Angesagte Katastrophen – Zwischen Humanität und Abschottung

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Zwei Überlebende des Bootsunglücks vor Lampedusa am 3. Oktober 2013

Seit Anfang 2014 starben mehr als 4500 asylsuchende Menschen bei dem Versuch das Mittelmeer zu überqueren. Die europäischen Regierungschefs bekunden Beileid – doch ihre Abschottungspolitik zwingt Flüchtende weiter in die Boote. Massive Probleme gibt es auch bei der Verteilung, Versorgung und Integration. Ein Überblick über die Widersprüche der europäischen Asylpolitik.

Nach dem erneuten Massensterben im Mittelmeer im April 2015 glichen die Reaktionen denen von 2013 beim Unglück vor Lampedusa. Die Kanzlerin war „erschüttert“, damals war sie „tief bestürzt“. Ähnlich äußerten sich viele Politiker. Symbolische Besuche an den Unglücksorten gab es nicht mehr, zu offensichtlich ist ihre Wirkungslosigkeit. Fluchtgeschichten zeigen die Widersprüchlichkeit der Situation zwischen Grenzschließung und Asylgewährung. Das ZDF interviewte einen syrischen Arzt, der bei der deutschen Botschaft in Ankara keinen Termin bekam und sich deshalb entschloss, mit seiner Familie nach Libyen zu fliegen und dort auf ein Boot zu gehen. Sie geraten in Seenot, er ruft vergebens die italienische Küstenwache und verliert zwei seiner drei Kinder im Meer. Jetzt arbeitet er in einem deutschen Krankenhaus. Nach wie vor schotten sich die EU-Länder ab und machen Flüchtlingen den Zutritt faktisch unmöglich. Sie hebeln damit das Asylangebot aus. Als einzige Möglichkeit sehen viele den Weg über Libyen. Weil es dort keine Staatsautorität gibt, konnte die EU kein Abkommen über Fluchtverhinderung abschließen und ihr Abwehrsystem perfektionieren. Mit Gaddafi hatte Italiens Regierungschef Berlusconi eine derartige Vereinbarung getroffen, gegen hohe Zahlungen. Wohlgemerkt geht es dabei überwiegend um Flüchtlinge aus Verfolgerländern wie Syrien und Eritrea, die zu fast hundert Prozent anerkannt werden, sobald sie europäischen Boden erreichen.

Italien hatte nach dem Lampedusa-Unglück eine Wendung vollzogen, weg von der rigorosen Abwehrpolitik mit Bestrafung von Kapitänen, die Flüchtlinge aufnahmen, hin zu der groß angelegten Rettungsmission „Mare Nostrum“ bis zur libyschen Küste. Dieses humanitäre Programm wurde nicht nur von der extremistischen Lega Nord kritisiert, sondern auch von den deutschen und britischen Innenministern, und zwar mit dem Vorwurf, das sei „Beihilfe für das Schlepper-Unwesen“ (de Maizière). Während der deutsche Innenminister nach der neuen Katastrophe im April 2015 rhetorisch umschwenkte, änderte die britische Regierung ihre rigorose Haltung nicht. Gemeinsame große Aktionen mit dem Hauptziel Flüchtlingsaufnahme sind damit blockiert, ganze 5000 Aufnahmen für die gesamte EU wurden von den EU-Regierungschefs angekündigt. Die EU führt nun ein erweitertes Frontex-Programm durch. Entgegen ersten Befürchtungen werden dadurch wieder Tausende Menschen gerettet. Der Weg über Libyen und das Meer bleibt der zentrale Eingang nach Europa, da alle anderen Wege weitgehend verschlossen sind. Im Jahr 2014 zählte Frontex 3.279 Tote im Mittelmeer, in den ersten vier Monaten 2015 waren es schon 1.566.

Verteilungsprobleme

Trotz gemeinsamer Asylstandards verhalten sich die Länder bei der Flüchtlingsaufnahme nach wie vor extrem unterschiedlich, die Bemühungen um ein kohärentes EU-Asylsystem stagnieren. Einzig Schweden und Norwegen betreiben eine konsequente Flüchtlingsaufnahmepolitik, auch wenn sie mit populistischer Opposition zu kämpfen haben. Im Jahr 2014 nahm Schweden  8,4 Asylbewerber pro Tausend Einwohner auf.  Deutschland hatte mit 2,5 Flüchtlingen pro Tausend Einwohner ein mittleres Aufnahmeniveau, ähnlich wie die Nachbarländer Schweiz, Österreich, Belgien und Dänemark. Italien (1,1), Frankreich (1.0) und die Niederlande (1,5) lagen etwas niedriger. Großbritannien mit 0,5, Polen mit 0,2, Spanien mit 0,1 und Portugal mit 0,0 Flüchtlingen pro Tausend Einwohner nahmen wenige Flüchtlinge auf.  Die iberische Halbinsel hat sich mit Hilfe der Kooperation mit Marokko ganz weitgehend von den Fluchtbewegungen abgeschottet. Auch die Qualität der Unterbringung und Versorgung und die Länge der Verfahren sind sehr unterschiedlich. Das gilt insbesondere für Griechenland. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat deswegen 2011 entschieden, dass die Behandlung von Flüchtlingen in Griechenland und die Rücküberstellung dorthin menschenrechtswidrig sind. Einige deutsche Gerichte haben auch Rücküberstellungen nach Italien verboten, weil Flüchtlinge dort keinerlei Versorgung erhielten.

In den europäischen Debatten um die ungleiche Verteilung fordern die Mittelmeerländer mehr Solidarität. Nördlichere Länder und vor allem Schweden verweisen auf die Zahlen, die ein Nord-Süd-Gefälle in umgekehrter Richtung zeigen. Deutschland, Österreich und seit April 2015 auch EU- Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker propagieren EU-weite Verteilungsmodelle ähnlich dem Königsteiner Schlüssel, nach dem in Deutschland Asylbewerber über die Bundesländer  verteilt werden: zu einem Drittel zählt die Bevölkerungszahl, zu zwei Dritteln die Wirtschaftskraft. Weitere Kategorien wie Fläche und Arbeitslosigkeit sind in die Diskussion gebracht worden. Der Sachverständigenrat regt in seinem Gutachten vom April 2015 an, Flüchtlingen nach ihrer Anerkennung Niederlassungsfreiheit in der ganzen EU zu geben. Dann könnten sie dorthin gehen, wo es Arbeit gibt, wo sie Ansprechpartner haben und wo sie sich wohl fühlen. Die Erstaufnahmeländer würden von der Sorge entlastet, dass Flüchtlinge zu einer permanente Belastung würden. Konsequenter ist der Vorschlag von Pro Asyl und fünf weiteren deutschen Verbänden, die Flüchtlinge selbst entscheiden zu lassen, wo sie Asyl beantragen wollen. Dann würden die kostspieligen und wenig effektiven Rückführungsverfahren zwischen den europäischen Ländern entfallen. Den Flüchtlingen würde Entscheidungsfreiheit gegeben, während sie bisher zu Objekten bürokratischer Entscheidung gemacht werden. Politisch ist bei all diesen Vorschlägen mit Blockaden durch Großbritannien und andere Staaten zu rechnen. Der Pro-Asyl-Vorschlag hat den Vorteil, dass er zunächst auch von einer kleineren Gruppe von Ländern praktiziert werden könnte. Schon heute hat die EU einen Asyl-, Migrations- und Flüchtlingsfonds (AMIF). Viele Vorschläge sehen finanzielle Ausgleiche für Länder vor, die mehr Flüchtlingen als andere aufnehmen.  

Woher kommen die Flüchtlinge?

Die größte Gruppe der Bootsflüchtlinge, der Asylsuchenden in der EU insgesamt und auch der Flüchtlinge im Umkreis von Europa kommt aus Syrien. 2014 registrierte die Europäische Grenzschutzagentur Frontex insgesamt 220.194 Bootsflüchtlinge. Davon waren es 66.698 oder 30 % Syrer. Die nächst größten Gruppen waren Eritreer mit 16 %, Afghanen mit 6 % und Somalis und Palästinenser mit je 3 % %. Bei 8 % ist die Herkunft ungeklärt, 34 % stammen aus unterschiedlichen afrikanischen Ländern südlich der Sahara. Unter diesen sind viele, die in Libyen gearbeitet haben und angesichts der Gefährdungslage dort, mit rassistischen Übergriffen gegen Schwarze, einen Ausweg suchen. Der italienische Flüchtlingsrat hatte schon nach der Revolution in Libyen und der Intervention Frankreichs und Großbritanniens eine geordnete Evakuierung dieser Gruppe verlangt.

Während fast alle Asylanträge aus Syrien und Eritrea positiv entschieden werden, werden die Anträge aus Südosteuropa fast alle abgelehnt. Gleichwohl sind seit Ende 2014 besonders viele Anträge von Kosovaren und Albanern gestellt worden. Die Konzentration dieser Anträge auf Deutschland wird mit der langen Verfahrensdauer erklärt, nach Angaben von Eurostat gab es in Deutschland Ende 2014 einen Stau von 220.000 unbearbeiteten Anträgen. Dieser Stau nimmt von Monat zu Monat um einige Tausend Anträge zu. Er belastet die Flüchtlinge, die Aufnahmeeinrichtungen, die Kommunen und die ehrenamtlichen Helfer. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) reagiert seit Ende 2014 mit einer „Priorisierung“, es bearbeitet die Anträge von Syrern und von Südosteuropäern vorrangig. Nachteilig wirkt sich diese Vorgehensweise auf die übrigen Anträge aus. Anträge von Afghanen bleiben im Durchschnitt 14 Monate unbearbeitet, die von Pakistanis 16 Monate. Grund für den Bearbeitungsstau ist die mangelnde Personalausstattung des BAMF, die das Bundesinnenministerium zu verantworten hat. Die Ankündigung aus dem Koalitionsvertrag der Großen Koalition, die Verfahren in höchstens drei Monaten abzuschließen, wird nicht eingehalten.

Was ist zu tun?

Die Flüchtlinge begeben sich in Lebensgefahr, weil die EU alle anderen Zugänge weitgehend verschlossen hat, durch Grenzanlagen, Stacheldraht und Verträge mit den Nachbarstaaten. Es kommt darauf an, alternative Wege wieder zu öffnen und den Flüchtlingen zu ermöglichen, ihre Energie in Richtungen zu lenken, die ihre Situation verbessern. Die heutige Situation wirkt wie eine Aufnahmegebühr von etwa 5000 Euro (für die Schlepper oder „facilitators“, wie Frontex sie bezeichnet) und mit einem Sterberisiko von zwei Prozent. Angesichts der Diskussion um „Fachkräftemangel“ in Deutschland ist es besonders absurd, dass auch Fachkräfte vor verschlossenen Türen stehen, wenn sie Flüchtlinge sind. All unsere neuen Rechtsgrundlagen wie die „Blaue Karte“ und andere Einwanderungsmöglichkeiten werden auf Flüchtlinge kaum angewandt. Ein Blick in die Websites der deutschen Botschaften rund um Syrien zeigt, dass es entweder keine Antragsformulare für Arbeitszuwanderung gibt oder auf Fristen für die Antragstellung von mehreren Monaten hingewiesen wird. Eine erste Lösung ergäbe sich schon dann, wenn die Arbeitszuwanderung für Flüchtlinge ermöglicht würde und die Botschaften ausreichend Personal zur Abwicklung hätten. Schon damit würden neue Netze zwischen den Flüchtlingslagern und dem deutschen Arbeitsmarkt entstehen. Es ist unsinnig, über Auffanglager in Afrika zu spekulieren. Es gibt Lager, und zwar rund um Syrien und auch in Kenia. Europa kann Menschen dort Zugang gewähren, weit mehr als bisher. Und ihnen damit eine Perspektive geben, auf die sie ihre Bemühungen richten können, statt auf die Schiffe zu gehen. Bei der Arbeitseinwanderung sollen Flüchtlinge Priorität bekommen und unterstützt werden. Es muss größere Aufnahmekontingente geben. Und Stipendien-Programme, so dass die Schüler in den Flüchtlingslagern und ihre Familien Perspektiven ohne Todesgefahr bekommen.

Weiterführende Literatur und Links