Leseprobe von Molla Demirel

Leseprobe aus dem Beitrag "Vergangenheit und Gegenwart türkischer Literatur- und Sprachwissenschaft in Europa" aus dem Sammelband "Migration – Arbeit – Utopie" von Molla Demirel.

Buchcover "Migration - Arbeit - Utopie"
Teaser Bild Untertitel
Buchcover des Sammelbands "Migration – Arbeit – Utopie", herausgegeben von Molla Demirel

Auszug aus "Vergangenheit und Gegenwart türkischer Literatur- und Sprachwissenschaft in Europa" von Molla Demirel, aus dem Sammelband "Migration – Arbeit – Utopie", herausgegeben von Molla Demirel im August 2021.

Ins Ungewisse

In Richtung des Ungewissen
Schaut euch diese Menschen an, zusammengepfercht
Ihre Koffer in den Händen tragend
ziehen sie los
Sie laufen ins Ungewisse
Über ihren Köpfen
eine schwarze Wolke
So marschieren sie zusammen
seitdem sie sich auf den Weg machten
Menschen voller Hoffnung
Die Wolken indes vom Verrat übersät
Sie wissen doch gar nichts
So wie die schwarze Wolke die Sonne verdeckt
werden auch verdeckt ihre Hoffnung und ihre Zukunft
Wenn ich sie doch aufhalten könnte
diese schwarze Wolke
Wenn ich fernhalten könnte alles Böse
Würden doch leben alle meine Menschen
Mit all der wundersamen Hoffnung
Unter den Lichtstrahlen der nackten Sonne
Würden sie doch leben
Und genug haben von dem Sonnenlicht
Mit all ihrer wundersamen Hoffnung
Meine Menschen

In: Meine Welt zwischen zwei Mühlensteinen (Oberhausen, Ortadoğu Verlag, 1987)

Bevor wir uns mit der Literatur und Kunst der türkischspra¬chigen Migrant*innen in Deutschland und Europa auseinan¬dersetzen können, müssen wir uns als Erstes ihrer Entstehung widmen, um diese richtig einordnen und verstehen zu können.

Als ich 1972 nach Deutschland kam und erfuhr, dass der muttersprachliche Ergänzungsunterricht in den Sprachen Spanisch, Jugoslawisch, Portugiesisch, Griechisch und Italie¬nisch an deutschen Schulen unterrichtet wurde, war ich von dieser Idee sehr begeistert. Darüber hinaus imponierte es mir sehr, dass unterschiedliche zivile und soziale Einrichtungen und Schulen viele fremdsprachliche Sprachkurse in ihr Bil¬dungsprogramm aufgenommen hatten und den Menschen das schöne Angebot unterbreiteten, verschiedenste Fremdspra¬chen zu erlernen.

In der Türkei, wo ich geboren und aufgewachsen bin, war es bestimmten Völkern sogar verboten worden, obwohl sie seit tausenden von Jahren hier lebten, in ihrer Mutterspra¬che untereinander zu kommunizieren. Ich wurde im Kindes¬alter von meinen Lehrer*innen häufiger geschlagen, weil ich Kurdisch gesprochen hatte. Die hinterbliebenen Narben von den Schlägen mit dem Eichenstock erinnern mich noch heute an diese schrecklichen Schmerzen. Türkischen Ein¬wander*innen war es jedoch vorenthalten aus der Sprache, Kunst und Literatur in diesen Ländern in vollem Zuge zu pro¬fitieren. Ich stellte mir stets die folgende Frage: „Wird es uns jemals möglich sein, diese Chance genauso zu ergreifen, wie es die Italiener*innen und Griech*innen konnten? Werden wir das Überleben unserer Sprache hier sicherstellen können? Können wir zudem auch unsere Sprache weiterentwickeln, ihren Bekanntheitsgrad verstärken, das Beherrschen unserer Muttersprache fördern und ihren Gebrauch aufrechterhal¬ten?”

Damals wurden in deutschen Zeitungen die Bücher, Filme und Tonbänder italienischer Autor*innen und Künstler*innen mehrfach vorgestellt und diesen viel mehr Platz eingeräumt. Aber auch zu dieser Zeit überstieg unsere Bevölkerungsdichte die der Italiener*innen um ein Vielfaches. Fetih Savaşçı und Aras Ören versuchten in dieser Zeit diese Lücke zu schließen.

Institutionalisierung der türkischen Literatur in europäischen Ländern

Diejeniegen unter den Türk*innen, die dem Druck und den Repressionen der Militärjunta Ende 1970 entfliehen konnten und in Deutschland politisches Asyl beantragt hatten sowie hierher emigrierten, krempelten ihre Ärmel hoch, um die Kunst, Literatur und Kultur weiterzuentwickeln. Dursun Akçam, Fakir Baykurt, Adnan Binyazar, Yüksel Pazarkaya, Metin Gür, Kemal Yalçın und Yücel Fevzioğlu sind die ersten Literaten und Schriftsteller, die namentlich genannt werden können. Natürlich traten dutzende weitere aus der ersten Generation der in Deutschland lebenden türkischsprachigen Menschen dazu, die in der Türkei geboren und aufgewachsen waren. Durch die tatkräftige Unterstützung und Ermutigung seitens Fakir Baykurt und Yaşar Kaynar, dem ersten türkischen Verleger in Europa sowie Hüseyin Çölgeçen, der gleichwohl auch Lehrer war, kamen sehr viele Menschen aus der ersten Generation mit Kunst und Kultur in Kontakt.

Künstler*innen, Literat*innen und Wissenschaftler*in¬nen sind von Natur aus unangepasste und manchmal von anderen abweichende Menschen. Denn sie beschäftigen sich mit einer Idee, analysieren diese, denken und hinterfragen sie umfänglich. Verbote, politischer Druck und Zwänge oder politische Entscheidungen sind nicht in der Lage, sie daran zu hindern, so zu sein und zu handeln, wie sie sind und denken.

Dann folgte die zweite Generation, die einerseits eine längere Zeit ihres Lebens in der Türkei verbracht hatte, aber dennoch hier in Deutschland die Schule besuchte und hier aufgewachsen ist. Danach folgte die dritte Generation, die in Deutschland geboren und aufgewachsen ist. Diese Situation galt nicht nur für türkische Migrant*innen. Ich hatte anfangs von Italiener*innen, Griech*innen und Spanier*innen geschrieben. Unter diesen Gruppen und auch unter Menschen anderer Nationa¬litäten, die im Zuge der Arbeitsmigration nach Deutschland gekommen waren, brachten diese drei Generationen viele Künstler*innen und Schriftsteller*innen hervor.

Mit dieser Zuwanderung von Arbeitnehmer*innen nach Europa ist in den letzten 60 Jahren eine sehr vielfältige, bunte und multikulturell-mehrsprachige Literatur entstanden. Diese Werke der Vielfalt und des Multikulturalismus beschränk¬ten sich keinesfalls nur auf die Literatur, sondern umfassten daneben auch andere Bereiche. Die Künste waren breit gefächert: Malerei, Filmproduktion, Theater, Skulpturen etc. waren stets Teil der Multikultur. Die multikulturelle Vielfalt war erfolgreich und brachte sehr schöne Werke und Produk¬tionen hervor. Auch in der Zukunft wird diese Entwicklung voranschreiten.

Die Rolle der türkischen Kunst und Literatur in Europa

Unter der in Europa erschienenen und veröffentlichten Literatur und Kunst von Menschen mit Migrationshintergrund werden Werke türkeistämmiger Kunst- und Literaturschaffen¬der wohl am weitesten verbreitet sein. Denn dieser Bereich wird durch sehr viele Kanäle, durch eine überaus große Be¬völkerungsdichte interkulturell genährt und gefördert. Kunst ist ein wichtiges Kommunikationsmittel. Durch die Kommu¬nikation durch Sprache, Kultur, Literatur und Kunst wird es für Menschen möglich, sich aufeinander zuzubewegen und sich gegenseitig zu respektieren. Die auf Gegenseitigkeit beruhende Akzeptanz und Unterstützung werden gefördert und gestärkt.

So werden gegenseitige Kontrollmechanismen geschaffen, die das gemeinsame Lernen unterstützen und fördern. Die Erfahrungen, welche in diesem Prozess gemacht werden, stärken ebenso das Lernen sowie ein multikulturelles Be¬wusstsein. So wird sich die Gesellschaft weiterentwickeln und Schritte gehen, die das gesellschaftliche Zusammenleben stärken und fördern. Darüber hinaus wird eine noch tiefgrün¬digere Basis dafür geschaffen, aus den Erfahrungen und dem Background des oder der jeweils anderen bewusst zu lernen. Diese Entwicklung spielt eine überaus wichtige Rolle, weil sie der Gesellschaft zu neuen Durchbrüchen weiterverhelfen wird.

So können sich zwei unterschiedliche Entwicklungstendenzen gegenseitig ergänzen, beinflussen und eine Lücke schließen, die der Gesellschaft zu neuen Durchbrüchen weiterverhelfen würde. In diesem Rahmen entwickelt sich die Sprach- und Kulturästhetik auf eine sich erneuernde, destruktive Art und Weise, bereinigt und befreit sich in ihrer Weiterentfaltung und löst sich von verfaulten und veralteten Herkunfststrukturen.

Dass individuelle Emotionen und Gefühle eine überaus kraftvolle Auswirkung auf die Sozialisation entfalten, versteht sich hier von selbst. Deshalb sind die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union, deren Mitgliedschaft wir auch anstreben, auch heutzutage besonders stolz darauf, „mehrsprachige und multikulturelle Gesellschaften” zu sein. In den meisten dieser Länder wurde vor dem Zweiten Weltkrieg sehr viel Wert darauf gelegt, die Einsprachigkeit aufrechtzuerhalten. Um die verheerende Verwüstung des Zweiten Weltkrieges bewältigen zu können, waren sie aber nun auf neue Arbeitskräfte angewiesen, deren Muttersprache sie jetzt zudem auch zulassen mussten, auch wenn sie das nicht gerne taten. Viele neue Sprachen und verschiedene Kulturen kamen so in diese europäischen Länder und bürgerten sich mit der Zeit in diese Gesellschaften ein, wohingegen ja auf anatolischem Territorium bereits über tausende von Jahren unterschiedlichste Kulturen und Zivilisationen zusammengelebt haben. Wir würden nicht übertreiben, wenn wir behaupteten, dass sich hier die Mutter der heutigen Moderne und Zivilisation entwickelt hat.

In diesem Territorium leben seit Jahrtausenden dutzende Sprachen und Kulturen zusammen. Sie bilden zusammen ein Vorbild für eine gemeinsame, einzigartige, regionale Kultur. Türkische, kurdische, lasische, tscherkessische, armenische, jüdische, balkanische, arabische und weitere dutzende Kulturen bilden gemeinsam somit die anatolische Kultur und die Region Anatolien.
Kurzum kann man sagen, dass die anatolische Kultur sehr breitgefächert ist und ein Kulturmosaik aller zivilisierten Gesellschaften von Europa bis nach China bildet, die seit tausenden von Jahren in diesem Erdteil gelebt haben.

Besonders wichtig ist in diesen Ländern, dass das Bewusstsein getragen wird, dieses Mosaik konstitutionell an die Kinder weiterzugeben und somit dessen Fortbestehen und Überleben zu sichern.

Es ist bedauernswert, dass die politischen und kulturellen Institutionen sowie die Intellektuellen die Bedeutung von Vielsprachigkeit und Interkulturalität nicht ganz verstanden haben. Kurzum: Es ist vorteilhaft, diese, unsere Sprache, die Nationalität und die Internationalität im Rahmen der anatolischen Kultur, in den jeweiligen europäischen Ländern am Leben zu erhalten, diese der Welt näherzubringen und verständlich zu machen. […]