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Grenzdialoge

Flucht und Solidarität in Zeiten der Pandemie

Ein Grieche, ein Baske und zwei Deutsche unterhalten sich über Solidarität an den Rändern Europas in Zeiten von Corona. Die Pointe? Gibt es nicht. Stattdessen gibt es gemeinsames Lachen, Verzweifeln, Mutmachen, Empören und ein starkes Gefühl von Solidarität.

Eine Multimedia Reportage von Miriam Tödter

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You can't stay home if you have none

Was tun Menschen, wenn sie mit einer Pandemie konfrontiert sind? Manche konzentrieren sich auf ihre Familie, andere ziehen sich zurück und leiden unter der Isolation, wieder andere versuchen mit einer neuen Geschäftsidee Geld zu verdienen. Und dann gibt es noch Menschen wie Vasilis aus Griechenland, Judith aus Deutschland und Iñigo aus dem Baskenland, die jetzt erst recht denjenigen Menschen helfen, die am meisten unter der Corona-Pandemie und ihren Konsequenzen zu leiden haben.

"Lasst uns nicht alleine, vergesst uns nicht!“ Dieser Ruf begegnet uns in unserer Arbeit vor Ort in europäischen Flüchtlingslagern immer wieder, von Geflüchteten genauso wie von den wenigen freiwilligen Helfer*innen, die trotz Corona verblieben sind. „Als ich 2015 den toten Alan Kurdi gesehen habe, musste ich etwas tun. Es hätte mein Neffe sein können“, antwortet mir eine freiwillige Helferin in einem griechischen Lager auf die Frage, warum sie sich für Schutzsuchende engagiert. Doch auf Solidarität aus Deutschland warten sie in Zeiten von Corona fast vergeblich, denn die gilt gegenwärtig in erster Linie Deutschen.

Währenddessen klagen wir darüber, dass wir mit der ganzen Familie – zwei Erwachsene zwei Kinder –  in einer Drei- oder Vier-Zimmer-Wohnung vier oder sechs Wochen „eingesperrt“ gewesen seien und aufeinander hocken würden. In den Flüchtlingslagern auf den griechischen Inseln leben Menschen zu sechst oder acht auf zehn Quadratmetern im Container, wenn sie Glück haben, im Campingzelt, wenn sie etwas weniger Glück haben, unter einer aufgespannten Plane, wenn sie Pech haben - und das nicht nur ein paar Wochen sondern bis zu zwei Jahren.

Solidarität ist nicht das zu geben, wovon du viel hast, sondern das, wovon du wenig hast

Wir klagen darüber, dass Schutzmasken zu teuer wären - im Lager Vial auf Chios werden von offizieller Seite überhaupt keine Masken verteilt.

Wir trauern um unser vielfältiges Kulturleben, die gewohnten Restaurant- oder Kneipenbesuche – für Menschen in den süditalienischen Hotspots gibt es auch unter "normalen" Bedingungen keinerlei Abwechslung vom alltäglichen Elend.

Wir leiden darunter, dass der gewohnte Sommerurlaub nicht wie sonst stattfinden konnte, der Kurztrip nach Paris oder Prag, das lange Wochenende an der Ostsee – für die Menschen auf der Flucht über das Mittelmeer sind Dank des willkommenen Vorwandes der allgemeinen Bedrohung durch die Corona-Pandemie so gut wie keine Rettungsschiffe mehr im Einsatz.

Das Wort "Solidarität" hat in Coronazeiten eine echte Konjunktur erfahren, aber auch eine merkwürdige Wandlung vollzogen. Galt früher als Grundsatz, dass „Solidarität“ den Ärmsten und Schwächsten gebührt, den „Verdammten dieser Erde“, so sind die jetzigen „Opfer“, mit denen es gilt solidarisch zu sein, Menschen in Deutschland mit festem Arbeitsvertrag, Restaurantbesitzer*innen, berufstätige Eltern im Homeoffice… also alles Menschen aus der vielzitierten Mitte der Gesellschaft. Doch was ist mit denjenigen Menschen, die schon vor Corona am Rande unserer Gesellschaft gehalten wurden und auch jetzt am stärksten von Corona bedroht sind und am wenigsten davor geschützt werden?

Grenzdialoge #1: Chios - Heinrich-Böll-Stiftung

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Vasilis Pachoundakis
Koordinator der SMH-Klinik im Lager Vial auf Chios, Griechenland

Vasilis, der selbst auf der kleinen Ägäis-Insel Chios geboren wurde, findet seine Antwort auf diese Frage ganz selbstverständlich: „Wir dürfen die schutzsuchenden Menschen, die auf Chios gestrandet sind, mit der Bedrohung durch Covid-19 auf keinen Fall alleine lassen.“ Das Lager Vial ist eine stinkende Kloake, die Hölle auf Erden. Der Kontrast zum nahen Strand mit Tourist*innen ist kaum auszuhalten. Die notdürftigen Zelte stehen zwischen Urinbächen, überall liegt Müll herum, es stinkt fürchterlich. Mittendrin ist eine riesige Fabrikhalle, in der mehrere Container stehen – Frontex, die Asylbehörde, die Lagerverwaltung – und dazwischen die Klinik von SMH, die einzige medizinische Versorgung für die Menschen im Lager.

If we are not here as SMH to provide all the medicines, the people are dying

In diesem Spannungsverhältnis ist Vasilis einer der nachdrücklichsten Fürsprecher für die gesundheitlichen Bedürfnisse der Geflüchteten, der nie aufgibt aber doch manchmal fast verzweifelt. „Die medizinische Versorgung und Behandlung für die Menschen im Lager wird nicht von der Regierung oder den Behörden geliefert, sondern von unabhängigen NGOs wie SMH und Wir packen’s an. Wenn wir nicht hier wären, würden die Menschen sterben.“ Dieses Wissen ist Motivation und Bürde zugleich und gilt unter der Bedrohung durch Corona mehr denn je.

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Iñigo Mijangos Churruca
Vorsitzender Salvamento Maritimo Humanitario, Spanien

Auch Iñigos Definition von Solidarität ist eine andere als der gegenwärtige Diskurs in Deutschland:  „Solidarität ist nicht, das zu geben, wovon du viel hast, sondern das, wovon du wenig hast.“ Das bedeutet für ihn und seine freiwillige Crew, jetzt erst recht die Menschen auf der Flucht nach Europa vor dem Ertrinken zu retten. Es bedeutet  ebenfalls, immer wieder aufs Neue auf die humanitäre Katastrophe im Mittelmeer aufmerksam zu machen, auch wenn es aktuell kaum noch jemand hören möchte. An der tödlichsten Grenze der Welt sterben jedes Jahr Tausende Menschen – und die zivilen Rettungsschiffe werden unter fadenscheinigen Vorwänden festgesetzt und von Rettungseinsätzen abgehalten.

Für Iñigo ist es offensichtlich: „So wie ich das sehe, benutzen sie Corona als Vorwand, um die Rettungseinsätze zu beenden.“ Zu Iñigos großer Enttäuschung schwindet auch in Spanien selbst die

Grenzdialoge #2: Mittelmeer - Heinrich-Böll-Stiftung

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Solidarität mit geflüchteten Menschen. Sie werden zunehmend als „Bedrohung“ beschrieben und wahrgenommen, weil sie Corona mitbringen könnten.

Grenzdialoge #3: Sizilien - Heinrich-Böll-Stiftung

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Judith bringt es auf den Punkt, wenn sie sagt: „Der italienische Staat macht eigentlich genau das Gegenteil von dem, was er tun müsste, um diese Pandemie einzudämmen“, wodurch die Inselbevölkerung verständlicher Weise noch mehr Panik bekommt. Sie betont  „Das heißt jedoch nicht, dass die Menschen nicht ankommen sollen – das WIE muss geändert werden.“

Judith Gleitze
Leiterin der Außenstelle Sizilien von Borderline Europe,
Sizilien, Italien

Ganz ähnlich ist der Diskurs in Italien. Judith lebt seit 2009 auf Sizilien, und auch dort seien es auf einmal die Geflüchteten, die Corona zu uns bringen. Gleichzeitig sind die Hotspots auf Lampedusa und Sizilien überfüllt, die ankommenden Menschen müssen unter schlechten hygienischen Bedingungen viel zu eng beieinander leben, es wird zu wenig getestet. Teilweise werden infizierte und nicht-infizierte Menschen zusammen zur Quarantäne auf Fährschiffe gebracht, und wir alle wissen, wie hervorragend die Covid-19-Übertragung auf Kreuzfahrtschiffen funktioniert.

Die eigentliche Lösung sind legale und sichere Zugangswege nach Europa

Drei europäische Länder, drei Mal die gleiche Geschichte von europäischem Herzversagen gegenüber den schwächsten und schutzlosesten Menschen in Europa. Auf die Frage, was sich diese drei engagierten Helfer*innen von uns, von Deutschland, wünschen, gab es drei Mal die gleiche Antwort: Solidarität mit den Geflüchteten und Solidarität mit den Regionen am Rande Europas, die gerade auch in Corona-Zeiten mit dieser Situation alleine gelassen werden. Iñigos Bitte an alle europäischen Bürger*innen und Politiker*innen steht hier stellvertretend für sie alle:  „Sie brauchen die Solidarität von ganz Europa in dieser Situation. Die eigentliche Lösung sind legale und sichere Zugangswege für die Menschen und Möglichkeiten nach Europa zu kommen mit Papieren und allen Rechten als Bürger*innen der Welt. Doch bis dahin muss eine solidarische Lösung gefunden werden.“

 

Miriam Tödter ist Journalistin, politische Aktivistin und stellvertretende Vorsitzende von
Wir packen's an.

Kinder im Lager Vial, Chios

Veranstaltungen

Das Mittelmeer und Wir

Über sieben Abende hinweg bringt Sea-Watch e.V. gemeinsam mit Wort und Herzschlag und der Heinrich-Böll-Stiftung die zivile Seenotrettung auf die Bühne des Kulturstandorts silent green. Wir verknüpfen dokumentarisches Theater mit aktuellen Debatten und schaffen Aufmerksamkeit für die sich immer weiter zuspitzende Situation auf dem Mittelmeer.

Eine Veranstaltungsreihe in Kooperation mit Sea-Watch e.V. Hier geht es zum Mitschnitt der Auftaktveranstaltung.