Die Bundesregierung hat das Bleiberecht und die Aufenthaltsbestimmungen neu geregelt. Erleichterungen bringt das nur einem kleinen Teil von Geflüchteten und Migrant/innen. Für die meisten bedeutet das neue Gesetz Aufenthaltsverbote, Einreisesperren und Abschiebehaft.
Am 2. Juli hat der Bundestag ein neues Gesetz verabschiedet, das Migrantenverbände seit Jahren gefordert hatten: eine Bleiberechtsregelung für langjährig Geduldete. Endlich wird denen eine Perspektive geboten, die bislang als Geduldete nur auf Abruf bis zur Ausweisung hierzulande leben durften. Menschen wie der 14-jährigen Reem, die neulich vor der Kanzlerin und den Kameras ihre Verzweiflung über eine bevorstehende Abschiebung aus Deutschland offenbart hatte. Etwa 30 000 Menschen sollen die neuen Bleiberechtsregeln Sicherheit bringen. Und trotzdem kritisieren Menschenrechts- und Flüchlingsorganisationen wie Pro Asyl oder das UNHCR den Beschluss der Bundesregierung. Warum?
„Das Gesetz hat eine einladende und eine abweisende Botschaft. Beide sind Teil einer Gesamtstrategie”, sagt Bundesinnenminister Thomas de Maizière. Die Kritik am Gesetz bezieht sich erstens auf die Gewichtung dieser beiden „Botschaften“ und zweitens auf deren Inhalte. Während sich die einladende Botschaft, also die Möglichkeit, stichtags- und altersunabhängig Bleiberecht zu bekommen, durch diverse Bedingungen im Gesetz nur an einen sehr kleinen Teil von Geflüchteten und Migrant/innen richtet, gilt für einen unvergleichbar großen Teil die abweisende Botschaft: Aufenthaltsverbote, Einreisesperren und Abschiebehaft.
Die Bedingungen für ein Bleiberecht
Reem dürfte einen dauerhaften Aufenthaltstitel bekommen, sie erfüllt wohl die Bedingungen. Doch diese Bedingungen seien viel zu hoch, sagt Stefan Keßler vom Flüchtlingsdienst der Jesuiten. Wie Pro Asyl erkennt er zwar Verbesserungen beim Bleiberecht für gut integrierte Jugendliche an. Diese können nun bereits nach vier, statt wie bisher nach sechs Jahren Schulbesuch ein Bleiberecht erhalten. Doch er fürchtet, dass aus dieser Regelung all jene unbegleiteten minderjährigen Geflüchtete herausfallen, die erst im Alter von 17 Jahren nach Deutschland kommen. Bis sie die erforderlichen vier Jahre Bildung auf einer deutschen Schule absolviert haben, sind sie älter als 21 Jahre - und damit vom Bleiberecht ausgeschlossen.
Erwachsene Langzeitgeduldete müssen seit mindestens acht, wenn sie ein Kind haben, seit mindestens sechs Jahren in Deutschland leben. Und alle müssen noch eine Reihe von Bedingungen erfüllen, um ein Bleiberecht zu erhalten: Sie müssen
- einen Pass haben
- deutsch sprechen
- ihren Lebensunterhalt überwiegend selbst bestreiten
- und dürfen nicht straffällig geworden sein.
„Bereits an der Passpflicht scheitern sehr viele, die doch gerade deshalb geduldet sind, weil sie eben keinen Pass haben oder ihre Identität nicht klar ist“, sagt Keßler. Pro Asyl kritisiert außerdem, dass eine konsequente Integrationspolitik fehle, die es geduldeten Flüchtlingen überhaupt ermögliche, die Anforderungen der Bleiberechtsregelung zu erfüllen. Bislang haben geduldete und asylsuchende Flüchtlinge etwa keinen Anspruch auf einen Sprachkurs.
Willkürliche Aufenthaltsverbote
Für den Großteil der Asylsuchenden gilt jedoch die „abweisende Botschaft“ des Gesetzes. Die besteht aus Einreisesperren, Aufenthaltsverboten und einer Ausweitung der Abschiebehaft. Befristete Einreisesperren sollen gegen Menschen verhängt werden, die zum Beispiel bereits einmal ausgewiesen worden sind und erneut versuchen, nach Deutschland zu kommen. Diese Maßnahme richtet sich vor allem gegen Roma aus den Balkan-Staaten, die vor Armut und Diskriminierung in Serbien, Mazedonien oder Bosnien-Herzegowina fliehen. Dorthin werden sie zurückgeschickt, seit Deutschland diese Länder als sichere Herkunftsstaaten einordnet. Das neue Gesetz untersagt ihnen, erneut zu versuchen, in Deutschland Schutz zu suchen.
Vor der Einführung von sogenannten Aufenthaltsverboten hatte Pro Asyl schon während des Gesetzgebungsverfahrens immer wieder gewarnt. Im nun verabschiedeten Gesetz ist diese Möglichkeit nach wie vor enthalten: Wer nicht ausreist, obwohl er das müsste – was definitionsgemäß bei allen Geduldeten der Fall ist –, dem können die Ausländerbehörden nach eigenem Ermessen nun ein „Aufenthaltsverbot“ erteilen. Behörden können Langzeitgeduldete also willkürlich von der Bleiberechtsregelung ausschließen. So könnte auch eine Familie wie die von Reem doch noch ein „Aufenthaltsverbot“, statt des Bleiberechts erhalten.
Durch diese Verschärfungen des Aufenthaltsgesetzes werde die neue Bleiberechtsregelung für langjährig Geduldete völlig ausgehöhlt, resümiert kritnet, das Netzwerk für kritische Migrationsforschung. Angesichts der repressiven Veränderungen im Gesetz ließe sich die neue Bleiberechtsregelung nur als Feigenblatt für ein härteres Vorgehen gegen Asylsuchende verstehen.
Ausweitung der Abschiebehaft
Die lauteste Kritik richtete sich bereits während des Gesetzgebungsverfahrens gegen die Neuregelung zur Abschiebehaft, die in den Augen von Menschenrechtsvertretern und Migrationsexperten nun extrem ausgeweitet werden kann. „Wer nicht ertrinkt, wird eingesperrt“, heißt es dazu in einer Kampagne des Bündnisses „Asylrechtsverschärfung stoppen!“.
„Die Praxis der Abschiebehaft war einer Reform bedürftig“, sagt dazu Stefan Keßler vom Flüchtlingsdienst der Jesuiten. „Doch die Bundesregierung hat mit dem neuen Gesetz letztlich das verschärft, was davor schon kritisiert worden war: Dass beinahe willkürlich eingesperrt werden kann.“
Im Jahr 2014 war die Praxis der Abschiebehaft in Deutschland vor allem durch Urteile des EuGH und des BGH in die Kritik geraten. Haftbefehle für Asylsuchende, die abgeschoben werden sollen, hatten bis dahin die Amtsgerichte im Einzelfall erteilt, wenn sie vermuteten, dass die betroffene Person vor der Abschiebung fliehen, also untertauchen würde.
So dürfe das nicht weitergehen, urteilten die Richter des BGH vor einem Jahr: Deutschland müsse die Gründe für eine Verhaftung präzisieren. Sie sei nur im Fall einer konkret nachgewiesenen „erheblichen Fluchtgefahr“ gerechtfertigt. Und die müsse gesetzlich definiert werden. Das hat die Bundesregierung mit der Neuregelung getan - und zwar so, dass beinahe jeder Flüchtling, der in Zukunft in Deutschland ankommt, inhaftiert werden kann.
Als Indizien für die „erhebliche“ Fluchtgefahr sieht das neue Gesetz folgende Punkte vor:
- falsche oder unvollständige Angaben gegenüber den Behörden
- Verlust des Passes
- erhebliche Geldzahlungen an Schlepper
- die Umgehung von Grenzkontrollen bei der Einreise.
Kurz: alle unvermeidlichen Begleiterscheinungen der Flucht. Die "Süddeutsche Zeitung" schrieb vom "Schärfsten und Schäbigsten, was einem deutschen Ministerium seit Langem eingefallen ist". Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) übte ebenso Kritik (PDF) wie Vertreter des Bundesrats. In einer Stellungnahme der Länderkammer (PDF) heißt es, die Abschiebehaft habe "gravierende negative Auswirkungen" auf die Betroffenen.
Von Syrien ins Gefängnis?
Der Entwurf wurde zwar überarbeitet. Doch auch in der Neufassung (PDF), die nun verabschiedet wurde, sind die vielen Kriterien, die zur Abschiebehaft führen können, weiter festgeschrieben.
„Das wird eine positive, fortschrittliche Entwicklung rückgängig machen: Dass nämlich in den letzten Jahren immer weniger Menschen in Abschiebehaft genommen wurden“, sagt Pater Hillebrandt vom jesuitischen Flüchtlingsdienst Berlin, der Menschen in Abschiebehaft betreut und seit Jahren dafür kämpft, dass die Einrichtungen ganz geschlossen werden.
Wie viele andere Kritiker/innen befürchtet er, diese Neuregelung würde alle Flüchtlinge betreffen, die auf dem Landweg nach Deutschland fliehen. Gemäß des Dublin-Abkommens dürfen Geflüchtete lediglich in dem europäischen Land Asyl beantragen, das sie zuerst betreten. Wenn sie trotzdem nach Deutschland weiterfliehen, könnten sie nun direkt nach der Einreise interniert werden, meint Pater Hillebrand.
Wenn heute eine Familie aus Syrien an der deutschen Grenze ankomme sei das Erste, was die Bundesrepublik mit ihnen machen könne: "Sie festnehmen und in ein Gefängnis sperren, bis sie nach Bulgarien abgeschoben werden, wo ein Leben auf der Straße auf sie wartet."
Die SPD sieht Verbesserungen
Diese Vorstellung findet auch der SPD-Bundestagsabgeordnete Rüdiger Veit empörend. Er hat das Gesetz für seine Fraktion maßgeblich mitverfasst, betont aber, dass er niemals ein Gesetz hätte schaffen können, das zu Masseninhaftierungen von Schutzsuchenden führt. „Aber das tut das Gesetz nicht. Die Kritik geht am Inhalt der Neuregelung vorbei.“ Wenn eines der Indizien für Fluchtgefahr erkannt werde, sei das noch kein zwingender Grund für eine Inhaftierung. „Weiterhin hat jede Person, die in Deutschland ankommt, das Recht auf eine Einzelfallprüfung.“
Der Fall, dass eine syrische Familie an der Grenze festgenommen werde, sei also nicht mit dem Gesetz vereinbar. „Auch in Dublin-Fällen, also bei denen, die eigentlich nicht in Deutschland Asyl beantragen dürfen, muss der Einzelfall geprüft werden: Wenn nichts anderes dagegen spricht, wird dann wegen der Dublin-Regelung entschieden, dass die Familie nach Bulgarien zurückgeschickt wird, und nur wenn erhebliche Fluchtgefahr vorliegt, droht der Familie die Inhaftierung bis zur Abschiebung.“
Er selbst habe damit gerungen, die Bezahlung von Schleusern als Indiz für Fluchtgefahr in das Gesetz aufzunehmen. Auch Veit weiß, dass es für Schutzsuchende kaum möglich ist, europäischen Boden auf legalem Weg, ohne Schleuser zu erreichen. „Aber diesbezüglich haben wir eine Verbesserung im Verhältnis zur Situation davor erreicht: Bislang haben die einzelnen Gerichte es fast immer als Fluchtgefahr ausgelegt, wenn jemand Schleuser gezahlt hatte.“ Das sei also schon ein Haftgrund gewesen - den die SPD nun eingeschränkt habe: „Wir haben gegenüber der CDU durchsetzen können, dass es erst ein Indiz ist, wenn es erhebliche Zahlungen gab.“
Dass dieses Kriterium überhaupt als Indiz für Fluchtgefahr in das Gesetz aufgenommen wurde, empört Stefan Keßler. In seinen Augen zeigt es, wie vage und unklar die neue Definition der Fluchtgefahr ist. „Hat jemand einige Tausend Euro für die Flucht aufgebracht - was für eine willkürliche Summe -, könne das den Geflüchteten dazu motivieren, sich seiner Rückführung zu entziehen, so argumentiert das Gesetz. Aber wie soll das Gericht das im Einzelfall denn abwägen? Die können den Menschen doch nicht ins Gehirn schauen.“
Was bleibt von der Einzelfallprüfung?
Das Gesetz ignoriert also nicht nur die Tatsache, dass eine Flucht und Einreise in die EU nur gegen Bezahlung durch Dritte möglich ist. Sie äußert auch einen nicht haltbaren Pauschalverdacht. Auch der Deutsche Anwaltverein verweist darauf, dass die Erfahrung mit der bisherigen Rechtsprechung vermuten lasse, dass es so zu einer „sehr hohen Anzahl rechtswidriger oder rechtsfehlerhafter Haftbeschlüsse“ kommen werde.
Fraglich bleibt auch, ob das Recht auf Einzelfallprüfung nicht doch in die Quere mit der Regelung zur Inhaftierung kommt. Was ist beispielsweise, wenn jemand kurz nach der Einreise in die Bundesrepublik, etwa im Zug von Österreich nach Deutschland, in eine Polizeikontrolle gerät und keine Papiere vorzeigt - aus Angst, dass die Polizei ihn wegen der Dublin-Regelung nach Italien zurückschickt? Auf diese Person würde offensichtlich - ohne dass dies gerichtlich geprüft werden müsste - mindestens ein Kriterium zutreffen, das eine Inhaftnahme erlaubt.
„Es stellt sich die Frage, ob noch genügend Raum für die Einzelprüfung bleibt“, meint auch Keßler. „Deutschland war verpflichtet, neue Regeln zu schaffen, wenn es weiter Abschiebehaft haben will, es war aber nicht dazu verpflichtet, überhaupt Abschiebehaft weiterzuführen und erst recht nicht, sie auszuweiten. Stattdessen hätte man Alternativen vorsehen müssen, die Vorrang vor der Haft haben sollten.“
Das "Gesetz zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung" enthält also Verbesserungen für Betroffene: Viele langjährig Geduldete bekommen nun endlich eine Perspektive in Deutschland. Doch diese Erleichterungen für Asylsuchende stehen in keinem Verhältnis zu den Verschärfungen, die mit dem Gesetz beschlossen wurden.