Über die Geschichte, Lebensrealitäten, Interessen und Kämpfe von Schwarzen, afrikanischen und afrodiasporischen Menschen in Deutschland wird nach wie vor wenig gesprochen. Die Sichtbarmachung Schwarzer Menschen und ihrer Erfahrungen ist aber nicht nur wichtig für den Kampf gegen Rassismus, sondern auch ihre soziale, politische und ökonomische Gleichberechtigung.
Die Entwicklungen im Zuge der aus den USA ausgehenden Black Lives Matter Bewegung haben auch in Deutschland zu einem gesamtgesellschaftlichen Diskurs über die Lebensrealitäten der rund 1 Millionen Schwarzen Menschen hierzulande geführt. Ihre Lebensrealitäten sind so verschieden und so widersprüchlich, wie die mehr als 144 Länder, aus denen viele der hier lebenden Schwarzen Menschen laut der Afrozensus-Onlinebefragung kommen.
Mit der neu gewonnen Sichtbarkeit für Schwarze, afrikanische und afrodiasporische Lebensrealitäten, werden auch Themen sichtbarer, die vor allem den Lebensalltag Schwarzer Menschen prägen. Es sind Themen, die gesamtgesellschaftlich bisher selten mitgedacht wurden. Trotzdem gestalten sich die Debatten zu Rassismus, Diskriminierung und Schwarzen Erfahrungswelten weiterhin verkürzt und einseitig. Vor allem aber verdeutlichen sie, die historisch gewachsene Unsichtbarmachung Schwarzer Geschichte, Erfahrungen und Schwarzen Lebens in Deutschland.
Es ist das verzerrte Bild einer „jungen“ und nicht selten „homogen“ gedachten Schwarzen Community, welches eine differenzierte Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Erfahrungen Schwarzer Menschen in Deutschland, in all ihren Gemeinsamkeiten und Unterschieden, erschwert. Gleichzeitig sind es die gemeinsamen Erfahrungen von Anti-Schwarzem Rassismus, Widerstand und Engagement, die Schwarze Menschen von Kiel bis München und von Aachen bis Frankfurt (Oder) verbinden.
Die deutsche „Schwarze Erfahrung“
Anders als in den USA hat sich die Frage nach einer „Schwarzen Erfahrung“, der sogenannten „Black experience“, in Deutschland lange nicht gestellt. Denn die Existenz Schwarzen Lebens, geschweige denn einer Schwarzen Community, die als historisch gewachsene Kontinuität und somit als Teil der deutschen Geschichte verstanden wird, blieb in Deutschland unbeachtet. Dieser Umstand reiht sich in die lange Tradition der Unsichtbarmachung Schwarzer Lebensrealitäten in all ihrer Konsequenz ein. Konsequenzen, die noch heute wirksam sind und die uneingeschränkte und gleichberechtigte Teilhabe Schwarzer Menschen an gesellschaftlichen und politischen Gestaltungsprozessen verhindern.
Doch es gibt sie, „die Schwarze Community“, die sich nicht erst seit den globalen BLM Protesten im Frühjahr 2020 für die Rechte und Interessen Schwarzer Menschen hierzulande einsetzt. Ihre Ursprünge reichen mehr als 400 Jahre in die deutsche Geschichte zurück. Sie kämpft bereits seit Jahrzehnten für eine antirassistische und diskriminierungsfreie Gesellschaft und steht somit in der Tradition Schwarzen Aktivismus und Widerstands.
Das 2005 veröffentlichte Heimatkunde-Dossier „Schwarze Community in Deutschland“ gewährt Einblicke in die Auseinandersetzungen und Diskurse, die zur Bildung dieser Schwarzen Community führten. Anhand von Beiträgen Schwarzer Wissenschaftler*innen, Aktivist*innen und Künstler*innen veranschaulicht es die Lebenssituationen Schwarzer Menschen und bietet einen Raum zur Reflexion über ihre Erfahrungen in der deutschen Diaspora. Gerade weil die deutsche Schwarze Bewegung seit Jahrzehnten wichtige Arbeit leistet und zu der Sichtbarmachung und Verwirklichung Schwarzer Interessen beiträgt, ist es wichtig, die Frage danach zu stellen, inwiefern sich die Lebenssituationen Schwarzer Menschen durch ihr Wirken nachhaltig verändert haben.
The Hill We Climb
Und so dienen die Beiträge in diesem Dossier genau diesem Zweck: der Sichtbarmachung Schwarzer Lebenserfahrungen in all ihren Facetten, sowie der Verortung Schwarzer Kultur in der deutschen Geschichte und Gesellschaft. Gleichzeitig gehen die Beiträge in diesem Dossier auf zwei zentrale Fragen ein: a) Inwiefern haben sich Schwarze Lebensrealitäten in den letzten Jahrzehnten verändert, und b) welche politischen und gesellschaftlichen Veränderungen braucht es darüber hinaus, um die uneingeschränkte politische und soziale Teilhabe Schwarzer Menschen sicherzustellen?
Eine diskriminierungsfreie Gesellschaft kann nur geschaffen werden, wenn institutionelle und gesellschaftliche Strukturen, die (Anti-Schwarzen) Rassismus und Ungleichheit aufrechterhalten, überwunden werden. Das Dossier hinterfragt politische und gesellschaftliche Verhältnisse und diskutiert Maßnahmen und Strategien, die zu einer nachhaltigen Verbesserung Schwarzer Lebensrealitäten führen können.
Zwischen Individualisierung und Kollektivierung
Hierbei ist es wichtig zu betonen, dass die Schwarze Community alles andere als homogen ist – sie ist verschieden, vielfältig und in Bewegung. Bestehende gesellschaftliche Ungleichheiten und Diskriminierungen aufgrund von Geschlecht, Klasse, Aufenthaltsstatus, Sexualität, Colorism, Ableismus etc. spielen auch innerhalb der Community eine Rolle. Nicht alle Schwarze Menschen machen also die gleichen Erfahrungen oder verfügen über die gleichen Ressourcen und Zugänge in unserer Gesellschaft.
Von der weißen Mehrheitsgesellschaft werden sie dennoch oft als homogene Gruppe wahrgenommen und als solche rassifiziert. Die geteilten Erfahrungen von institutionellem und alltäglichem Rassismus einerseits, und der gemeinsame Kampf dagegen andererseits, verbinden die Schwarze Community trotz ihrer Differenzen. In diesem Spannungsverhältnis zwischen Differenz und kollektiver Erfahrung bewegen sich auch die Beiträge in diesem Dossier.
Schwarz in Deutschland
Im ersten Teil des Dossiers geht es deshalb darum, die zivilgesellschaftlichen Akteur*innen der Schwarzen Bewegung in Deutschland zu identifizieren und ihre Rolle in der Sichtbarmachung und Verwirklichung Schwarzer Interessen und Rechte zu beleuchten.
Wie sahen die Anfänge der deutschen Schwarzen Bewegung aus und wie wird Schwarzer Aktivismus heute ausgestaltet? Autorin Saba Kidane skizziert in ihrem Beitrag die Entstehungsgeschichte der Schwarzen deutschen Bewegung und des selbstorganisierten Widerstands und veranschaulicht die Aushandlung Schwarzer Identität(en) im Spannungsfeld zwischen Fremdzuschreibung und Selbstbestimmung. Katharina Oguntoye gilt als eine der Wegbereiter*innen dieser afrodeutschen Bewegung. Als Historikerin widmet sie sich in ihrem Text zur Geschichte der afrodeutschen Familie Diek der Erforschung Schwarzer deutscher Geschichte und zeigt die lange Tradition Schwarzen Lebens und Aktivismus in Deutschland auf.
Wie unterschiedlich sich Schwarzes Engagement in Deutschland gestaltet, diskutiert Autorin Laura Schrader in ihrem Beitrag über die Lebensrealitäten Schwarzer Ostdeutsche. Es ist die Unsichtbarmachung ostdeutscher BPoC Perspektiven in gesamtgesellschaftlichen Debatten über das Leben in der DDR und den Erfahrungen mit der (Wieder-)Vereinigung, die hier sichtbar wird und die Exklusivität deutscher Erinnerungskultur in all ihrer Konsequenz verdeutlicht. Zu diesen vernachlässigten Perspektiven zählt auch der Bericht von Simone Cristina Tristao Adao. Ihre Erfahrungen im Umgang mit Rassismus und Diskriminierung im Alltag und als ausländische Studierende zeichnet sie in ihrem Beitrag zu den Erfahrungswelten Schwarzer Migrant*innen in Ostdeutschland nach.
Der zweite Teil des Dossiers untersucht die unterschiedlichen Formen und Ausprägungen noch heute bestehender kolonialer und rassistischer Denkmuster sowohl auf politischer als auch gesellschaftlicher Ebene. Gleichzeitig zeigen die Autor*innen Schwarze zivilgesellschaftliche Organisationen auf, die die Offenlegung und Bekämpfung rassistischer und diskriminierender Strukturen in Staat und Gesellschaft seit Jahren vorantreiben. Welche Veränderungen konnten sie nach teils jahrzehntelangem Engagement erzielen? Welche community-basierten Projekte und Initiativen zur Prävention von Anti-Schwarzem Rassismus und dem Empowerment Schwarzer Menschen gibt es? Welche (zusätzlichen) Maßnahmen braucht es, um bestehende Strukturen, die zur Verursachung und Aufrechterhaltung (Anti-Schwarzen) Rassismus beitragen, abzuschaffen?
So sichtbar Spuren deutscher Kolonialgeschichte im öffentlichen Raum sind, so wenig wird darüber gesprochen. Als Mitbegründerin der Initiative Decolonize Cologne erörtert Bebero Lehmann in ihrem Beitrag den Zusammenhang zwischen der Aufarbeitung deutscher Kolonialgeschichte und der Dekolonialisierung des öffentlichen Raumes. Inwiefern koloniale und rassistische Ideologien auch in der alltäglichen Polizeipraxis zum Tragen kommen, untersucht Sozialwissenschaftlerin Bafta Sarbo in ihrem Beitrag zur Black Lives Matter Bewegung und Racial Profiling in Deutschland.
Welche gesundheitlichen Folgen Rassismus und Diskriminierung für Betroffene haben können, erläutert Psychologe Zami Khalil in seinem Beitrag insbesondere mit Blick auf die frühkindliche Sozialisierung. Zudem beleuchtet er die Ausbildungsstrukturen für Psycholog*innen und Psychotherapeut*innen und erklärt, weshalb ein struktureller, rassismuskritischer Wandel innerhalb der Ausbildungsinstitute unabdingbar ist. Auch die Initiative N-Wort Stoppen beleuchtet in ihrem Beitrag „Verflechtungen von Sprache, Macht und Rassismus“, wie Sprache zur Marginalisierung und Rassifizierung Schwarzer Menschen beitragen kann und veranschaulicht, weshalb ein diskriminierungssensibler Sprachgebrauch fundamental für eine antirassistische und inklusive Gesellschaft ist.
Wie wichtig Empowerment für von Rassismus betroffene Personen ist, und zwar nicht nur durch diskriminierungssensible Sprache, sondern auch durch die Schaffung von Empowerment-Räumen, demonstriert Meron Mekalya Tadesse in ihrem Interview mit der Hamburger Initiative „Our Journey Beyond“. Einen ähnlichen Ansatz verfolgen auch die Organisatorinnen des Frankfurter Literaturfestivals „Stories of Color – Schwarz bewegt“, Rahel Berhanu, Saba Afeworki und Helen Manna. In ihrem Text „Schwarze Kreativität, weißer Kulturbetrieb“, hinterfragen sie den gängigen Kulturbegriff, die damit einhergehenden Exklusionsmechanismen und zeigen auf, weshalb Creative Spaces für BIPoC und FLINTA* so wichtig sind.
Im letzten Teil des Dossiers werden verschiedene Aspekte der Community-Arbeit und des Community-Buildings diskutiert, die sich allen voran der Frage widmen, wie eine selbstbestimmte und inklusive Schwarze Community aussehen kann. Gerade in Hinblick auf die vielfältigen Bedarfe und teils widersprüchlichen Erfahrungen Schwarzer Menschen sowohl innerhalb der weißen Mehrheitsgesellschaft, als auch innerhalb der eigenen Community, ist es wichtig, die Intersektionalität Schwarzer Erfahrungen in den Bestrebungen zur Schaffung einer inklusiven und gerechten Gesamtgesellschaft mitzudenken.
Eine Reflexion hierzu bietet der künstlerische Spoken-Word Beitrag „CommUNITY“ von Emilene Wopana Mudimu. Denn hier unterstreicht sie nicht nur die Vielfalt innerhalb der Schwarzen Community, sondern appelliert gleichzeitig dafür, dass der Kampf für Gleichberechtigung auch in den eigenen Reihen nicht vernachlässigt wird. Wie sich die Lebensrealitäten Schwarzer Menschen in den letzten Jahrzehnten verändert haben und welche Rolle die selbstorganisierte Schwarze Community hierbei spielt, erörterte ich im Gespräch mit der ersten Schwarzen Bundestagabgeordneten Awet Tesfaiesus.
Doktorandin Miriam Mona Mukalazi schließt mit ihrem Beitrag „Schwarzes Wissen: Erinnerungen für die Zukunft schaffen“, in dem sie dazu aufruft „auf die Suche nach den verborgenen Schätzen Schwarzer Kultur und Geschichte“ zu gehen und sie für kommende Generationen zu bewahren. Dabei wirft sie zum einen einen Blick auf Schwarze Orte des Wissens, wie sie ihr auf Forschungsreisen nach Amsterdam und Washington D.C. begegneten. Zum anderen skizziert sie eine Vision, wie „afrofuturistische Orte der Zukunft“ in Deutschland und auch darüber hinaus aussehen können.