Vom 6. bis 9. April zeigt das Ballhaus Naunynstraße das Tanzstück "XX-RIOTS". Zoha Aghamehdi hat mit der Produzentin Modjgan Hashemian über das Stück und über ihre eigene Geschichte gesprochen.
An einem Dienstagmorgen um 8 Uhr besuche ich Modjgan Hashemian im Empfangsbereich des Studio Я am Maxim Gorki Theater. An der Tür werde ich von ihr empfangen. Sie trägt Sportklamotten, ihre langen schwarzen Haare hat sie hochgesteckt. Sie kocht Tee und wir machen es uns gemütlich auf der Couch. Als Choreografin arbeitet sie gerade an ihrem nächsten Stück, das am 19./20. März im Studio Я Premiere hat. Die Reihe heißt „Mythen der Wirklichkeit“. Ich freue mich, dass sie eine Stunde Zeit für dieses Gespräch eingeräumt hat.
Geboren ist sie in Berlin, Neukölln, als Tochter eines iranischen Studentenpaars. Nach der iranischen Revolution 1979 haben sich ihre Eltern für ein Leben im Exil entschieden. Sie ist in Berlin zur Schule gegangen und verbrachte ihre Ferien regelmäßig in Iran. Heute ist sie freie Tänzerin und Choreografin, wohnt noch immer in Berlin und ist unterwegs in der ganzen Welt.
Mit falscher Sprache am falschen Ort
Tanzen ist ihr ganzes Leben. Als kleines Mädchen musste sie oft hin und her pendeln. „Ich war immer mit falscher Sprache am falschen Ort“, sagt sie. Oft hat sie sich in einem Zimmer eingeschlossen und für sich wild herumgetanzt. Die Inspiration kam von den Perserteppichen mit ihren verschlungenen Mustern und Blumen. Sie folgte diesen Mustern mit den Augen und bewegte ihren kleinen Körper zu ihren Vorstellungen. Es war eine Flucht vor dem Reden und vor der Sprache, sagt sie. Tanzen war ihr Medium, sich auszudrücken.
“Bei allen Familienfeierlichkeiten habe ich performt. Auch in der Schule war ich oft im Theater oder in der Tanz-AG. In Schultheatergruppen hatte ich mit meinen schwarzen langen Haaren unter den Blonden immer die Schneewittchenrolle“, sagt sie und streicht ihre immer noch langen schwarzen Haaren aus dem Gesicht. „Ich wollte nicht die Schöne und Brave sein. Ich wollte eine Schneeflocke sein, die frei für sich tanzt.“ Ihr Vater war stolz auf seine Tochter. Doch eine Tanzkarriere anzufangen kam nicht in Frage. „Iranerinnen und Iraner legen viel Wert auf Bildung. Um meine Eltern glücklich zu machen, habe ich angefangen, Jura zu studieren. Da war ich sehr unglücklich“, erzählt Modjgan. Neben ihrem Studium nahm sie Tanzunterricht. Sehr früh merkte sie, dass ihr der klassische Ballett-Unterricht nicht ausreicht und sie sehnt sich nach Experimentellerem. Schließlich befreit sie sich vom Jurastudium und fängt eine zeitgenössische Tanzausbildung an.
„Während der Ausbildung merkte ich, dass ich nicht in einer Tanz-Company sein kann, wo ich vorgeführt bekomme, wie ich mich auf der Bühne zu bewegen habe. Ich wollte meine Stücke selber gestalten. Ich wollte das künstlerisch berichten, was mich emotional bewegt.“ So gründete sie ihre eigene Tanz-Company und arbeitet nun als freie Tänzerin. Ihre Arbeit beginnt immer mit einem Thema, das ihr auf dem Herzen liegt. Dann fängt die Recherchephase an: Literatur, Film, Interviews, Reisen - Eindrücke sammeln. Wenn sie genügend Material beisammen hat, fängt die zweite Phase an: die choreografische Umsetzung des Themas.
Ihr erstes Stück heißt „Die Wurzel“. Es ist ein Solo über ein kleines Mädchen, das mit seiner Familie auswandert. Vielleicht Modjgan selbst? Oder viele andere Menschen, die emigrieren? „Das Thema hatte mich über Jahre begleitet, in verschiedener Variation. Ich wollte nicht nur meine Geschichte erzählen, ich wollte die unterschiedlichen Facetten von Menschen zeigen, die zwei Kulturen in sich tragen“, sagt sie. „Heute finde ich das Wort “Wurzel” schrecklich und ich befasse mich nicht mehr thematisch mit meiner Vergangenheit, aber ich merke, dass ich bei vielen Themen eine andere Perspektive habe als Menschen, die ausschließlich aus einem Kulturkreis stammen. Und das ist meine Aufgabe als Künstlerin: aus meiner Perspektive zu berichten.”
Tanz als künstlerische Berichterstattung
Sie erzählt von ihrer ersten Reise nach Iran nach 27 Jahren. Jahrelang hatte sie eine Rückkehr abgelehnt, weil sie nicht in ein Land reisen wollte, in dem Frauen unterdrückt werden. Angekommen in ihrer Heimat merkte sie schnell, dass ihr Bild von iranischen Frauen nicht der Realität entsprach. „Die iranischen Frauen sind, trotz der Unterdrückung, sehr stark. Sie kämpfen mit der Tradition. Sie wissen ganz genau, was sie erreichen wollen. Sie sind sehr selbstbewusst.“ Modjgan sieht ihre Rolle als Künstlerin auch darin, der einseitigen und oft falschen Berichterstattung zu widersprechen und das Geschehen in der Welt kritisch zu betrachten. „Als freie Künstlerin habe ich die Möglichkeit und die Chance, eine eigene ‘künstlerische Berichterstattung’ zu schaffen, die der Realität näher steht.“ So sind ihre Stücke meist in einen politischen Kontext eingebettet und enthalten eine Stellungnahme.
Aktuell zeigt das Ballhaus Naunynstraße die Wiederaufnahme ihres Stücks XX-RIOTS. Die Idee entstand aus einer Reportage über bolivianisches Frauen-Wrestling, auf Bolivianisch „Cholitas“ genannt. Für Bolivianerinnen ist Cholitas mehr als eine Sportart. Aspekte des Kampfes übertragen sich auf das Leben der Kämpferinnen in einer männerdominierten Gesellschaft. Für die choreografische Umsetzung der Box-Szenen bekam Modjgan Unterstützung von den Box-Girls Berlin. Die Gruppe hat eine Trainerin geschickt, um mit den Tänzerinnen zu trainieren.
„Frauen kämpfen nicht nur 'dort'. Frauen haben auch im Westen mit Vielem zu kämpfen. Hier wird aber alles anders vermarktet. Frauen werden instrumentalisiert und als Objekt betrachtet; das Bild der Idealfrau, das wir repräsentieren müssen. Das wird auch in diesem Stück thematisiert“, sagt Modjgan und greift zu ihrem Tee. Kritisch sieht sie die sogenannte „Selfie Generation“ - eine Generation, die daran gewöhnt ist, sich durch ein Medium als einer Art drittes Auge zu sehen. Eine Generation, die vor ihren Smartphones posiert und von sich selbst entfremdet ist.
"Körper kennen keine nationale Identität"
Als freie Choreografin leitet Modjgan Kooperationen mit dem Ballhaus Naunynstraße und dem Maxim Gorki Theater. „Die Menschen, die an diesen Häusern arbeiten, sind politisch und wollen Stellung nehmen. Das ist sehr inspirierend. Mit den Dramaturgen und Dramaturginnen dieser Häuser kann ich eine politische Diskussion führen, die Mitarbeitenden sind sehr solidarisch und engagiert.“ Dass es diese Häuser gibt, ist für Kulturschaffende wie Modjgan eine Stütze, um ihre politischen Einstellungen künstlerisch umzusetzen.
„Der Tanzbereich ist sehr international. Körper kennen keine nationale Identität.“ Die Debatte um Rechtspopulismus in Europa betrachtet sie kritisch. „Ich erinnere mich an Szenen meiner Kindheit in Deutschland im Bus, wo wir uns mit meiner Familie hingesetzt haben und die Leute sind aufgestanden. Solche Sachen gab es immer. Natürlich gibt es heute ein anderes Bewusstsein in den Köpfen. Heute sind die Menschen viel kritischer geworden. Dennoch leben wir in der Gesellschaft auf unseren eigenen Inseln. Wir bewegen uns in den Kreisen, die uns Sicherheit geben. So entsteht eine Trennung zwischen den Welten. Mit der kulturellen Bildungsarbeit schafft man Brücken zwischen diesen Inseln. Und das ist meine Hoffnung: Mit meiner Arbeit so eine Art Verbindung zu schaffen."
Wir trinken unseren Tee aus und sprechen über das iranische Neujahrsfest am Frühlingsanfang. Wir verabschieden uns, Modjgans Probe beginnt.
Am 6.-9. April ist die Wiederaufnahme von XX-RIOTS von Modjgan Hashemian im Ballhaus Naunynstraße zu sehen. Das Stück wurde am 6. Oktober 2015 uraufgeführt.