Als Muslimin, Feministin und Weltbürgerin in vielen Kulturen zu Hause - Interview mit Soraya Moket

Interview

Die Deutschmarokkanerin und promovierte Soziologin Dr. Soraya Moket engagiert sich seit vielen Jahren für gleiche Rechte für Mädchen und Frauen sowie gegen jede Form von Diskriminierung von geflüchteten Frauen und Migrantinnen in Deutschland. Wir sprachen mit ihr über ihren persönlichen Antrieb, ihre politisches Engagement und aktuelle Hindernisse für junge Marokkanerinnen und Marokkaner in Deutschland.

Soraya Moket

Die Deutschmarokkanerin Soraya Moket engagiert sich seit vielen Jahren für gleiche Teilhabe und gleiche Rechte für Mädchen und Frauen sowie gegen jede Form von Diskriminierung von geflüchteten Frauen und Migrantinnen in Deutschland. Im Jahr 2016 erhielt sie – gemeinsam mit 23 anderen Frauen – zum Internationalen Frauentag von Bundespräsident Joachim Gauck für ihr gesellschaftspolitisches Engagement das Bundesverdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland.

Frau Moket bricht nach dem Abitur in ihrer Heimatstadt Kenitra im Nord-Westen Marokkos auf, um in Deutschland Medizin zu studieren – mit dem klaren Ziel, wie sie sagt, „einen humanitären Beitrag zu leisten“. Über Umwege landet sie bei der Soziologie, wo sie, nach engagierten Jahren an der Universität Trier, ihre Promotion zur Emanzipation der Frauen in Marokko im 20. Jahrhundert abschließt. Dieses Thema ist kein Zufall, hat sich die praktizierende Muslima Soraya Moket doch wie sie selbst sagt, in einer Gesellschaft sozialisiert, die in vielen Bereichen geprägt ist von geschlechterbasierten wie auch religiös-konservativen Diskriminierungsmustern. Die Promotion wurde von der Heinrich-Böll-Stiftung gefördert.
 
Dorothea Rischewski hat Frau Moket im Februar 2018 im Büro von DaMigra, dem deutschen Dachverband der Migrantinnenorganisationen, getroffen. Dort ist sie seit 2017 als Projektleiterin aktiv.

Dorothea Rischewski: Frau Moket, welche biographischen Erfahrungen haben Sie zu der Persönlichkeit gemacht, die wir heute kennen?

Soraya Moket: In meiner Familie haben meiner Eltern keine Unterschiede in der Erziehung zwischen Jungen und Mädchen gemacht.  Es stellte sich zum Beispiel nie die Frage, ob ich als Frau studieren darf oder nicht oder ob ich ins Ausland zum Studieren gehen darf oder nicht. Für meine Eltern ist Bildung für Mann wie für Frau bedeutsam. 

Meine verstorbene Mutter war ein Vorbild für mich. Für sie war zum Beispiel die finanzielle Unabhängigkeit einer Frau sehr wichtig. Meine Großmutter, die bei unserer Erziehung meine Mutter unterstützt hatte, da sie berufstätig war, lebte als Muslimin immer den Grundsatz „die Würde des Menschen ist unantastbar“ - und zwar des Menschen und nicht des Mannes oder der Frau oder des Muslims oder der Muslimin oder der Nicht-Muslimen.

In diesem Sinne wurden wir auch erzogen. So war es für mich schon als junges Mädchen sehr wichtig, mich auf die innere Suche zu machen und nach einer Erklärung zu suchen, warum einige anders denken. Ich habe mich irgendwann nach dem Sinn meiner Kultur, meiner Identität und meiner Religion gefragt.

Ich bin gläubig, mit diesem inneren Glauben, aber ich mochte zugleich die traditionelle frauendiskriminierende Kultur nicht. Ich hatte die Stärke eines neugierigen, kritischen Geistes und habe in meiner Religion recherchiert, denn ich hatte keine Lust, von irgendjemandem Lektionen erteilt zu bekommen.

Ich war nicht der Frauentyp, um von irgendjemandem Vorschriften zu erhalten. Das hat mich dazu gebracht zu recherchieren. Ich war sehr erstaunt, wie groß der Unterschied ist zwischen dem, was im Koran steht und dem, was man in ihn hineinliest und was man uns jahrhundertelang als nicht zu diskutierende Gebote präsentiert hat. Ich glaube, kritisch zu bleiben und kritisches Denken zu haben ist nicht nur in diesem Zusammenhang wichtig. Der Verstand ist eine wichtige Gabe Gottes.

Soraya Moket ist promovierte Soziologin. Sie ist die erste marokkanische DAAD – Preisträgerin. Bereits seit ihrem Studium ist sie ehrenamtlich aktiv, beim ASTA und beim Internationalen Zentrum der Universität Trier, im Ausländerbeirat sowie im Multikulturellen Zentrum der Stadt Trier.In ihrer Dissertation befasste sie sich mit Demokratie und der Gleichstellung der Geschlechter in Marokko. Sie ist Gründungsmitglied des Deutsch-Marokkanischen Kompetenznetzwerks (DMK) und war bis zum 1. März 2014 ehrenamtliche DMK-Vorsitzende, danach wurde sie zur Ehrenvorsitzenden gewählt. Ihr Schwerpunkt liegt im Bereich Migration und Teilhabe sowie auf entwicklungspolitischen Fragen. Dr. Soraya Moket wurde 2016 mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.

Weitere Informationen: http://www.damigra.de/damigra/team/soraya-moket/

Welche Stationen in Ihrem Leben waren später für Sie politisch besonders prägend?

Meine politische Sozialisierung in Deutschland erfuhr ich beim ASTA an der Universität Trier, wo wir viel Spielraum hatten, uns politisch für gleichberechtigte Teilhabe und Antidiskriminierung einzusetzen. Dieses Umfeld entsprach meinem Bedürfnis nach politischer Beteiligung – auch hier ohne Bevormundung.

Als Geschäftsführerin der luxemburgischen NGO „Activité Solidarité Tiers Monde“ hatte ich die Gelegenheit, in EU finanzierten Projekten und von dem luxemburgischen Außenministerium im globalen Süden die Basisarbeit mit Initiativen kennenzulernen. Unser Ziel war es, Ressourcen im Süden zu stärken, zum Beispiel über institutionelles Capacity Buildung und Sensibilisierungsarbeit. Diese Erfahrung nah an den Menschen war sehr lehrreich und befriedigend, da es mir immer ein Anliegen war, Menschen zu helfen, sich selbst zu helfen.

Seit meinem beruflichen Engagement von 2006 bis 2016 vor meinem Umzug nach Berlin in der NGO „Ramesch“ wirke ich vor allem zur interkulturellen Öffnung des Themas Migration. Unser Schwerpunkt bei Ramesch war es, in verschiedensten Formaten wie Fortbildungsseminaren, Dialogforen, Veranstaltungsreihen etc. in der Gesellschaft dafür zu sensibilisieren, dass Migrantinnen keine homogene Gruppe sind, sondern als Individuen zu betrachten sind und Menschen nicht durch die kulturelle Brille betrachtet werden sollten.

Deswegen muss im Mittelpunkt Aufklärung stehen, um Akzeptanz und Integration von Menschen unterschiedlicher Herkunft, Religion und Kultur auf der Basis der Gleichwertigkeit aller Menschen sowie des friedlichen und gleichberechtigten Miteinanders in unserer Gesellschaft zu fördern, wobei der Mensch immer im Mittelpunkt stehen soll und nicht eine Kultur oder eine Religion.

Die Annahme, dass Kulturen und Religionen homogen sind, ist ein Fehler. Wenn wir genauer hinschauen, ist jede Kultur vielfältig und heterogen. Nur durch den Austausch und die Begegnung können wir Ängste abbauen, Neugier und Interesse wecken und folglich diese Diversität der Kulturen als Bereicherung und Chance für unsere hiesige Gesellschaft sehen.

Wir arbeiteten hier über verschiedene thematische Zugänge wie Sport, Heimat, Religion und Teilhabe und unterstützten zum Beispiel aktiv das Landesinstitut für Medien und Pädagogik des Saarlandes bei seiner Sensibilisierungs- und Aufklärungsarbeit.

Seit gut einem Jahr sind Sie nun Projektleiterin bei DaMigra, dem deutschen Dachverband der MigrantInnenorganisationen, was hat Sie an dieser Aufgabe besonders gereizt?

Aus familiären Gründen wechselte ich nach Berlin. Bei DaMigra komme ich mit der Arbeit zur gerechten gesellschaftspolitischen Partizipation von Frauen zurück zu den Ursprüngen meines gesellschaftspolitischen Engagements.

Das Engagement mit, zu und für Migrantinnen und geflüchtete Frauen ist in Deutschland nicht organisiert. Auch auf europäischer Ebene bestehen hier Missstände, so ist unsere Zielgruppe in der Istanbul-Konvention, dem Übereinkommen des Europarates zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (2011), nicht repräsentiert. 

DaMigra hat über 72 Mitgliedsorganisationen, gemäß unserer Satzung ist DaMigra parteipolitisch, weltanschaulich und konfessionell ungebunden und bekennt sich zu den Grundsätzen der Demokratie. Er vertritt die gemeinsamen Interessen seiner Mitgliedsvereine und Gruppen in der Öffentlichkeit, um den Belangen der Migrantinnen in der Bundesrepublik Deutschland Gewicht zu verleihen und sie durchzusetzen.

DaMigra wendet sich gegen Rassismus, Sexismus, Ausgrenzung und Diskriminierung jeglicher Art - sowohl nach außen als auch nach innen. Der Verband setzt sich ein für einen sensiblen Umgang mit Vielfalt und einen respektvollen Umgang mit Unterschieden. Er tritt ein für die Verbesserung der Stellung der Migrantinnen in Familie, Beruf und Arbeitswelt, Politik und Gesellschaft.

Zweck des Verbandes ist die Stärkung der Chancengerechtigkeit, Gleichberechtigung und Gleichstellung von Migrantinnen im sozialen, politischen und gesellschaftlichen Leben. Hier begegnen uns auch viele Widerstände. Im Vordergrund stehen die Frauen- und Menschenrechte. Mit seiner Positionierung in der Intersektionalität ist DaMigra einzigartig in Deutschland.

Als Deutschmarokkanerin setzen Sie sich auch aktiv für die soziale und gesellschaftliche Entwicklung Ihres Herkunftslandes Marokko ein. Wie kam es zu diesem Engagement?

Ich habe 2009 das „Deutsch-Marokkanische Kompetenznetzwerk DMK“ gemeinsam mit anderen Akademikerinnen und Akademikern sowie engagierten Deutschmarokkanerinnen und Deutschmarokkanern gegründet und dieses als stellvertretende Vorsitzende bis 2011 und von 2011 bis 2014 als Vorsitzende entwickelt.

Wir waren und sind dabei von dem Wunsch getrieben, Marokkanerinnen und Marokkanern in benachteiligten Gebieten in Marokko über regelmäßigen Austausch an unserem Wissen, unseren Netzwerken und unseren meist in Deutschland erworbenen Fähigkeiten teilhaben zu lassen. Seit 2014 bin ich Ehrenvorsitzende und kümmere mich aktiv um unser Themenfeld Integration und Migration. Auch bei dieser Arbeit steht für mich im Vordergrund, dass Mädchen und Frauen den gleichen Platz in der Gesellschaft einnehmen wie Jungen und Männer - sei es in Deutschland oder in Marokko.

Frau Moket, Ihr gesellschaftspolitisches Engagement in Deutschland ist herausragend, was ja mit der Verleihung des Bundesverdienstkreuzes auch öffentlich anerkannt wurde. Würden Sie sich als in die deutsche Gesellschaft integrierte Deutschmarokkanerin bezeichnen? Und halten Sie Ihre Integration für außergewöhnlich für eine Deutschmarokkanerin?

Ich bin hier zu Hause, fühle mich in der deutschen Kultur zu Hause – wie auch in der marokkanischen, der ich mich nach wie vor sehr verbunden fühle. Ich bin nichts Besonderes – wie mich gibt es ca. 160.000 bis 180.000 Marokkanerinnen und Marokkaner in Deutschland, von denen 95 % Deutsche mit marokkanischen Wurzeln sind oder Marokkanerinnen und Marokkaner mit deutschem Pass oder eben „Marokkanerinnen und Marokkaner der Welt“.

Die allermeisten sind hier beruflich und sozial integriert und identifizieren sich mit der deutschen Gesellschaft. Diese Gruppe macht allerdings gerade mal 1 % der Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland aus und ist daher nicht sehr sichtbar. Mit dem DMK arbeiten wir momentan an einem Porträtband zu Marokkanerinnen und Marokkanern in Deutschland, um die Diversität dieser Gemeinschaft sichtbarer zu machen.

Wie kommt es aus Ihrer Sicht dazu, dass nach langer Unsichtbarkeit der marokkanischen Gemeinschaft in Deutschland nun das Bild von Köln die Medien dominiert, das des gewaltbereiten, nicht integrierten jungen männlichen Marokkaners? Worin sehen Sie die Herausforderungen für die Integration vor allem der neu ankommenden Marokkanerinnen und Marokkaner in Deutschland?

Die deutsch-marokkanische Gemeinschaft ist außerordentlich vielfältig, mit vielen in die deutsche Gesellschaft integrierten Mädchen, Jungen, Frauen und Männern, die mit ihren verschiedenen Berufen, Tätigkeiten und gesellschaftspolitischen Engagements das kulturelle und gesellschaftspolitische Leben in Deutschland bereichern.

Aber gerade neu ankommende junge Marokkaner aus bestimmten sozialen Milieus haben oft Schwierigkeiten bei der Integration, unter anderem aufgrund ihres Aufenthaltsstatus: Sie werden im Land ihrer Träume vom ersten Tag an „illegalisiert“ und perspektivlos. Sie werden nie einen Aufenthaltstitel, eine Arbeitserlaubnis, einen Sozialversicherungsausweis oder eine Krankenversicherungskarte besitzen.

Ihre Perspektivlosigkeit ist gesellschaftlich gemacht, weil wir in Deutschland für „illegalisierte“ Zuwanderer keine Möglichkeit geschaffen haben, ihren Aufenthaltsstatus zu legalisieren. Andere Gründe sind unter anderem fehlende Werte, die Kindern mit schwierigen Biographien wie zum Beispiel „Straßenkindern“ nicht vermittelt wurden.  Wichtig ist, hier zu erkennen, dass ein monokausaler Erklärungsversuch auf Basis eines kulturalistischen Konzeptes nur falsch, diskriminierend und rassistisch sein kann.

Was können wir tun, um diese Marokkanerinnen und Marokkaner besser zu integrieren?

Es geht nicht um sie, sondern wir brauchen jetzt mehr denn je eine ehrliche, offene Diskussion in Deutschland über Migration, Flucht und Integration, die nicht aus politischen Zwecken von „Rechten“ instrumentalisiert wird. Meine Hoffnung ist, dass demokratische Parteien eine zeitgemäße Einwanderungs- und Integrationspolitik etablieren.

Sie müssen in der Öffentlichkeit deutlich machen, dass die Politik der „Rechten“ eine Politik der Angst, der Unfähigkeit, der Ungerechtigkeit und der Unverantwortlichkeit ist und sich davon differenzieren und den Menschen Perspektiven anbieten. Ein reiches Land wie Deutschland darf nicht zulassen, dass durch ungerechte Ressourcenumverteilung weitere soziale Probleme entstehen.

Außerdem brauchen wir eine ehrliche Diskussion, was den Zusammenhang zwischen hiesiger Rüstungsindustrie und Konflikten weltweit betrifft und nicht zuletzt über die Verantwortung einer fairen, globalen Handels- und Wirtschaftspolitik, damit Migration eine freiwillige persönliche Wahl wird und nicht eine alternativlose Entscheidung bleibt, weil Menschen aus ihren Ländern fliehen müssen. Dass im 21. Jahrhundert mehr als 65 Millionen Menschen auf der Flucht sind, ist nicht akzeptabel.

Liebe Frau Moket, wir danken Ihnen für dieses Gespräch!