„2015 darf sich nicht wiederholen“: Das ist der Satz

Feministischer Zwischenruf

Nur fünf Wörter erklären, warum die Bundesregierung zu einer politischen Fehleinschätzung bei Afghanistan kam, eine Fehleinschätzung, die jeden Tag Menschen tötet und die Demokratie weltweit auch, by the way.

Klimakatastrophe in der Außenpolitik. Außenminister Heiko Maas tritt am 16. August vor die Presse und gesteht Tatsachen ein: Die Bundesregierung, alle Nachrichtendienste, ebenso wie das von ihm geleitete Auswärtige Amt, haben die Lage falsch eingeschätzt. Sie hatten nicht gedacht, dass die Taliban Kabul so schnell einnehmen würden. „Es gibt da nichts zu beschönigen“, fasst er zusammen.

Doch Expert*innen in und außerhalb Afghanistans warnen seit langem vor dem erneuten Sieg der Taliban. Spätestens seit dem angekündigten Truppenabzug der USA wissen NGOs und andere Arbeitgeber*innen in Deutschland von ihren Partner*innen vor Ort, dass selbst die Erfahrensten unter ihnen nicht mehr damit rechnen, weiter arbeiten zu können. Sie fürchten um ihr Leben. Vor diesem Hintergrund hatten die Grünen Ende Juni im Bundestag einen Antrag gestellt, dass sogenannte Ortskräfte, „die für deutsche Behörden und Organisationen arbeiten oder gearbeitet haben“ nach Deutschland ausreisen dürfen. Die Bundesregierung lehnte ab, denn: 2015 darf sich nicht wiederholen. Das ist die politische Raison, die das Denken und Handeln von Politiker*innen mit Entscheidungsmacht beherrscht, die alles Wissen vernichtet, dass an Behörden und Ministerien herangetragen wurde und die Menschen tötet.

Was also ist 2015 passiert?

Die Bundesregierung hatte damals die Warnungen von Expert*innen ignoriert, dass im Libanon eine Hungersnot unter den dort gestrandeten Menschen aus Syrien ausbrechen werde, weshalb sich absehbar Hunderttausende über tödliche Mittelmeerrouten und danach weiter zu Fuß auf den Weg nach Deutschland machen würden. Ähnlich verzweifelt sind jetzt die Menschen in Afghanistan, die sich an Flugzeuge klammern und abstürzen. Wieder ließen sich die Entscheider*innen überrumpeln. Sie hatten weder damit gerechnet, dass es Überlebende in bemerkenswerter Zahl geben würde, noch, dass Teile der hiesigen Zivilgesellschaft diesen einen klatschenden Empfang bereiten würden. Aus ihrer Ignoranz gerissen, mussten sie „plötzlich“ handeln und Angela Merkel entschied, die Grenzen nicht zu schließen. Denn, so ihre Begründung, von den Geflüchteten ginge keine Gefahr aus und ein reiches Land wie Deutschland hätte auch eine Verantwortung. „Wir schaffen das“, sagte sie.

Schon 2015 war das von Merkel behauptete „Wir“ zwiespältig. Alle, die die Ärmel hochgekrempelt hatten, um die ankommenden Menschen mit dem Nötigsten zu versorgen, wurden von den zuständigen Behörden hart und systematisch ausgebremst. In Berlin mussten sich Überlebende wochenlang bei großer Hitze vor der Landesgesundheitsbehörde (Lageso) anstellen. Es gab weder Wartenummern noch Wasser. Erst als Kinder ohnmächtig umkippten und Anwohner*innen entsetzt Getränke und Essen organisierten, begann das Amt zögerlich, sich der Wartenden anzunehmen. Die sogenannte Flüchtlingskrise war tatsächlich eine Krise dysfunktionaler Ämter. Es gab kein großes „Wir“.

Geschichten, die erzählt werden müssen

Wie viele andere war auch ich damals tagelang am Lageso, habe endlos mit dem Amt telefoniert und mich Stunde um Stunde angestellt, um Termine für Überlebende aus Syrien zu ergattern. Unter anderem für eine kleine Familie, deren Vater in Homs von einem Heckenschützen per Kopfschuss verletzt worden war und aufgrund seiner Verletzung heute schwerstbehindert ist. Nur weil eine Gruppe Berliner*innen sich spontan zusammenfand und dann stoisch entschied, diese Familie nicht im Stich zu lassen, konnte sie ihr Recht auf den ihr zustehenden Flüchtlingsstatus einklagen. Letzte Woche stand die älteste Tochter Emissa stolz mit riesiger Schultüte vor ihrer neuen Schule. Sie spricht heute fließend Arabisch, Deutsch und Englisch; Bildung wird in dieser Familie ernst genommen. Die Eltern indessen arbeiten für zwei große internationale Hilfsorganisationen. Ämter vermeiden sie. Sie mussten dort weitere schlimme Erfahrungen machen.

Solche Geschichten gibt es viele, denn das ist, was 2015 passiert ist: Entgegen der Vorstellung der Mehrheit der Bundesregierung und vieler Verantwortlicher in den Behörden wurde den Menschen in Not aus der Zivilgesellschaft heraus geholfen und so Politik von unten gemacht. Genützt hat das vor allem denen, die aus Syrien kamen. Das Innenministerium hatte damals schon verfügt, dass Afghanistan ein sicheres Land sei, daher die Geflüchteten von dort kein Recht hätten, in Deutschland zu bleiben. Horst Seehofer brüstete sich drei Jahre später damit, dass er 69 Afghanen zu seinem 69. Geburtstag abgeschoben habe. Er musste nicht zurücktreten. Die ganz normale Barbarei hatte wieder die Oberhand in Deutschland gewonnen und sie regiert seitdem.

Zärtliche Bürger*innenschaft

Doch nur so lief es eben wieder nicht. Erneut ging die Rechnung nicht auf, dass man damit einfach durchkommen würde. Wieder drangen Bilder durch, von der unvorstellbaren Not der Menschen, diesmal in Afghanistan. Einzelne Journalist*innen stellen unbequeme Fragen und durch Social Media pumpt seit Tagen eine Welle der Empathie. Der Künstler Philipp Ruch vom „Zentrum für politische Schönheit“, das auf eigene Faust ein Safe House in Kabul finanziert hatte, nennt das eine „Detonation des Mitgefühls“.

Viele NGOs arbeiten nun Tag und Nacht, um zumindest ihre Partner*innen aus dem Land holen zu können: Ausgang ungewiss. Der Außenminister hat weitere Evakuierungsflüge zugesagt. Doch wie kommen die Verbündeten an den Taliban-Checkpoints vorbei zum Flughafen? Einige, hoffentlich Zigtausende, werden es trotz des historischen Versagens der Bundesregierung nach Deutschland schaffen. Dann, erst dann, wird der menschenverachtende Satz „2015 darf sich nicht wiederholen“ an Gültigkeit gewinnen können.

Die Behörden in den Städten und Ländern werden dann nämlich wieder vor der Aufgabe stehen, Menschenrechte im Innern zu verteidigen, also umzusetzen, und die ankommenden Menschen diesmal anständig zu behandeln. Sie können aus ihren Fehlern lernen und den rund 30.000, bereits in Deutschland lebenden Afghan*innen endlich mit Respekt begegnen. Auch viele Journalist*innen werden dann eine zweite Chance erhalten. Es wird ja niemand dazu gezwungen, Engagement für neu ankommende Menschen kaputt zu schreiben, um sich bei den Rechten beliebt zu machen, ganz im Gegenteil. Aus 2015ff lässt sich lernen, wie ein kollektiv mitmenschliches Verhalten angemessen einzuordnen ist. Die Soziologin Sabine Hark hat dafür den schönen Begriff „Zärtliche Bürger*innenschaft“ gefunden. Nur eine solche erhält uns als demokratische Gesellschaft aufrecht, denn nur sie gibt ihr die Menschlichkeit zurück. Die Comedian Sarah Bosetti sagt es so: „Die Welt wäre erträglicher, wenn Menschen nicht mehr Macht als Anstand besitzen dürften.Die Verantwortlichen wollen das nicht wahrhaben, doch es liegt längst auf der Hand.