In dem Beitrag “Ikhlas Bajoos neues Leben“ erzählt die Journalistin Gesa Steeger die Geschichte einer Jesidin aus dem Norden Iraks. Die damals 14-Jährige befand sich monatelang in Gefangenschaft des „Islamischen Staats“, bis ihr aus eigener Kraft die Flucht gelang. Sie lebt zurzeit in Süddeutschland und versucht dort, ihre traumatischen Erfahrungen zu bewältigen.
Der 4. August 2014 hat für Ikhlas Bajoo große Bedeutung. An diesem Tag wird sie vierzehn Jahre alt. Doch es ist auch der erste Tag in ihrem Leben ohne Vater, ohne Brüder, ohne Heimat.
Das neue Leben begann am Morgen des 3. August 2014, als Ikhlas Bajoo, ihr Vater, ihre Schwester und zwei ihrer Brüder ihr Haus in Tal Qasab verlassen, einem kleinen Ort am Fuße des Sindschar-Gebirges im Irak. Mit ihnen machen sich Nachbarn, Freunde und Freundinnen, Verwandte auf den Weg. Sie wollen in den Bergen Schutz suchen.
Seit Monaten überfluten die schwarzen Truppen des „Islamischen Staats“ (IS) immer größere Teile des Nordiraks. Gerüchte gehen um: Der IS sei auf dem Weg nach Tal Qasab. Zu ihnen, den Jesidinnen und Jesiden. Die Peschmerga, die kurdischen Truppen, seien auf dem Rückzug.
Flucht vor der IS-Offensive
In den Sommermonaten des Jahres 2014 übernimmt der IS den Norden Iraks. Angehörige der jesidischen und der christlichen Minderheit sowie andere „Ungläubige“ werden zu Vogelfreien. Muslime, die nicht freiwillig zum „wahren Islam“ konvertieren, werden erschossen. Die Frauen und Mädchen werden verschleppt.
Sie werden verkauft, zwangsverheiratet, oft monatelang missbraucht. Rund 10.000 Menschen sterben in diesen Sommermonaten, etwa 7.000 werden vom IS entführt. Dramatische Bilder von Tausenden Jesidinnen und Jesiden, die vor dem IS ins Sindschar-Gebirge flüchten und dort bei hohen Temperaturen und Wassermangel tagelang ausharren, gehen in diesen Tagen um die Welt.
Ikhlas Bajoo schafft es damals nicht in die rettenden Berge. Ihre Flucht endet, wie die ihrer Familie und von rund 300 weiteren Männern, Frauen und Kindern, in einem kleinen Dorf in den Ausläufern des Sindschar. Bevor sie sich an den Aufstieg machen können, knallen die ersten Schüsse, nähern sich schwere Pickups mit heulenden Motoren. Um kurz nach 16 Uhr ist alles vorbei: Der IS übernimmt die Kontrolle – über das Dorf und seine Menschen, über Leben und Tod.
Schutz für Frauen aus dem Irak
Ikhlas Bajoo erzählt ihre Geschichte an einem geschützten Ort, irgendwo in Süddeutschland. Seit zwei Jahren lebt sie in einer psychiatrischen Einrichtung, im ersten Stock eines grauen Wohnhauses aus der Gründerzeit. Ihr Zuhause ist ein langer Krankenhausflur, den sie mit ihrer Mutter, ihrem zehnjährigen Neffen und noch drei weiteren Familien teilt. Sie alle sind Jesidinnen, wie sie selbst. Die Frauen in langen Röcken und mit losen Kopftüchern sind herzlich, die Kinder blass und verschüchtert. Ihre Männer, Väter und Brüder sind noch im Irak. Tot oder verschwunden.
Ikhlas Bajoo und die anderen Frauen sind hier auf Einladung des Landes Baden-Württemberg. Im Oktober 2014 initiierte Ministerpräsident Winfried Kretschmann das Programm „Sonderkontingente für besonders schutzbedürftige Frauen und Kinder aus dem Nordirak“, angestoßen durch den damaligen Flüchtlingsgipfel im Kanzleramt und ein Treffen Kretschmanns mit Vertreterinnen und Vertretern des Zentralrats der Jesiden in Deutschland.
Im Januar 2015 reist ein 15-köpfiges Team im Auftrag des Baden-Württembergischen Staatsministeriums erstmals in den Irak. Die Delegation trifft mit hohen kurdischen und irakischen Regierungsvertretern und religiösen Führern zusammen, besucht Hilfseinrichtungen, Organisationen und Kirchen. Sie spricht mit Opfern des IS und stellt eine Kontingentliste zusammen.
Im März 2015 landen die ersten Frauen und Kinder auf deutschem Boden. Voraussetzung für eine Reise nach Deutschland: eine gute Behandlungsperspektive und eine besondere Schutzbedürftigkeit. Verantwortlich für die psychologische Untersuchung ist damals der Psychologe Jan İlhan Kızılhan. Er stammt selbst aus einer jesidischen Familie, hat in Orientalistik promoviert und arbeitet in der Traumaforschung.
Traumatische Erfahrungen
Am Telefon erzählt er von Gesprächen mit Frauen, denen ihre Kinder vom IS entrissen wurden, von systematischen Vergewaltigungen und von Kindern, die ihre Väter sterben sahen.
So wie Ikhlas Bajoo. Wenn sie über den Tod ihres Vaters spricht und über alles, was danach kam, wippen ihre Beine nervös auf und ab. Ihr Blick geht ins Leere, Richtung Boden. Die Flucht, die Angst, die Männer des IS: Das alles ist schon drei Jahre her, doch noch immer bestimmen die Bilder von damals den Alltag von heute. „Wenn ich darüber spreche, ist es, als lege sich ein Vorhang vor meine Gedanken, und ich bin wieder dort.“
In der Hand des IS
Dort, in dem kleinen Dorf, wo am Nachmittag des 3. August 2014 ihre Flucht endete: Nach der Gefangennahme durch die Kämpfer des IS werden Frauen und Männer getrennt. Ikhlas Bajoo, ihre Schwester und ihre Mutter werden in eine Halle gebracht, gemeinsam mit rund 200 anderen Frauen. Ihr Vater und zwei ihrer Brüder werden mit den anderen Männern auf einen nahegelegenen Friedhof geführt.
Was in diesen Minuten in ihr vorging? „Angst“, sagt Ikhlas Bajoo. „Einfach nur Angst.“ Trotz des wippenden Knies, trotz der im Schoß verknoteten schmalen Hände erzählt die junge Frau ihre Geschichte klar und zusammenhängend. Ohne Stocken berichtet sie weiter: Wie sie es schafft, aus der Halle zu entkommen, wie sie Schüsse hört und sieht, wie auf dem Friedhof ihr Vater vor einem IS-Kämpfer zusammenbricht.
Vermutlich erschießt der IS an diesem Nachmittag alle männlichen Gefangenen. Genau weiß Ikhlas Bajoo das nicht. Sie weiß auch nicht, was mit ihren Brüdern Babir und Said, 25 und 23 Jahre alt, passiert ist. Seit sie auf den Friedhof geführt wurden, hat niemand sie je wiedergesehen.
Am Abend bringen die Kämpfer des IS die Frauen auf ihren Pickups nach Tal Afar, ein paar hundert Kilometer östlich des Sindschar-Gebirges. Dort werden sie in eine ehemalige Schule gesperrt, die dem IS als Gefängnis dient. Die Nacht vor ihrem vierzehnten Geburtstag verbringt Ikhlas Bajoo schlaflos. Was in den nächsten drei Tagen passierte, darüber redet sie nicht viel, es waren drei Tage, in denen „Schlechtes mit uns gemacht wurde“, sagt sie.
Entführte Frauen
Am dritten Tag bringt der IS die Frauen weiter nach Badush, am Ufer des Tigris gelegen, unweit von Mossul. Hier wird Ikhlas Bajoo von ihrer Mutter und ihrer Schwester getrennt und mit anderen jungen Frauen nach Mossul gebracht, „in ein ganz großes Haus“, wie sich die junge Frau erinnert. Mit 50 anderen Frauen und Mädchen wird sie in ein großes Zimmer gesperrt. Im Rückblick sieht sie graue Bodenfliesen und Fenster, die sie nicht öffnen durften. Es ist so eng, dass sich die Gefangenen nicht hinlegen können.
Morgens und am Abend bekommen sie Wasser, einmal am Tag etwas zu essen, meist Reis mit etwas Fleisch. Immer wieder kommen Männer ins Zimmer. Mit einem Besenstiel heben sie die Köpfe der Mädchen an, um sich die Gesichter besser anschauen zu können. Wer gefällt, wird ins angrenzende Badezimmer geschleppt und vergewaltigt. „Da war ein Mann über 40, der hat sich eine Zehnjährige genommen“, sagt Ikhlas Bajoo.
In den Tagen danach verschwinden immer mehr Frauen. Sie werden vermutlich nach Syrien gebracht oder nach Saudi-Arabien. Ikhlas Bajoo wird nach einer weiteren Verlegung von einem 30-jährigen IS-Kämpfer auf eine Militärbasis verschleppt. Dort wird sie sechs Monate bleiben, „als Spielzeug“, wie sie sagt. Viermal versucht sie, sich umzubringen.
Dreimal wagt sie einen Fluchtversuch. Der letzte gelingt: Sie knackt mit einem Messer das Türschloss, versteckt sich über Stunden hinweg in einem angrenzenden Feld und läuft um ihr Leben. Einen ganzen Tag sei sie gelaufen, sagt Ikhlas Bajoo. Dann hätten kurdische Peschmerga sie gefunden und sie in ein Flüchtlingscamp gebracht.
Trotz allem: Nach vorne schauen
Wenn Ikhlas Bajoo über ihre Flucht spricht, dann hören ihre Beine auf zu wippen. Die Hände lösen sich. Das schmale Gesicht öffnet sich für ein Lächeln, zum ersten Mal während des Gespräches. Es ist ein stolzes Lächeln. Eines, das sagt: Ich habe es geschafft. Warum sie ihre Geschichte erzählen will? Um sie vielleicht irgendwann loszuwerden, aber auch um zu zeigen: „Ich bin hier, am Leben und ich mache weiter.“
Noch immer sind rund 900 Frauen in der Gefangenschaft des IS, schätzt Psychologe Kızılhan. 20.000 bis 30.000 weitere traumatisierte Menschen seien noch immer in den Camps im Irak. Um diesen Menschen besser helfen zu können, hat Kızılhan, in Zusammenarbeit mit dem Land Baden-Württemberg, im März 2017 im Nordirak ein Traumazentrum eröffnet.
Es ist eine Ausbildungsstätte für Therapeuten und Therapeutinnen, die vor Ort helfen, in Flüchtlingscamps und Krankenhäusern. Das Programm des Sonderkontingentes ist im September 2017 ausgelaufen. Die psychologische Betreuung der Frauen in Deutschland geht aber weiter, sagt Kızılhan. „Das ist auch dringend nötig.“ Werde ein Trauma nicht therapiert, bestehe die Gefahr, dass die Patientinnen nicht mehr ins Leben zurückfänden, erklärt der Psychologe.
Zurück ins Leben finden will auch Ikhlas Bajoo. Seit Sommer 2017 besucht die jetzt 17-Jährige die zehnte Klasse einer Berufsschule. Nach ihrem Abschluss will sie Jura studieren. Sie möchte Anwältin werden, „um meinem Volk zu helfen.“ Noch immer hat sie Albträume, kann schlecht einschlafen. „Ich habe gesehen, wie eine Neunjährige zu Tode geprügelt wurde“, sagt die junge Jesidin. „Wie soll ich das jemals vergessen?“ Vergessen könne sie niemals, sagt Ikhlas Bajoo. Aber jetzt will sie nur eines: nach vorne schauen.