Warum Frauen fliehen: Ursachen, Bedingungen und politische Perspektiven

Vom Beginn der Flucht bis zur Ankunft und darüber hinaus sind Frauen Gewalt ausgesetzt. Selmin Çalışkan reflektiert Ursachen und Folgen und gibt Empfehlungen für eine adäquate Flüchtlingspolitik der EU-Staaten.

Geflüchtete Frau an der türkischen Grenze
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Geflüchtete Frau an der türkischen Grenze

Fast die Hälfte aller Flüchtenden weltweit sind Frauen und Mädchen. Oft fliehen sie, weil sie unterschiedlichste Formen von Gewalt erlebt haben oder davon bedroht sind: Ehrenmord, Zwangsabtreibung, Zwangsheirat, Zwangssterilisierung und (Genital-)Verstümmelungen, Witwenverbrennungen, Vergewaltigungen und unter Umständen auch häusliche Gewalt.

Als geschlechtsspezifische Verfolgung gilt auch, wenn Frauen grundlegende Rechte verweigert werden, etwa das Recht darauf, den eigenen Lebensunterhalt zu verdienen, das Recht auf Religionsausübung und das Recht auf Zugang zu Bildungseinrichtungen. Kennzeichnend für geschlechtsspezifische Verfolgung ist, dass die Geschlechtszugehörigkeit entweder den Grund für die Verfolgung darstellt oder aber die Art der Verfolgung bestimmt.

Nach der Genfer Flüchtlingskonvention wird geschlechtsspezifische Verfolgung als Verfolgung aufgrund der „Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe“ anerkannt. 2002 legte das Hochkommissariat der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (UNHCR) in seinen Richtlinien zum internationalen Schutz fest, dass Formen sexualisierter Gewalt ebenso wie Diskriminierung aufgrund des Geschlechts oder der sexuellen Orientierung als geschlechtsspezifische Verfolgung gelten. Auch das deutsche Asylrecht berücksichtigt seit 2005 frauenspezifische Fluchtursachen.

Problematik des Nachweises geschlechtsspezifischer Verfolgung

Geschlechtsspezifische Verfolgung ist schwierig nachzuweisen, weil sie oft innerhalb der Familie und im häuslichen Rahmen stattfindet. Erschwerend kommt hinzu, dass es sich hierbei um eine Form sogenannter nichtstaatlicher Verfolgung handelt. Als Fluchtgründe werden diese Formen der Unterdrückung und Gewalt nur dann anerkannt, wenn der Staat unfähig oder unwillig ist, landesweiten Schutz vor Verfolgung zu bieten und auch keine Fluchtalternative im Land selber existiert.

Obwohl geschlechtsspezifische Verfolgung in der Theorie rechtlich anerkannt ist, fehlt es in der bürokratischen Praxis von Asylverfahren oft an Sensibilität und Verständnis für diese besondere Form der Gewaltausübung. Auch wissen Frauen oft schlichtweg nicht, dass sie geschlechtsspezifische Gewalt als Fluchtgrund geltend machen können. Häufig ist das Tabu, über die erfahrene Gewalt zu sprechen, so groß, dass Betroffene aus Angst und Scham schweigen.

Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) setzt inzwischen Sonderbeauftragte ein, wenn sich im Asylverfahren, zum Beispiel bei der Anhörung, Anhaltspunkte für geschlechtsspezifische Verfolgung erkennen lassen, die über spezielle rechtliche, kulturelle und psychologische Kenntnisse verfügen, um die Verfahren auf sensible Art und Weise durchzuführen.

Gewalt gegen Frauen vor der Flucht

Weltweit steigt die Intensität bewaffneter Konflikte massiv an. Im Kontext dieser Auseinandersetzungen werden Männer wie Frauen politisch verfolgt und sind Verhaftungen, Folter, Hinrichtungen und dem Verschwindenlassen durch staatliche Sicherheitsbehörden schutzlos ausgeliefert.

Für die Zivilbevölkerung sowie für Aktivisten und Aktivistinnen, die sich für Menschen- und Frauenrechte einsetzen, hat sich die Sicherheitslage, etwa in Afghanistan, deutlich verschlechtert. Letztere sind von den vor Ort agierenden extremistischen Gruppierungen öffentlich zu Zielscheiben erklärt worden.

Die UN weist in Bezug etwa auf Afghanistan und Syrien darauf hin, dass aufständische bewaffnete Gruppen Frauen zunehmend für vermeintlich unmoralisches Verhalten bestrafen – ein Trend, der sich seit etwa 2007 stetig verschärft. Beispielsweise ist die Zahl der gezielten Morde an Frauen, die sich für Menschenrechte einsetzten, in Afghanistan um 25 Prozent gestiegen. Darunter befanden sich Polizistinnen, Lehrerinnen, Politikerinnen, Ärztinnen und andere Frauen, die im öffentlichen Leben aktiv waren.

Der Krieg in Syrien hat bisher rund 5,5 Millionen Menschen zur Flucht ins Ausland gezwungen. Überdies sind rund 6 Millionen Syrerinnen und Syrer als Binnenflüchtlinge innerhalb der syrischen Grenzen auf der Suche nach Schutz. Aber auch im Sudan, Nigeria und Somalia werden Menschen massenhaft durch bewaffnete Konflikte aus ihren Heimatorten vertrieben. In Eritrea beispielsweise sind die Furcht vor Verfolgung, vor politischer Einschüchterung und vor dem lebenslangen Zwangswehrdienst für Männer und Frauen für 30 Prozent der Flüchtenden ausschlaggebend dafür das Land zu verlassen.

Situation im Heimatland und sexualisierte Gewalt als Kriegsstrategie

In Deutschland wurden laut BAMF im Jahr 2016 zwei Drittel aller Asylanträge von Männern gestellt, der Bericht des UNHCR für 2016 zeigt jedoch, dass die Hälfte aller Menschen auf der Flucht weiblich ist. Vielen Frauen gelingt die Flucht nach Europa erst gar nicht: Vor allem Frauen aus einigen afrikanischen Staaten und Ländern des Nahen Ostens suchen wegen der gefährlichen Fluchtwege und fehlender finanzieller Mittel Schutz innerhalb der jeweiligen Landesgrenzen.

Frauen und Kinder sind wegen der instabilen politischen Lage in den einzelnen Ländern wie auch auf der Fluchtroute besonders gefährdet und werden häufig mehrfach Opfer von unterschiedlichsten Formen der Gewalt. Viele  Frauen wurden bereits in ihren Heimatländern aufgrund herrschender Geschlechternormen und traditionellen Rollenzuschreibungen unterschiedlich stark diskriminiert und unterdrückt – lange bevor Kriege oder Konflikte sich zuspitzten. Ihnen wurden grundlegende Menschenrechte aberkannt oder sie konnten diese nur teilweise wahrnehmen. Die Angst vor Gewalt durch Familienangehörige oder durch den Staat ist häufig sehr groß, wenn sie ihre Rechte trotzdem einfordern.

Außerdem kommt hinzu, dass in vielen Bürgerkriegen systematische Vergewaltigungen von Frauen und Mädchen zur erklärten Kriegsstrategie gehören. Die Täter beabsichtigen damit, die soziale Struktur von Familien und ganzen Gesellschaften zu zerstören und Menschen von ihrem Territorium zu vertreiben.

Obwohl der UN-Sicherheitsrat im Jahr 2008 die UN-Resolution 1820 zum Schutz vor sexualisierter Gewalt verabschiedet hat, fehlt es weltweit an politischem Willen, die Resolution mit kohärenten Strategien und Maßnahmen umzusetzen, zum Beispiel im Rahmen der zivilen Auslandsmissionen der EU, der militärischen Interventionen der NATO und der UN-Friedensmissionen.

Das in diesen Missionen agierende zivile und militärische Personal muss in Schulungen für die Themen „Gewalt gegen Frauen“ und „Schutz vor Menschenrechtsverletzungen an Frauen“ sensibilisiert werden, damit diese in die unterschiedlichen Arbeitsbereiche Eingang finden. Doch auch von Angehörigen der UN- und NATO-Truppen selbst werden solche Menschenrechtsverletzungen begangen, wie die bekannten Skandale der sexualisierten Ausbeutung von einheimischen Frauen und Kindern zeigen.

Mangelnder Schutz

Die Opfer sexualisierter Gewalt bleiben weitgehend auf sich allein gestellt. Sie erhalten keine ausreichende medizinische, psychosoziale und rechtliche Unterstützung – mit der Konsequenz, dass Vergewaltigungen ungesühnt bleiben und das Leben vieler dieser Frauen zerstört ist. Dass schwere Menschenrechtsverletzungen gegenüber Frauen nicht geahndet werden, stellt selbst einen offenen Anreiz dafür dar, weiterhin solche Gewalttaten zu begehen.

Als gravierende Konsequenz leiden die betroffenen Frauen und Mädchen an psychischen Langzeitfolgen wie posttraumatischen Belastungsstörungen und Depressionen, die auch zu Selbstmordgefährdungen führen. Sie fühlen sich sozial isoliert und werden gleichzeitig von der Gesellschaft stigmatisiert, da ihnen die Schuld für die Vergewaltigung zugesprochen wird. Sie haben alles verloren. Wer noch kann, flieht.

Gewalt gegen Frauen während der Flucht

Auf den vielen Stationen der Flucht und im Aufnahmeland erleben Frauen und Mädchen oft weiterhin Gewalt und machen erneut traumatisierende Erfahrungen. Beispielsweise sind viele von ihnen der Willkür und Gewalttätigkeit von Schleppern ausgesetzt: Als Gegenleistung für Sex werden ihnen ermäßigte Preise oder kürzere Wartezeiten für Fahrten über das Mittelmeer angeboten. Immer wieder berichten Frauen davon, dass sie selbst oder andere auf der Überfahrt von Libyen nach Italien vergewaltigt wurden.

Auch berichtet die Internationale Organisation für Migration (IOM), dass im Jahr 2016 Schlepperbanden und Menschenhändlerringe kooperierten, um beispielweise 4000 junge Frauen und Mädchen aus Nigeria in die Zwangsprostitution nach Italien zu verkaufen. Von 11.009 ankommenden Mädchen würden 80 Prozent in die Prostitution gezwungen. Wenn deutlich weniger geflüchtete Mädchen als Jungen in Deutschland ankommen, könnte der organisierte Menschenhandel in die Zwangsprostitution ein wichtiger Grund dafür sein.

So ist es nicht verwunderlich, dass Angst der ständige Begleiter von Frauen auf der Flucht ist – Angst vor Gewalt und sexuellen Übergriffen, vor ungewollter Schwangerschaft und infektiösen Krankheiten, vor Gefangenschaft und Ausbeutung, vor Hunger und Krankheit, vor dem Verlust von Kindern und älteren Angehörigen und letztlich die Angst vor einer ungewissen Zukunft. Endlich angekommen, wünschen sich die Frauen vor allem Stabilität und Sicherheit sowie psychosoziale Unterstützung und eine menschenwürdige Behandlung.

Doch in der Realität erleben sie auch in Aufnahmeeinrichtungen und Flüchtlingslagern immer wieder Gewalt, sexualisierte Übergriffe, Diskriminierung und Stigmatisierung. Nur wenige Vorfälle werden überhaupt gemeldet: Viele Frauen trauen sich aus Angst und Scham nicht, darüber zu sprechen, und erstatten keine Strafanzeige, da sie befürchten, dass eine Anzeige negative Auswirkungen auf ihr Asylverfahren haben könnte oder dass der Täter sich an ihnen rächt.

Beispiel Libanon: das Geschäft mit erzwungenem Sex

Im Jahr 2016 recherchierte Amnesty International, dass geflüchtete Syrerinnen und Palästinenserinnen, die als Flüchtlinge in Syrien gelebt hatten, im Libanon schweren Menschenrechtsverstößen ausgesetzt waren, darunter geschlechtsspezifischer Gewalt, Ausbeutung und sexueller Belästigung, nicht selten in der Öffentlichkeit. Weibliche Haushaltsvorstände wurden besonders oft belästigt, wenn sie nicht mit einem männlichen Verwandten unter einem Dach wohnten.

Viele dieser Frauen besaßen keine gültigen Aufenthaltsgenehmigungen und zeigten aus Furcht nur selten sexuelle Belästigungen oder anderen Missbrauch bei den libanesischen Behörden an. Ihr nicht vorhandener oder unsicherer Aufenthaltsstatus führte dazu, dass sie Vermietern, Arbeitgebern und selbst Polizisten schutzlos ausgeliefert waren. So berichteten viele von ihnen, dass ihnen Unterstützung nur als Gegenleistung für „sexuelle Dienstleistungen“ angeboten wurde.

Diese Schutzlosigkeit hat auch mit der finanziell prekären Lebenssituation der insgesamt etwa 1,5 Millionen Syrerinnen und Syrer zu tun, die heute im Libanon leben. Im Jahr 2015 lagen nach UN-Angaben 70 Prozent der syrischen Haushalte im Libanon unter der Armutsgrenze. Die libanesische Regierung beschloss zudem 2015 ein neues Gesetz, das es Geflüchteten schwerer macht, ihren Aufenthaltsstatus zu erneuern.

Im Jahr 2016 kostete die Aufenthaltsgenehmigung pro Person doppelt so viel wie vorher – statt 100 US-Dollar nun 200 US-Dollar. Die Unterstützung des UN-Welternährungsfonds (WFP) für die Lebenshaltungskosten besonders schutzbedürftiger Personen wurde zwischenzeitlich von etwa 30 auf 13,50 US-Dollar täglich gekürzt, da die zugesagten internationalen Hilfsgelder für den Libanon nur zur Hälfte gedeckt waren. Damit wurde eine Aufenthaltsgenehmigung für die allermeisten Menschen unerschwinglich.

Fluchtbedingungen

Aktuell ruft der UNHCR weltweit die Regierungen erneut dazu auf, ihre Finanzierungsverpflichtungen für den regionalen strategischen Hilfsplan für den Winter 2017 einzuhalten: Von den benötigten Hilfsgeldern für syrische Flüchtlinge, in Syrien und den Aufnahmeländern in der Region, sind 2017 lediglich 53 Prozent eingegangen. Für die syrischen Binnenflüchtlinge sind die geschätzten Kosten nur zu 24 Prozent abgedeckt, auch für die Flüchtlingshilfe im Irak oder in Ägypten wurde nur unwesentlich mehr gezahlt. Im Libanon hingegen sind die Kosten zu 34 Prozent gedeckt, in der Türkei zu 39 Prozent und in Jordanien zu 47 Prozent.

Wenn der Pro-Kopf-Zuschuss der UN für die Lebenshaltungskosten bis unter die Armutsgrenze sinkt, sind die Menschen noch mehr von Ämtern, Ärztinnen und Ärzten, Polizei und Vermietern abhängig. Sie bekommen keine Bargeldhilfe mehr, der Schulunterricht für Kinder wird eingestellt, Familien können ihre Unterkunft nicht mehr bezahlen.

Auch die Bemühungen von Organisationen, Menschen durch spezielle Programme in Lohn und Brot zu bringen, werden dann eingestellt. All dies bedeutet für die Geflüchteten, dass sie sich hoch verschulden müssen. Zudem haben sie wenig Hoffnung, dass sich ihre Lage in absehbarer Zeit ändern wird. Daher sehen sich viele Flüchtlinge dazu gezwungen, ihrer ersten Fluchtstation den Rücken zu kehren und weiter zu fliehen.

Alle Flüchtlinge brauchen bessere Bedingungen vor Ort, neben der unmittelbaren Versorgung der Menschen mit allem Lebensnotwendigen gehören dazu Wohnungen, Gesundheitsversorgung, Kindergärten, Schulen, Arbeitsplätze und kulturelle Angebote. Aber auch die Aufnahmebereitschaft lässt zu wünschen übrig. Die Entwicklungsorganisation Oxfam fordert von den sechs größten Volkswirtschaften der Welt mehr Einsatz für Geflüchtete.

Zusammen nehmen die USA, China, Japan, Deutschland, Frankreich und Großbritannien nur etwa neun Prozent der Geflüchteten weltweit auf. Das entspricht 2,1 Millionen Menschen bei einer Gesamtzahl von 65 Millionen Geflüchteten weltweit. Die wirtschaftlich Großen machen sich mehrheitlich ganz klein, wenn es um den Flüchtlingsschutz geht.

Hilfestrukturen gendern

Das Leben von geflüchteten Frauen ist komplex und vielfältig. Und entsprechend vielfältig sollten auch die Lösungsansätze sein, denn es gibt keinen Standardflüchtling. Ganz grundsätzlich ist es wichtig, dass die Lebensbedingungen und unterschiedlichen Bedürfnisse von Frauen und Mädchen ebenso wie ihre Fluchtgründe in den internationalen und deutschen Hilfestrukturen erkannt und in den Planungen berücksichtigt werden. Denn nur so können Helfende und Betroffene gemeinsam Hilfsangebote entwickeln, die sich an den Lebensumständen, Bedürfnissen und Lebensplänen der geflüchteten Frauen orientieren.

Es ist hinlänglich bekannt, dass besonders das Leben in den Flüchtlingslagern und Notunterkünften für kranke, allein reisende, schwangere und alleinstehende Frauen mit Kindern schwierig ist. Es kann passieren, dass sie aufgrund ihrer versorgenden Tätigkeiten für andere Familienmitglieder nicht zu den Verteilerstellen kommen können, wo sie Wasser, Lebensmittel oder Hilfsgüter für den alltäglichen Gebrauch erhalten. Aber sie haben auch oft Schwierigkeiten, weil ihre Familien ohne männliches Familienoberhaupt nicht als eigenständige Haushalte anerkannt werden und daher von der Leitung vieler Flüchtlingslager keine Nahrungsmittel erhalten.

Fehlende Sicherheit ist eines der größten Probleme für Frauen in Flüchtlingslagern. Die Lager bieten häufig nicht den Schutz, den Frauen in ihren eigenen Häusern, Dörfern und Gemeinden hatten. Die Lager sind schlecht beleuchtet, viel zu eng und ohne Privatsphäre, es gibt kaum Schutz vor Eindringlingen von außen.

Abgelegene sanitäre Anlagen, die nicht nach Geschlechtern getrennt sind, gemeinsame Schlafräume und lange Wege zu Wasserstellen und Plätzen mit Feuerholz bringen Frauen und Mädchen oft in Situationen, in denen sie sexualisierte Übergriffe erleiden oder vergewaltigt werden. Um solche Situationen zu vermeiden,  greifen viele von ihnen zu extremen Maßnahmen, sie essen oder trinken nichts, um nicht auf die Toilette zu müssen.

Diese permanente Situation der Unsicherheit führt auch dazu, dass Mädchen so früh wie möglich verheiratet werden. Denn wenn sie durch eine Vergewaltigung ihre Jungfräulichkeit verlieren, haben sie häufig kaum Aussicht auf einen Ehepartner. Auf diese Weise kommt es auf den Fluchtrouten vermehrt zu Zwangs- und Kinderheiraten.

Anlaufstellen für sexualisierte Gewalt schaffen

Frauen und Mädchen brauchen in den hiesigen und internationalen Hilfestrukturen Anlaufstellen, die ihnen dabei helfen, sich gegen (sexualisierte) Gewalt zur Wehr zu setzen, Täter anzuzeigen, psychosoziale Hilfe bei Traumatisierung zu erhalten, gegebenenfalls weitere sprachliche und berufliche Kompetenzen zu erwerben, sich zu organisieren und gegenseitig zu unterstützen.

So könnten sie ihre Potenziale und Ressourcen für die eigene Lebensplanung nutzen, diese aber auch zum ökonomischen und ideellen Nutzen der Aufnahme- und Herkunftsgesellschaften einbringen. Obwohl diese Tatsachen vielen Akteuren und Akteurinnen innerhalb der Politik und der humanitären Hilfe in den letzten Jahren bewusster geworden sind und obwohl es genügend gesetzliche Vorgaben gibt – gemessen am Ausmaß des Problems hat sich nur wenig getan.

Neben den bereits bestehenden gesetzlichen Bestimmungen braucht es endlich eine Selbstverpflichtung staatlicher und zwischenstaatlicher Akteure, die allgegenwärtige und kontinuierliche Gewalt gegen geflüchtete Frauen und Mädchen vor, während und nach der Flucht engagiert und mit praktischen Lösungskonzepten anzugehen.

Dabei ist vor allem die Politik gefordert, denn unter den massiven Folgen von Krieg und Gewalt leiden immer mehr Frauen und Kinder, ohne dass es international abgestimmte und menschenrechtlich verbindliche Antworten darauf gäbe. Zum Beispiel müssen internationale rechtsverbindliche Instrumente zur Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt auf Entscheidungen über den internationalen Waffenhandel angewendet werden, um die Rechte und das Leben von Frauen zu schützen.

Der am 2. April 2013 von der UNO Vollversammlung beschlossene Waffenhandelsvertrag (Arms Trade Treaty) ist solch ein Instrument, welches alle Rüstungsexporte, die zu Völkerrechtsverbrechen beitragen, verbietet. Demnach muss in jedem Einzelfall geprüft werden, ob Rüstungsgüter zu Menschenrechtsverletzungen, geschlechtsspezifischer Gewalt oder anderen Verbrechen beitragen können.

In solch einem Falle darf kein Export genehmigt werden. Leider gehört Deutschland zu den größten Exporteuren von Kleinwaffen und trägt damit erheblich zur Gewaltanwendung gegen Frauen und Mädchen bei und schafft damit Fluchtursachen.

Die Verantwortung der EU

Staaten müssen ihr Bekenntnis zu Menschenrechten, Menschlichkeit und Solidarität mit schutzsuchenden Frauen und Mädchen daran messen lassen, inwieweit sie flüchtenden und geflüchteten Frauen und Mädchen auf allen Stationen ihrer Flucht Gewaltschutz und Empowerment anbieten. Und auch daran, wie ernst sie es damit meinen, Täter auf nationaler und internationaler Ebene strafrechtlich zu verfolgen und somit aktive Gewaltprävention zu betreiben.

Momentan verweigern sich die Mitglieder der  EU, aber auch andere wohlhabende Staaten, ganz grundsätzlich einer humanitären Unterstützung für Menschen auf der Flucht, die versuchen, nach Europa zu kommen. Sie wälzen ihre Verantwortung auf Drittstaaten ab, kooperieren zur Fluchtabwehr mit Staaten, die keine internationalen Menschenrechtsstandards einhalten und gehen restriktiv gegen zivile Seenotrettungsorganisationen vor.

Die steigende Zahl der Toten im Mittelmeer und die schweren Menschenrechtsverstöße, denen Tausende Geflüchtete und Einwanderungswillige in libyschen Haftanstalten ausgesetzt sind, stehen in direktem Zusammenhang mit dem politischen Versagen der EU. Die wohlhabenden Länder sind daher Teil des Problems, statt Teil der Lösung zu sein – auch, was den Schutz von Frauen auf der Flucht angeht.

Die EU hätte die Mittel, um den Tod vieler Menschen zu verhindern – wenn sie mehr Schiffe und mehr Personal für die Seenotrettung einsetzen und endlich legale und sichere Zugangswege für Flüchtlinge schaffen würde, zum Beispiel durch die Verstärkung humanitärer Aufnahmeprogramme und ein großzügig angelegtes Resettlement-Programm, welches auch besonders schutzbedürftigen Frauen zugute käme.

Politische EntscheidungsträgerInnen müssten sich endlich offen eingestehen, dass flüchtende Menschen sich durch keine Abschottungsmaßnahme aufhalten lassen, solange die Fluchtursachen wie bewaffnete Gewalt und Verfolgung weiter bestehen bleiben. Dieses Eingeständnis wäre der erste Schritt in die richtige Richtung, um eine ehrliche Diskussion über globale und menschenrechtskonforme Lösungsansätze zu eröffnen- unter Beteiligung von Staaten, Institutionen, Zivilgesellschaft, Wirtschaft und natürlich den betroffenen geflüchteten Menschen selber.