"Wir haben gelernt, angenommen zu sein" - Gedanken zu #metwo

Kommentar

Unter #MeTwo berichten tausende Menschen von ihren Erfahrungen mit Rassismus. Der Aufruf steht in der Tradition anderer Debatten, die Rassismus im deutschsprachigen Raum sichtbar machen. Tayo Awosusi-Onutor berichtet von diesen Kämpfen: Was wurde bereits erreicht, was muss sich dringend ändern?

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Tayo Awosusi-Onutor im Oktober 2018 auf einem Podium zum Thema #metwo

Die #MeTwo Debatte ist hoffnungsvoll und erschreckend zugleich. Nach sehr vielen Antworten auf die Frage nach Herkunft („Woher kommst du?“), Abfahrtszeiten („Wann gehst du wieder zurück?“) und Reisequalität („Wie gefällt es dir hier?“) wird nun anscheinend endlich über den Alltagsrassismus, von dem tausende Menschen in Deutschland betroffen sind, öffentlich gesprochen.

Was machst du gerade?

Der Cursor blinkt und wartet vergeblich auf meine Eingabe in den Status der Social-Media-Plattform. Doch wo soll ich beginnen?

Es gibt so viele Geschichten, Erfahrungen, Situationen, die ich zu diesem Thema beitragen könnte. Jahrzehnte lang war ich diplomatisch, schlau, gebildet,  multilingual, erfahren, Sintezza, Schwarz, Deutsch, Baden-Württembergerin, Kosmopolitin, Berlinerin, sichtbar und doch unsichtbar.

Ich, und wir, haben gelernt, dazuzugehören, schlaue Antworten auf unverschämte Fragen zu geben. Wir haben gelernt, unsere Stärken einzusetzen und mindestens doppelt so gut zu sein wie die anderen, wie es uns unsere Eltern immer wieder gesagt haben. Wir haben gelernt, ein so gutes Deutsch zu sprechen, dass wir dafür anscheinend gelobt werden müssen. Wir haben gelernt, wann wir in Dialekten sprechen, um drohenden Rassismus zu umgehen. Wir haben gelernt, taub zu spielen, wenn rassistische Fremdbezeichnungen auf der Straße genannt werden, damit unsere Kinder nicht merken, dass wir gerade beleidigt wurden und verletzt sind.

Wir haben gelernt, angenommen zu sein in Momenten, in denen wir es nicht sind.

Wir wissen, wann wir leise lachen sollten und nehmen uns die Räume, um miteinander laut zu lachen. Wir sind nicht beleidigt, wenn wir ein Familienmitglied anrufen und die Mutter, Tante oder Schwester plötzlich in feinstem „Nachrichtensprecherinnendeutsch“ sagt, sie könne gerade nicht sprechen, sie sei bei einem wichtigen Termin. Wir wissen, was es bedeutet, wenn Deutsch gesprochen werden muss, um noch mehr Nachteile zu vermeiden bei einem wichtigen Termin.

Wir wissen, in welche Gegenden wir reisen können und wo wir ohne Grund kontrolliert werden in Bussen und Bahnen und auf der Straße.

Wir wissen, wann wir Dinge sagen wie „Na, da kiekste wa?“ Oder „Heut isch des Wetter arg u’a’g’nehm.“ Unser Gegenüber vergisst in diesen Momenten der multi-sprachlichen Expertise fast unsere sehr schönen, dunklen Haare, Augen, Teint und erklärt uns, wie froh sie/er ist, weil das Kind nun doch nicht auf die Schule mit den vielen Schülern mit Migrationshintergrund gekommen ist.

Für die meisten Sinti*zza und Rom*nja ist es tatsächlich so, dass sie außerhalb der Familie sehr selten von ihrer Zugehörigkeit sprechen. Die Nachteile, die den Menschen drohen, sind einfach zu hoch, so dass viele entscheiden, sich nicht zu „outen“.

Sei es am Arbeitsplatz, Schule, Uni, Nachbarschaft oder im Sportverein. Als Sinti*zza oder Rom*nja mit der eigenen Identität rauszugehen ist tatsächlich sehr problematisch. Daher verschweigen viele Sinti*zza und Rom*nja ihre Identität. Sie sind dann einfach Serb*innen, Spanier*innen oder Deutsche mit eventuell dunklerem Haar.

Daher finden wir auch unter dem Hashtag #MeTwo sehr wenige Einträge, in denen Sinti*zza oder Rom*nja von ihren Erfahrungen mit Alltagsrassismus berichten. Natürlich nicht, weil Sinti*zza und Rom*nja keinen Alltagsrassismus erleben, ganz im Gegenteil. Durch die Studie zur aktuellen Bildungssituation deutscher Sinti und Roma [1]wissen wir beispielsweise, dass 80 Prozent der Befragten Sinti*zza und Rom*nja ganz klar von rassistischen Erfahrungen in Schule, Uni und Arbeitsplatz sprechen.

Doch ein öffentlicher Post unter einem Hashtag bedeutet in diesem Fall nicht nur ein Mitteilen von Erfahrungen, sondern auch ein Outing. Ein Outing, dass jederzeit abrufbar ist - für jede*n. Allein bei der Antwort: „Ich bin Sintezza“ oder „Ich bin Rom“ blickt man oft in fragende Gesichter und ganz schnell befinden wir uns im Erklärkarusell. „Sintizza? Was ist das?“ „Na, Sinti und Roma“. „Ach so, aus Rumänien?“ „Nein, nicht aus Rumänien. Kennst du nicht Sinti und Roma?“ Direkt über uns hängt die rassistische Fremdbezeichnung wie eine fette Gewitterwolke, die nur darauf wartet, literweise angesammelten Regen auf uns plätschern zu lassen. Jahrhundertlang angesammelter Regen voller Rassismen, Vorurteilen, Klischees. Ich entscheide mich dafür im Trockenen zu bleiben und die Gewitterwolke nicht platzen zu lassen.

„Sinti und Roma sind eine Gruppe, die vor ca. 1000 Jahren aus Indien nach Europa migrierten. Meine Familie ist schon seit Jahrhunderten in Deutschland und wir sind Deutsche. Es gibt aber auch Rom*nja und Sinti*zzi in anderen Ländern“ „Aha, ist ja interessant. Hab ich noch nie gehört.“ „Siehste, wieder was gelernt“.

Die Tatsache, dass viele Menschen in Deutschland den Begriff Sinti und Roma nicht kennen (von Singular und Pluralbildung ganz zu schweigen), beziehungsweise den rassistischen Fremdbegriff nutzen, ist Teil des Rassismus gegen Sinti*zza und Rom*nja. In den Schulen wird über die Geschichte der Rom*nja, die auch Teil deutscher Geschichte ist, meist nichts erwähnt. Allerdings wird der rassistische Fremdbegriff auch heute noch auf Schulhöfen als Schimpfwort benutzt. Diesen Begriff kennen die meisten Menschen. Denn er ist genauso verbreitet wie diverse Saucen und Gewürzmischungen, die in wirklich jedem deutschen Supermarkt zu finden sind.

Wenn wir bedenken, dass den Menschen vor gerade mal etwas mehr als 70 Jahren während des Nationalsozialismus in den Konzentrationslagern ein „Z“ und die Häftlingsnummer in den Unterarm eintätowiert wurde, wird die Vulgarität der genannten Saucen und Gewürzmischungen sehr deutlich.

Mich erreichte ein anonymer Bericht einer deutschen Sintezza, die unter anderem schreibt: „Nach jahrelanger Wohnungssuche war ich wieder bei einem Termin bei meiner zuständigen Wohnungsbaugesellschaft, in der Hoffnung endlich eine größere Wohnung für meine Familie und mich zu bekommen. In unserer Stadt ist es bekannt, dass Sinti nur in bestimmten Stadtteilen und Gegenden Wohnraum bekommen. Die Sachbearbeiterin gab wie immer meinen Namen in den Computer ein, um meine Daten aufzurufen. Sie musste dann kurz den Raum verlassen und ich konnte einen Blick auf den Bildschirm wagen. Was ich dort sah, ließ meinen Atem stocken. In der Ergebnisliste waren mehrere Nachnamen, darunter auch meiner und der einiger Verwandter, mit einem „Z“ gekennzeichnet. Ich wusste, die ganze Zeit weshalb ich keine Wohnung fand und nun sah ich es als Bestätigung auf dem Bildschirm.“

Seit 2014 wurden Serbien, Mazedonien und Bosnien-Herzegowina zu sicheren Herkunftsländern erklärt. Somit können Rom*nja, die selbst oder deren Eltern aus diesen Ländern migrierten, problemlos abgeschoben werden. In diesen Ländern ist es allerdings für diese Menschen alles andere als sicher. Oftmals haben sie keinen Zugang zu Wohnung, Schule und Arbeit. Teilweise werden ihre Häuser angezündet und sie leben unter menschenunwürdigen Umständen.

Die Bleiberechtskämpfe der Rom*nja und deren Unterstützer*innen aus den 80er und 90er Jahren sind daher auch heute noch immer aktuell.

Über 10.000 Menschen sollen sich an der #MeTwo Debatte beteiligt haben. Ein Bruchteil derer, die von Rassismus betroffen sind — und trotzdem ein Zeichen, ein Sichtbarmachen vor allem für den privilegierten Teil der Gesellschaft. Auch wenn #MeTwo nur einen oberflächlichen Blick auf das strukturelle Problem (Alltags-)Rassimus gewährt, sehe ich hier eine Möglichkeit des Sichtbarmachens und Lernens. In dieser Debatte dürfen wir aber auch weitere Diskriminierungsformen wie zum Beispiel Sexismus und Ableismus nicht außer Acht lassen.

Die neue Generation der Online-Aktivist*innen kann vieles von den erfahrenen Aktivist*innen lernen. Viele Kämpfe und Bürger*innenrechtsbewegungen bestehen schon seit langem, vieles wurde schon erreicht und vieles muss noch erreicht werden. Wir sollten die bereits geleistete Arbeit wertschätzen und daraus lernen. Die neuen Online-Aktivist*innen können mit ihrer unvoreingenommen Motivation helfen, Ungerechtigkeiten sichtbar zu machen und somit den Kampf für Menschenrechte weiter vorantreiben.

Vor kurzem gingen über 240.000 Menschen in Berlin auf die Straße und demonstrierten unter dem Hashtag #unteilbar. Nachdem sich der Rechtsruck in der deutschen Gesellschaft die letzten Jahre recht ungestört ausgebreitet hat, setzte diese Demonstration nun endlich ein Zeichen! Deutschland steht auf für Solidarität und gegen Ausgrenzung. Trotz allem: Es gibt Hoffnung!