alten Hauptstadt Veliko Tarnovo studierte.

Nach und nach füllte sich der Strand mit Urlaubern. Deutsch, Polnisch, Tschechisch, Russisch, Rumänisch, gelegentlich sogar Französisch und Englisch waren zu hören. Die große Welt war hier versammelt, aber ich war nicht besonders neugierig, solange ich mich noch unausgeschlafen fühlte. Ich fand es toll, dass Mutter und ich zusammen waren, zusammen aßen, spazieren gingen, über die Urlauber und Ausländer lästerten, die begeisterten Pfiffe der Bulgaren genossen, für Schwestern gehalten wurden, viel Zeit füreinander hatten.

Plötzlich setzte sich Mutter auf, stotterte ein balkanisches Pardon! und grüßte mit schrecklichem bulgarischen Akzent, gu-ten Mor-gen! Eine höfliche Männerstimme, guten Morgen zusammen, und Mutter darauf, ich nix Deutsch verstehen! Dann der Mann, do you speak English? Ich fühlte mich angesprochen, hob den Kopf in Richtung Doyouspeakenglish.

Ein Westler, Ende zwanzig, groß, brünett, sportlich, sehr männlich und dunkel behaart auf der Brust, mit feiner weißer Haut und rundem Gesicht, mit besonders hoher Stirn und dunkler Brille mit Goldrahmen, schaute zu mir herüber und lächelte mich mit dem charmantesten Lächeln an, das ich jemals gesehen hatte. Nicht einmal das Lächeln unseres Englischlehrers, Mr. Champion, war so strahlend und gleichzeitig bescheiden wie das Lächeln dieses Fremden, den ich der Aussprache nach für einen Engländer hielt. Seine Füße steckten in schicken braunen Ledersandalen, und er duftete nach etwas Herbem und schwindelerregend Westlichem. Seine Lippen bewegten sich, den Gesetzen des besten Cambridge-Englisch folgend, eine Aussprache, die bei allen Eliteschülern unseres Gymnasiums und besonders bei mir Herzstillstand verursachte.

 

Leseprobe aus dem Roman „Transitvisum fürs Leben“, Horlemann Verlag, Berlin, 2012, ISBN: 978-3-89502-331-6