Leben retten und schützen ist keine Option, sondern eine humanitäre, politische und rechtliche Verpflichtung. Eine auf Partnerschaft und Kooperation basierte politische und administrative Zusammenarbeit zwischen europäischen, nationalen und kommunalen Institutionen könnte einen Paradigmenwechsel in der europäischen Migrations- und Flüchtlingspolitik einläuten. Vorwort zur Studie "Das Recht zu schützen".
Auf der Suche nach Schutz und Zuflucht in Europa sind allein in den letzten zehn Monaten des Jahres 2022 offiziellen Schätzungen zufolge über 1.800 Menschen im Mittelmeer ertrunken. Seit 2014 waren es über 25.500 Leben. Somit ist die südliche europäische Außengrenze die tödlichste Grenze der Welt. Lebensretterinnen und -retter im Mittelmeer müssen täglich darum kämpfen, dass Schiffsbrüchige und Gerettete ans Land dürfen. Darauf antwortet die Europäische Union mit Abschreckung und Militarisierung der Außengrenzen.
Leben retten und schützen ist aber keine Option, sondern eine humanitäre, politische und rechtliche Verpflichtung. Zivilgesellschaftliche Rettungsaktionen sowie Initiativen wie Solidarity City oder „From the Sea to the City“ sind eine Reaktion auf das Massensterben im Mittelmeer.
Weltweit gibt es zurzeit rund 103 Millionen Menschen, die gewaltsam vertrieben wurden. Dazu zählen Binnenvertriebene, Flüchtlinge, Asylsuchende und andere schutzbedürftige Menschen. Etwa 60 Millionen von ihnen sind Binnenflüchtlinge innerhalb ihres Landesgrenzen. 95 Prozent der restlichen Schutzbedürftigen suchen Zuflucht vor allem in den Nachbarstaaten und -regionen. Es ist lediglich ein kleiner Bruchteil der gewaltsam Vertriebenen und der Überlebenden der Gewalt und Tortur von Schlepperbanden, die es bis zu unseren Außengrenzen schaffen.
Die Zahl der in Deutschland und Europa ankommenden Flüchtlinge ist in den letzten Jahren kontinuierlich gesunken. Eine Konsequenz der europäischen Abschottungspolitik. Ungeachtet dessen wetteifern europäische Regierungschef:innen und Innenminister:innen um die härteste Politik gegen Schutzsuchende und Migrant:innen. Trotz der vielfach bewiesenen Tatsache, dass in libyschen Internierungslagern Flüchtlinge und Migrant:innen brutaler Gewalt, Vergewaltigungen und Ausbeutung ausgesetzt sind.
Eine Abschottungspolitik auch ungeachtet den Fluchtursachen, an denen der europäische Wohlstand maßgeblich beteiligt ist: Der globale Klimawandel und die Umweltzerstörung, die Agrarsubventionen und der Protektionismus, der einen freien Zugang zum europäischen Markt verbarrikadiert, oder das Geschäft mit dem Krieg.
Europäische Initiativen wie „From the Sea to the City“ oder „Sichere Häfen“ sind wichtige und ernstzunehmende politische und zivilgesellschaftliche Zusammenschlüsse, um die europäische Migrations- und Flüchtlingspolitik auf der Grundlage von Menschenrechten und aus der Perspektive von Städten und Kommunen neu zu ordnen und partnerschaftlich zu gestalten. Die Initiative erstreckt sich von Palermo über Marseille, Tirana, München, Potsdam … bis nach Flensburg und Amsterdam. Diese Bündnisse sind starke politische Botschaften, um die wichtigen Rollen von Städten und Kommunen in der Migrations- und Flüchtlingspolitik zu bekräftigen. Letztlich hängt die Aufnahmebereitschaft der Gesellschaft und eine erfolgreiche Integration von Geflüchteten vom Handeln der Städte und Kommunen ab.
Schließlich sind es die Kommunen, die die Aufnahme von Geflüchteten, ihre Versorgung, ihre Unterkunft, die Integration in Bildung und Arbeit sowie ihre soziale, kulturelle und politische Teilhabe bewerkstelligen. Die Bereitschaft hängt zum großen Teil von den Ressourcen ab, die ihnen zur Verfügung gestellt werden. Zu den Ressourcen gehören finanzielle Mittel, aber auch rechtliche Sicherheiten und Spielräume und funktionierende Allianzen mit zivilgesellschaftlichen Institutionen, mit der Wirtschaft und Wissenschaft.
Freiwillige Aufnahmeprogramme der Kommunen könnten den staatlichen und europäischen Verteilungsmechanismen ergänzen. Auf Beteiligung und Freiwilligkeit basierte Maßnahmen könnten dazu beitragen, einerseits die Verantwortung auf mehrere Schultern aufzuteilen, und andererseits eine solidarische Verteilung innerhalb europäischer Städte und Kommunen zu erzielen.
In der bisherigen Praxis unterliegen Entscheidungen in der Migrations- und Flüchtlingspolitik grundsätzlich der staatlichen Hoheit. Städte und Kommunen spielen bestenfalls eine marginale Rolle. Das Visaregime und die Kontrolle darüber, wer die Grenzen übertreten kann, obliegen der nationalstaatlichen Hoheit. Doch vor dem Hintergrund des Massensterbens an den europäischen Außengrenzen und den menschenverachtenden Internierungslagern an den Grenzen und Außengrenzen Europas bringen viele europäische Städte und Kommunen ihre Solidarität mit Menschen auf der Flucht deutlich zum Ausdruck. “Wo Nationen versagen, schaffen Städte Lösungen”, bringt es der Bürgermeister von Potsdam, Mike Schubert, auf den Punkt.
Die Fachkommission der Heinrich-Böll-Stiftung „Perspektiven für eine zukunftsgerichtete und nachhaltige Flüchtlings- und Einwanderungspolitik“ hat den Ansatz des "Whole of Government" als Querschnitt für das Mehrebenensystem empfohlen. Aus den Erfahrungen der Jahren 2015 und 2016 soll hiermit den vielfach mangelhaft abgestimmten Politiken entgegengesetzt werden. Es geht darum, politisches Handeln, Verwaltungshandeln und die Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft besser aufeinander abzustimmen, kohärenter auszugestalten. Mehr Kohärenz in Bezug auf eine bessere vertikale Abstimmung (zwischen Europäischer Union, Bund, Ländern und Kommunen) und horizontale Koordination der unterschiedlichen Politikfelder und Kooperation mit der Zivilgesellschaft und Wirtschaft. Hierarchien werden bewusst durchbrochen, um Synergien zuzulassen und Platz für Neues zu schaffen.
Eine auf Partnerschaft und Kooperation basierte politische und administrative Zusammenarbeit zwischen europäischen, nationalen und kommunalen Institutionen würde einen Paradigmenwechsel in der europäischen Migrations- und Flüchtlingspolitik einläuten.
Der Fortschritt einer Gesellschaft zeichnet sich nicht allein am Wachstum ihres Bruttoinlandsprodukts. Vielmehr wird sie daran gemessen, wie sie Menschen, die schutz- und hilfsbedürftig sind, Zuflucht und Sicherheit ermöglicht, in die Gemeinschaft aufnimmt, ihnen Chancen gibt, damit sie gleichberechtigt werden und auf die eigenen Beine stehen können. Das gilt für alle Politikbereiche und für alle politischen Ebenen – für den Staat wie für die Kommunen. Progressive Politik benötigt auch einen inklusiven Geist und inklusive Institutionen und Einrichtungen.
Die vorliegende Rechtsstudie ist das Ergebnis einer langfristigen Zusammenarbeit mit der Rechtswissenschaftlerin Dr. Helene Heuser, der unser größter Dank und Wertschätzung gilt. Die ehemalige Stipendiatin der Heinrich-Böll-Stiftung hat sich im Rahmen ihrer Promotion mit den rechtlichen und politischen Aspekten sowie den zivilgesellschaftlichen Aktivitäten internationaler Bewegungen wie Sanctuary Cities (Städte der Zuflucht) intensiv auseinandergesetzt. Dr. Helene Heuser gehört zu den wenigen ausgewiesenen europäischen Expert:innen zum Thema proaktive Aufnahme von Schutzsuchenden in europäischen Städten und Kommunen.
Die Studie ist ein Bestandteil der Großstudie „Städte der Zuflucht - Kommunen und Länder im Mehrebenensystem der Aufnahme von Schutzsuchenden“, in dem die juristischen Details und weitere Quellen nachgelesen werden können. Die jahrelange Recherche hierfür wurde maßgeblich durch die Heinrich-Böll-Stiftung gefördert. Die Arbeit ist Teil eines wechselseitigen Zusammenspiels aus politischen und konzeptuellen Ideen sowie juristischer Beratung zur proaktiven Flüchtlingsaufnahmepolitik von Städten und Gemeinden. Sie basiert auf Impulsen und Debatten, die in Deutschland insbesondere seit 2016 durch unterschiedliche Akteur:innen geführt werden, zu denen u. a. die Seebrücke und die Sicheren Häfen, Solidarity City, das International Cities of Refuge Network (ICORN) sowie die Kommunale Integrations- und Entwicklungsinitiative MIDI, aber auch Wohlfahrtsverbände und Flüchtlingsorganisationen sowie eine Reihe von Kommunal-, Landes- und Bundespolitiker:innen gehören.
Berlin, Dezember 2022