Wohin gehst Du, Europa? Die Frage ist aktueller denn je. Neu ist sie allerdings nicht. Die Geschichte der EU ist eine Geschichte von Krisen. Tatsächlich ist fast jede Weiterentwicklung der europäischen Gemeinschaft aus krisenhaften Situationen heraus entstanden. Nur wenn klar ist, dass es nicht so weitergeht wie bisher, entsteht die Bereitschaft, das Alte zu verändern und den nächsten Schritt zu gehen. Mit ein wenig historischem Optimismus könnte man sagen, die Krise ist das Lebenselixier der EU.
Aber diesmal ist alles andere als ausgemacht, ob wir es wieder mit einer Wachstumskrise zu tun haben. Der Weg zu einer „ever closer union“, einer immer engeren politischen Union ist keineswegs irreversibel. Wir sind mit äußeren Herausforderungen und inneren Zentrifugalkräften konfrontiert, die eine reale Gefahr der Desintegration in sich bergen. In Ungarn und Polen regieren nationalkonservative Parteien, die in der EU eine Bedrohung ihrer Souveränität sehen. In Österreich konnten sich die proeuropäischen Kräfte mit Mühe und Not bei der Wahl des Staatspräsidenten behaupten. In Frankreich greift Marine Le Pen nach der Präsidentschaft, in Großbritannien droht der BREXIT – es kann noch weit schlimmer kommen als es heute schon ist.
Das Zentralthema unserer Tagung ist der Umgang mit der Flucht nach Europa. Der Zustrom von mehr als einer Million Menschen im letzten Herbst hat massive Verwerfungen innerhalb der EU hervorgerufen – zwischen den Mitgliedsstaaten und in unseren Gesellschaften. Nicht weil Europa eine solche Zahl von Flüchtlingen nicht aufnehmen könnte – von einer Erschöpfung unserer Aufnahmekapazitäten sind wir weit entfernt. Die „Flüchtlingskrise“ ist in Wahrheit eine Krise europäischer Politik. Sie spiegelt die zunehmende Kleinmut, Zukunftsangst und nationale Engstirnigkeit in Europa.
Autoritäres Roll Back - von Russland bis nach Ägypten
Insofern ist sie nur der Katalysator, nicht die Ursache für Widersprüche, die sich schon länger anbahnten. Sie ist zu einer Stellvertreterdebatte geworden, bei der sehr viel umfassendere Probleme europäischer Politik verhandelt werden.
Wir sind heute mit einer massiven Herausforderung der liberalen Demokratie in Europa konfrontiert. In unserer Nachbarschaft spielt sich ein autoritäres Roll Back ab, von Russland bis nach Ägypten. Der arabische Frühling mündete in eine Orgie der Gewalt und Repression. In unserer östlichen Nachbarschaft hat Russland den Rückweg zu Autoritarismus und militärischer Machtpolitik angetreten.
Der Kreml ist heute das Hauptquartier einer antiliberalen Internationale, das Zentrum eines weit gespannten Netzwerks von Medien und Parteien: Sie machen Stimmung gegen die EU, gegen das transatlantische Bündnis, gegen offene Grenzen und offene Märkte, schüren Ressentiments gegen den Islam und Flüchtlinge aus anderen Kulturkreisen, wenden sich gegen die Gleichstellung von Schwulen und Lesben und propagieren einen plebiszitären Volkswillen gegen die repräsentative Demokratie.
Nur nach Mittelosteuropa zu zeigen ist zu billig
Die Präsidentschaftswahl in Österreich war keine Eintagsfliege. Nationalistische, fremdenfeindliche, autoritäre Gegenbewegungen ziehen sich durch ganz Europa, von Westen nach Osten und von Norden nach Süden. Es ist billig, mit dem Finger vor allem nach Mittelosteuropa zu zeigen, auf Ungarn, Polen oder die Slowakei. Wir haben vergleichbare Entwicklungen in Frankreich, in Skandinavien und auch bei uns.
Das zeigt sich auch in der Flüchtlingsfrage. Die Tage der heiteren Willkommenskultur sind auch in Deutschland längst vorbei, trotz des anhaltenden Engagements von hunderttausenden freiwilliger Helfer. Faktisch hat die Bundesregierung in den letzten Monaten einen harten Kurswechsel vollzogen: von der humanitären Grenzöffnung zur Abschreckung.
Dass eine Politik der offenen Grenzen nicht auf Dauer durchzuhalten ist, konnte man von Anfang an wissen. Aber mittlerweile schwingt das Pendel wieder weit ins andere Extrem. Der Schutz der Außengrenzen ist zum kleinsten gemeinsamen Nenner europäischer Flüchtlingspolitik geworden.
Nationale Alleingänge statt europäischer Kooperation
Die vergangenen Monate waren ein bitterer Moment der Wahrheit für Europa. Es hat sich gezeigt, wie brüchig das Narrativ von der EU als „Raum der Freiheit und des Rechts“ ist. Die Bewegungsfreiheit von Flüchtlingen wurde systematisch beschnitten, das Prinzip der offenen Grenzen innerhalb des Schengen-Raums vorübergehend außer Kraft gesetzt. Nationale Alleingänge traten an die Stelle europäischer Koordination und Kooperation. Die Genfer Flüchtlingskonvention wurde faktisch ausgehebelt. Etliche europäische Regierungen bekennen sich ganz offen dazu, dass „nationale Interessen“ über dem Völkerrecht stehen. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass es europaweit sehr unterschiedliche Vorstellungen über die Zukunft unserer Gesellschaften gibt. Die Idee der „multikulturellen Gesellschaft“ ist keineswegs common sense.
So ist die Flüchtlingskrise zur Krise der EU geworden. Das gilt auch für unsere internationale Glaubwürdigkeit. Eine engherzige, vorwiegend auf Abwehr gerichtete Flüchtlingspolitik wird das Bild Europas in unseren südlichen Nachbarregionen nachhaltig verdunkeln. Das gilt umso mehr für viel ärmere Länder, die in viel größerem Umfang als wir Flüchtlinge aufgenommen haben. Was sollen sie von einem Europa halten, das vor allem darauf ist, sich gegen die Not der anderen abzuschotten?
Was sind mögliche Alternativen, was sind Wege einer europäischen Flüchtlingspolitik, die sich humanitären und völkerrechtlichen Prinzipien verpflichtet fühlt, ohne ihre eigenen Gesellschaften zu überfordern?
Wir sind auf der Suche nach realistischen Antworten
Unsere Tagung soll keine Tribüne für moralische Anklagen und idealistische Appelle sein, sondern ein Forum für die Suche nach realistischen Antworten auf die Flüchtlingsfrage. Im Kern geht es um eine Politik der Steuerung und Regulierung als Alternative zur Politik der Abschottung. Was sind Eckpunkte für eine solche alternative Strategie?
- Offenkundig gibt es keine akzeptablen Lösungen im nationalen Alleingang. Das gilt nicht nur für den Ruf nach Abschottung der nationalen Grenzen. Es gilt auch für die Forderung, die Bundesrepublik solle ihre Grenzen für Flüchtlinge im Alleingang öffnen. Ohne ein Mindestmaß an Kooperation mit unseren europäischen Nachbarn gibt es auf Dauer keine Akzeptanz für eine liberale Flüchtlingspolitik. Wenn wir den offenen Schengenraum erhalten wollen, braucht es eine konzertierte Politik zwischen den Mitgliedsstaaten.
- Jede europäische Lösung ist auf kooperative Arrangements mit unseren Nachbarn im Süden und Osten der EU angewiesen. Es gibt also auch keinen europäischen Alleingang in der Flüchtlingsfrage. Sie ist eng verknüpft mit unserer Nachbarschaftspolitik nach Osten und Süden, mit sicherheitspolitischen Fragen und mit wirtschaftlicher Kooperation. Rückzug auf die Festung Europa ist keine Lösung.
- Zentrales Element einer pro-aktiven Nachbarschaftspolitik ist die Verbesserung der Lage der Flüchtlinge in den Auffangländern, insbesondere in der Türkei, in Jordanien und im Libanon: bessere Grundversorgung mit Lebensmitteln, Wohnungen und medizinischer Betreuung, aber auch Zugang zu Bildung und Erwerbsarbeit. Das muss maßgeblich von den OECD-Staaten finanziert werden.
- Ein zweites Kernelement sind Vereinbarungen über die Aufnahme von Flüchtlingen aus diesen Pufferstaaten in Europa. Wer die ungeordnete, lebensgefährliche Zuflucht über das Mittelmeer einschränken will, muss die legalen Zugangswege erweitern. So problematisch gegenwärtig politische Arrangements mit Erdogan sind: es führt kein Weg an entsprechenden Vereinbarungen mit der Türkei vorbei, wenn wir die Situation in der Ägäis beruhigen wollen. Der Webfehler des jetzigen Deals liegt vor allem darin, dass die verabredeten Kontingente viel zu gering sind, um den in der Türkei gestrandeten Flüchtlingen eine realistische Alternative zu eröffnen und kriminellen Schleppern den Boden zu entziehen.
- Nicht zuletzt brauchen wir eine stärkere Verzahnung der Flüchtlingspolitik mit einer langfristig angelegten Einwanderungs¬politik nach Europa. Dazu gehört die Klärung der Statusfrage für die gegenwärtigen Flüchtlinge: soll ihnen lediglich vorübergehender Schutz gewährt werden oder geht es um ihre dauerhafte Integration in unsere Gesellschaften? Auf Dauer kann es nicht funktionieren, alle möglichen Motive und Formen der Zuwanderung durch das Nadelöhr des Asylrechts zu pressen. Wir brauchen eine Differenzierung zwischen Flüchtlingen und Arbeitsmigranten und zugleich einen erleichterten Wechsel vom einen Status in den anderen.
- Wer kann eine solche alternative Strategie ins Werk setzen? Setzen wir weiterhin auf „gesamteuropäische Lösungen“ oder müssen wir stärker auf eine „Koalition der Willigen“ zwischen den Mitgliedsstaaten setzen, die gegenwärtig bereit sind, eine relevante Zahl von Flüchtlingen aufzunehmen? Offenkundig ist der Versuch gescheitert, alle EU-Staaten auf verbindliche Quoten für die Verteilung von Flüchtlingen zu verpflichten. Dafür gibt es keinen tragfähigen Konsens. Der gemeinsame Nenner zwischen allen 28 EU-Mitgliedern läuft auf eine extrem restriktive Politik hinaus. Wenn wir sie durchbrechen wollen, müssen wir akzeptieren, dass es auch in der Flüchtlingsfrage ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten gibt. Wie das ausgestaltet werden kann, ohne dass eine dauerhafte Fragmentierung innerhalb der EU verfestigt wird, ist allerdings noch nicht ausbuchstabiert.
Mehr als genug Stoff also für eine komplexe und lebhafte Debatte mit einem internationalen Spektrum von Gästen. Es liegt uns sehr daran, einen transnationalen Dialog zu diesen Fragen zu führen – wenn nationale Lösungen nicht greifen, brauchen wir erst recht eine Verständigung zwischen unterschiedlichen Perspektiven.
Dieser Beitrag ist Teil unseres Dossiers "Grenzerfahrung - Flüchtlingspolitik in Europa".