Deutschland hat kein Problem mit Migration, Deutschland hat ein Problem damit, wie es Migration erzählt. Anders Historiker Jan Plamper. Er gibt Migrierten in der deutschen Geschichtsschreibung eine Stimme und eröffnet so neue Perspektiven in der Migrationsdebatte. Ein Kommentar.
Neulich nahm ich Hans-Ulrich Wehlers Deutsche Gesellschaftsgeschichte wieder zur Hand, und zwar den 2008 erschienenen Abschlussband zu Bundesrepublik und DDR. Ich hatte Wehler vor Jahren gelesen, konnte mich aber nicht erinnern, was er zu Migration schreibt. Die Passagen machten mich fassungslos:
„Da [die Gastarbeiter] fast vollständig aus den verarmten anatolischen Agrargebieten stammten […] zogen sie sich unter dem Eindruck der fremdartigen soziokulturellen Bedingungen ihres Gastlandes in eine eigene Subkultur zurück, die im Gegensatz zu den italienischen […] Gastarbeitern von nachhaltigen Assimilationskräften kaum erreicht wurde. Daher entstanden in westdeutschen Städten wahre Ghettosituationen, in denen auch ein orthodoxer Islam die Identitätsverteidigung unterstützte, später sogar ein Einfallstor für den islamistischen Fundamentalismus bildete.“
Weiter hieß es:
„Hinzu stieß eine rasch wachsende Zahl von Asylbewerbern, die […] faktisch aber meist von Schleuserbanden eingeführte Wirtschaftsflüchtlinge aus dem armen Süden des Globus waren […] verzichtete die Bundesrepublik auf eine strenge Abschiebungspraxis, so dass hunderttausende von abgelehnten Asylbewerbern in den deutschen Städten versickerten.“ (Wehler, S. 41, 43)
Wie bitte? War das der Wehler, der gemeinsam mit seinem Gummersbacher Jugendfreund Jürgen Habermas im Historikerstreit 1986 Ernst Nolte & Co. die Stirn geboten hatte? Das linksliberale Urgestein, das sich bis zu seinem Tod 2014 immer wieder einmischte in die zentralen Debatten der Republik? Okay, ich erinnerte mich dumpf, dass er 2002 einen EU-Beitritt der Türkei abgelehnt hatte – aus historischen, religiösen und politischen Gründen. Und dass mich das damals nicht überzeugt hatte.
Aber dass bei ihm Migration in einer solchen Sprache abgehandelt wurde? „Zogen sie sich in eine eigene Subkultur zurück“ – als seien die Arbeitsmigrierten freiwillig in die ärmsten, heruntergekommenen Viertel der Großstädte gezogen. Einem Wirtschafts- und Sozialhistoriker muss doch bewusst gewesen sein, dass der Wohnungsmarkt alles andere als frei war und dass den Arbeitsmigrierten nichts übrigblieb, als dort zu wohnen, wo sonst niemand wohnen wollte. „Wahre Ghettosituationen“ – als hätten Ghettos Freiwilligencharakter. Den hatten sie bei den Juden weder im Venedig des 16. Jahrhunderts noch in Polen während der NS-Besatzungsherrschaft. „Gastlandes“ – als hätte man sie als „Gäste“ behandelt. Gäste arbeiten nicht. Schon in den 1970er Jahren galt dieser Begriff als politisch inkorrekt, kritisch denkende Menschen sprachen damals von „ausländischen Mitbürgern“ oder zumindest „Ausländern“. Erstaunlich, dass sich ein Historiker, zumal ein linksliberaler, diese Begrifflichkeit ohne Anführungszeichen in den 2000er Jahren zu eigen machte.
„Wirtschaftsflüchtlinge“ – als seien die Ursachen für Migration fein säuberlich zu unterscheiden. Politische, religiöse und ökonomische Push-Faktoren ließen sich schon während der deutschen Massenauswanderung im 19. Jahrhundert schlecht voneinander trennen. Wehler kann nicht entgangen sein, dass „Wirtschaftsflüchtlinge“ ein Kampfbegriff der Rechten ist. „Versickerten“ – als handele es sich bei Geflüchteten um einen flüchtig-materiellen Stoff wie Wasser. Eine solche Metaphorik legt den ersten Baustein, auf den weitere wie „Strom“, „Welle“, „Flut“ und „Schwemme“ geschichtet werden.
Migration marginalisiert
Migration und Migrierte tauchen beim „vielleicht einflussreichste[n] Historiker der Bundesrepublik“ (Stefan Reinecke) insgesamt nur selten und wenn, dann am Rande auf. Da unterscheidet sich die Deutsche Gesellschaftsgeschichte in nichts von den Gesamtdarstellungen zur deutschen Geschichte, etwa jenen von Heinrich-August Winkler (2000) und Eckart Conze (2009). Winkler war das Thema eine von 742, Conze zehn (versprengte) von 1071 Buchseiten wert.
Selbst in der jüngsten Synthese (2014) von Ulrich Herbert, der es besser wissen müsste, weil er Pionierstudien zur Migrationsgeschichte verfasst hat, wird das Thema in den 1451 Buchseiten als top-down Politikgeschichte gesondert behandelt in Unterkapiteln wie „Von der Ausländerdebatte zur Asylkampagne“ und „Asylpolitik und multikulturelle Gesellschaft“. Von handelnden migrierten Menschen erfährt man wenig. Zwar mehr als bei Wehler, Winkler und Conze, doch ist es kein Versuch, Migration als Analyseachse und Migrierte als vollwertige, eigenmächtige, mitunter widersprüchliche historische Subjekte durchgängig mitzudenken.
Es gibt sie nicht, die allgemeine Geschichte Deutschlands, in die Migrierte eingeschrieben wären mit Migration/Mobilität als eigener Kategorie – so wie Wirtschaft, Politik, Gesellschaft, ja Geschlecht. Es gibt nichts Vergleichbares zu Büchern wie Ronald Takaki, A Different Mirror. A History of Multicultural America (1993) oder Robert Winder, Bloody Foreigners. The Story of Immigration to Britain (2004). In diesen werden die Ereignisse und Prozesse der amerikanischen beziehungsweise britischen Geschichte aus Migrationsperspektive erzählt.
Konrad Jarausch und Michael Geyer, zwei in den USA lehrende deutsche Historiker, kritisierten schon 2003, dass Migration „nicht hinreichend in die nationalen Erzählungen einbezogen wurde“. Das „hat ein täuschendes geschichtliches Bewusstsein entstehen lassen, das ‚deutsch‘ als eine feststehende ethnische Bestimmung versteht“. (Jarausch/Geyer, S. 227-228) Das spiegelt sich auch in den Bildungsinstitutionen wider: „allgemeine Geschichte“ an deutschen Universitäten meint immer noch unhinterfragt deutsche Geschichte, französische Geschichte führt „westeuropäisch“ in der Lehrstuhldesignation, der riesige, vielgestaltige Raum von der Elbe bis zur Beringstraße wird als „osteuropäische Geschichte“ gebündelt, und der Rest ist „außereuropäische Geschichte“. An angloamerikanischen History Departments ist die Nationalgeschichte nicht die Grundeinstellung, sondern eine unter vielen Weltregionen.
Warum wird Migrationsgeschichte so selten erzählt? Und wo sind die Menschen?
Was es gibt, ist die sozialwissenschaftliche Migrationsgeschichte. Es gibt die Wissenserträge des 1991 von Klaus J. Bade gegründeten Osnabrücker Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS). Bade und seinen Nachfolgern Jochen Oltmer, Christoph Rass und anderen gehört ein Denkmal gesetzt. Sie haben sich durch Grundlagenforschung hervorgetan, elementare Daten zusammengetragen und überhaupt das Gerüst für die Geschichte des deutschsprachigen „homo migrans“ (Bade) geschaffen. Außerdem haben sie sich in der Politikberatung engagiert, etwa im Rat für Migration, und ab und zu auch breitenwirksam veröffentlicht, etwa Jochen Oltmer und Nikolaus Barbian das Kinderbuch Ein Blick in die deutsche Geschichte. Vom Ein- und Auswandern (2016).
Die meisten ihrer Publikationen sind jedoch, wie soll ich sagen, eingeschränkt benutzerfreundlich: Es kommen kaum historische Akteure darin vor, kaum individuelle Schicksale. Weder können Leute, die vor kurzem zugewandert sind, ihre eigene Migrationserfahrung in den Schicksalen konkreter Personen wiedererkennen und sich mit diesen identifizieren. Noch können die, die sich für „biodeutsch“ oder „wurzeldeutsch“ halten mögen, deren Migration jedoch lediglich weiter in der (Familien)Biographie zurückliegt, Empathie entwickeln für reelle historische Akteure. Stattdessen wimmelt es von Zahlen und Gesetzen – quantifizierende Sozialgeschichte und Rechtsgeschichte.
Das IMIS hat zwar auch engagierte Geschichte geschrieben, aber gewissermaßen mit angezogener Handbremse. Man verkniff sich den Griff in den Werkzeugkasten der erzählenden Geschichte. Warum eigentlich? Wahrscheinlich, weil sich die Osnabrücker immunisieren mussten gegen den Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit durch konservative Fachkollegen, die ihrem Projekt ohnehin skeptisch gegenüber standen.
Migrationsdebatte heute
In der öffentlichen Migrationsdebatte, so wie sie sich seit der sogenannten Flüchtlingskrise 2015 entwickelt hat, wirkt die historische Perspektive erfrischend und enthysterisierend zugleich.
Zunächst einmal erinnert uns der Blick in die Geschichte, dass vieles an Ausgrenzung, Befremdung, phantasmatischer Überproduktion – Migrierte als Seuchenherde, als sexuelle Gefahr (Vergewaltiger) usw. – zutiefst menschlich zu sein scheint, leider. Deutsche Migrierte haben in der Geschichte Ähnliches durchgemacht. Arbeitsmigranten, Experten für Bergbau, waren von Anfang an, also kurz nach Columbus 1492, beteiligt an der Überseeemigration. Später änderten sich sowohl die Motive für die Migration als auch die Migrationsgruppen: religiöse, protestantische Minderheiten und all jene, die antimonarchisch eingestellt waren, Armut und Hunger kamen hinzu, wenn sie sich von Amerika eine ökonomische Verbesserung versprachen.
Im frühen 18. Jahrhundert stauten sich die Auswandernden vor der Transatlantikpassage in London, weil sie von „Agenten“, den damaligen Schleppern, betrogen worden waren. Sobald alle Herbergen voll waren, mussten sie in Zeltstädten im Schlamm hausen, die Stadtbevölkerung kam und begaffte sie, wunderte sich über die merkwürdige Sprache, die sie sprachen, und dichtete ihnen Krankheiten an. Immer wieder fiel der Mob über sie her – einmal waren 2000 englische Männer an einem Angriff beteiligt. Aus wirtschaftlicher Verzweiflung verkauften manche ihre Kinder als Haushaltshilfen an englische Familien.
Vor dem Ersten Weltkrieg imaginierten sich immer mehr Nationen als homogen, damit wuchs die Nervosität über Bindestrichzugehörigkeiten. Als der Krieg begann, kam es in den USA zu Lynchmorden, im Russischen Zarenreich, dem anderen großen Ziel der Massenauswanderung des 19. Jahrhunderts, zu Pogromen mit Toten. Übrigens waren auch diese Deutschen dem Einladungsmanifest der Zarin Katharina II. (Großen) von 1763 aus gemischt wirtschaftlich-religiös-politischen Gründen gefolgt. Die Volkszählung von 1897 kam auf 1,8 Millionen Deutsche im Zarenreich. In die USA wanderten im 19. Jahrhundert fast 6 Millionen Deutsche aus.
Zweitens erinnert uns die historische Perspektive daran, dass Migration als Erfolg, und zwar in Etappen, ebenso typisch ist. Trotz riesiger Hindernisse und Widerstände haben es die meisten „Gastarbeiter*innen“, Spätaussiedler*innen, jüdischen Kontingentflüchtlinge geschafft, sind heute angekommen. Ja, es lässt sich sogar das Abteil-Phänomen beobachten: gegenüber Geflüchteten aus Syrien sind manche besonders kritisch, so wie die jeweils zuletzt zugestiegene Person im Zugabteil beim nächsten Halt unwirsch den Rucksack vom verbliebenen freien Sitz räumt – nachdem ihr beim eigenen Betreten des Abteils Ähnliches widerfahren ist.
Drittens ist eine erzählende, akteurszentrierte Migrationsgeschichte selbstermächtigend für Migrierte und empathiefördernd für all jene, die schon länger da sind. Migrierte können sich wiederfinden in den persönlichen Schicksalen, abgleichen und wissen, dass sie nicht allein waren, ihren Erfahrungen Sinn und Struktur verleihen – Empowerment eben. Jene, deren Migration länger zurückliegt (etwa als Hugenotten im 17., Ruhrpolen im ausgehenden 19. oder Vertriebene aus den deutschen Ostgebieten im 20. Jahrhundert), können Empathie mit Migrierten entwickeln.
Viertens lehrt der Blick in die Geschichte, wie schnell ein Einwanderungsland zum Auswanderungsland werden kann. Ein deutscher Pass, der heute ein Privileg ist und einfachere Reisemöglichkeiten bietet im Vergleich zu einem Pass fast aller anderen Länder, kann schon morgen zur Last werden. Wenn man sich vor Augen führt, dass die eigenen Vorfahren auch einmal über Grenzen gekommen sind und man selbst oder die Nachfahren höchstwahrscheinlich noch einmal werden wandern müssen, benimmt man sich vielleicht etwas anständiger gegenüber denen, die vor kurzem zugewandert sind.
Fünftens schließlich macht die historische Perspektive bewusst, wie sehr sich soziale Wirklichkeit ändern kann. Die zeitliche Dimension führt vor Augen, wie gemacht unsere Gegenwart ist. Dadurch wird ein Zukunftshorizont eröffnet, Wirklichkeiten jenseits des Hier und Jetzt werden denkmöglich. So wie der Ausschluss der Frauen von allgemeinen Wahlen in Europa heute der Vergangenheit angehört, so könnten auch nationale Grenzen einmal wie Relikte eine untergegangenen Epoche wirken. Die Zukunft ist: grenzenlos.
Jan Plamper ist Professor für Geschichte und lehrt am Goldsmiths College in London.
Literatur
Eckart Conze, Die Suche nach Sicherheit. Eine Geschichte der Bundesrepublik von 1949 bis in die Gegenwart, München 2009.
Ulrich Herbert, Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert, München 2014.
Konrad Jarausch/Michael Geyer, Zerbrochene Spiegel. Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert, München 2005 (engl. Orig. 2003).
Jochen Oltmer/Nikolaus Barbian, Ein Blick in die deutsche Geschichte. Vom Ein- und Auswandern, Berlin 2016.
Stefan Reinecke, Mit eisernem Besteck. Nachruf auf Hans-Ulrich Wehler, taz, 7.7.2014.
Ronald Takaki, A Different Mirror. A History of Multicultural America, Boston 1993.
Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bundesrepublik und DDR, 1949-1990, Bd. 5, München 1990.
Robert Winder, Bloody Foreigners. The Story of Immigration to Britain, London 2004.
Heinrich-August Winkler, Der lange Weg nach Westen. Deutsche Geschichte vom „Dritten Reich“ bis zur Wiedervereinigung, Bd. 2, München 2000.