Schon vor der Pandemie bahnte sich in den griechischen Geflüchtetenlagern eine humanitäre Katastrophe an. Die Entscheidung der Bundesregierung, lediglich 47 Kinder aufzunehmen, kommentiert Schriftstellerin Esther Dischereit und verweist auf die zahlreichen Aufrufe seitens Zivilgesellschaft und Kulturschaffender, das europäische Versprechen der Solidarität endlich einzulösen.
Eine Freundin aus Österreich hat mir in einer Plastiktüte mit rotem Zip-Verschluss 10 grünlich matt schimmernde Masken zugeschickt mit zwei Bändern an jeder Seite. Bei einem Kurzbesuch zum Tee im Hof erhielt ich allergiefreie Pastikhandschuhe geschenkt und die Spenderin erzählte mir, dass infolge der allgemeinen Entschleunigung offenbar ihr Blutdruck, der beständig zu hoch war, erstmals seit Jahren auf ein normales Level gesunken sei.
Ein Familienmitglied will mir eine der begehrten FFP2 Masken besorgen und Desinfektionsmittel; und so geht es weiter mit freundlichen Angeboten von diesem und jenem. Außerdem kann ich mich einigermaßen digital, auch was die Arbeit betrifft, weiterbewegen. Ich befinde mich in einem nicht freiwilligen „Hausaufenthalt“. Ein Hausaufenthalt ist keine Sperrstunde, kein Gefängnisaufenthalt, kein Versteck oder Arrest wie er gegenüber politischen Gegner*innen angewendet wird.
Die „Schande Europas“ vor meiner Haustür
Das unterscheidet mich von den Erfahrungen derjenigen, die in den Lagern auf Lesbos und anderen griechischen Inseln sitzen. Meine Netzwerke funktionieren im Prinzip. Die Menschen, die in Moria, um eines der größten Lager dort zu nennen, festsitzen, haben als geflüchtete Menschen weder einen eigenen Kühlschrank noch ein Netzwerk, das ihnen Masken besorgte – sie nähen jetzt selbst – oder wenigstens Freund*innen, die sie trösteten oder Mut zusprächen.
All das haben sie ja hinter sich gelassen und sind mit buchstäblich nichts als dem, was sie am Leibe trugen, vor etwas geflohen, das so schrecklich war, dass sie die Ungewissheit dessen, was jetzt kommen würde, dafür in Kauf nahmen. Sie sind „Schutzflehende“ an den Stränden Europas. Es gibt viele Schutzflehende in der Welt, und diese flehen um Schutz und sitzen in Griechenland fest, fast vor meiner Haustür. Was ihnen stattdessen geschah, ist eine Einsperrung hinter Stacheldraht über eine lange Zeit.
Sie sind jeglicher Freiheitsrechte beraubt, können sich kaum waschen, wurden übereinander und nebeneinander gestapelt wie wir es in den Tiertransporten nicht mehr dulden wollen. Jean Ziegler besuchte das Lager Moria und spricht seitdem von der „Schande Europas“. In Deutschland erklärten Politiker*innen, im Angesicht der Pandemie nicht erleben zu wollen, wie Kindersärge aus den Lagern getragen würden. Die Bundesrepublik Deutschland nahm schließlich von den 40 000 unwürdig untergebrachten Menschen 47 und Luxemburg 12 Kinder auf.
Ich spreche jetzt mit einer unbestimmten Verzweiflung, weil die Lage der Menschen in Moria nicht etwa unbekannt wäre; oder die politischen Akteur*innen deren grauenhafte erniedrigende Behandlung leugnen würden. Das ist nicht der Fall. Es ist auch durchaus bekannt, dass der Ausbruch der Pandemie ein noch rascheres Handeln erforderlich macht, als ohnehin nötig, dass Eile dringend geboten ist. Nicht nur ist das Mittelmeer ein Seegrab geworden, die schöne Insel Lesbos könnte es auch werden, und zwar, das ist das besonders Erschreckende, während wir es wussten und während wir zusahen.
Das Prinzip NEIN und der billige Spargel
Der Spargel muss gestochen werden, die Erntehelfer*innen kommen nach Deutschland. Sie sind zum überwiegenden Teil EU-Bürger*innen, für die der Knochenjob während einiger Monate immer noch besser ist als ihre Armut in Rumänien und Bulgarien. Die landwirtschaftlichen Betriebe brauchen für diese Arbeiter*innen regulär keine Beiträge für die Sozialversicherung zu zahlen. Ihr gesetzlich vorgeschriebener Mindestlohn schrumpft außerdem noch, weil Kosten für Unterkunft und Verpflegung abgezogen werden.
Demnächst steht noch weiterer landwirtschaftlicher Bedarf an, auch das wird gelöst werden. Wie kann man mit dieser Hartherzigkeit weiterleben, im Fall dieser gestrandeten 40 000 Menschen jedoch aus Prinzip NEIN zu sagen? Es ist möglich, zehntausende Erntehelfer*innen in die Bundesrepublik Deutschland einfliegen zu lassen, um die Spargelernte zu sichern, doch um Menschenleben zu retten reicht es gerade mal für 47 Kinder.
V wie Victory und dann die Grenze
Ich blättere durch die Papiere von Omran A. Seit zwei Jahren bemühen sich sein Bruder, dessen Arbeitgeber und andere diesen jungen Menschen in Sicherheit zu bringen. Wir waren und sind zu allem Möglichen bereit, Erklärungen abgeben, Garantien für seinen Lebensunterhalt, einen Ausbildungsplatz besorgen, alles Mögliche. Mit Schutzhelm sieht man ihn in einem Tunnel stehen, damals, als er und sein Freund Aktivisten des arabischen Frühlings wurden. Sie formen mit ihren Fingern ein V – Victory – für die Kamera.
Dann rettete er Menschen aus den Trümmern als Sanitäter, fotografierte, was er sah. Der Geheimdienst stand vor den Türen seines Elternhauses, er floh und geriet in Al Nusra-Gebiet. Sie steckten ihn ins Gefängnis, weil er mit seinen 22 Jahren sagte, dass er ein Demokrat sein wollte und für Frauenrechte eintrat. Weiter Flucht. Die nächsten Bilder zeigen sein verquollenes Gesicht mit blau unterlaufenen Augen. Die Grenzbeamten an der türkischen Grenze schlugen ihn immer wieder.
Bis einmal der Übertritt gelang und seitdem ist er illegal da, wo er ist. Wir trauten uns nicht, ihn zur gefährlichen Flucht nach Lesbos zu ermuntern. Wir waren nah dran. Er sitzt jetzt ohne jeden Beistand in einem Loch in der großen Stadt und wagt sich nicht hinaus. Eine internationale Organisation bestätigte die Richtigkeit seiner Angaben, bloß sei er von al-Nusra nicht genügend bedroht worden, sie könnten nichts tun.
Assad, den Geheimdienst, der schon seinen Bruder holte und von dem seitdem niemand etwas weiß, vergaßen sie dabei. Sie tun auch nur ihr Bestes, auch hier viele Aktivist*innen, überfordert ... und da ist er, dieser Mensch Omran, der im Untergrund seinen Schulabschluss machte, wie er dem Abitur entspricht, der jetzt manchmal wen findet, der ihn stundenweise Hilfsjobs machen lässt, der gejagt ist, da wo er ist.
Hätte er auf Lesbos landen sollen? Er gehört zu den Schutzflehenden. Sie sitzen vor der Tür Europas. Ich bin jetzt angesprochen, es spielt keine Rolle, ob mir das gefällt oder nicht. Ich kann der Tatsache nicht ausweichen, dass ich sehe.
Das uneingelöste Versprechen der Solidarität
Ich sehe ihn und ich sehe die 40 000 Schutzflehenden in Griechenland, das dem EU-Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts angehört. Eine EU, die offenbar weder nach außen noch nach innen das Versprechen der Solidarität einzulösen vermag. Es nützt nichts die Augen zu schließen. Ich habe gesehen.
Die Koalition der „Willigen“ innerhalb der Europäischen Union erklärte insgesamt 1600 Menschen, Minderjährige, aufnehmen zu wollen: Frankreich 400, Deutschland 350, Finnland 175, Irland, Portugal, Bulgarien, Litauen, Kroatien, Luxemburg 12 Menschen. Selbst diese überschaubaren Zusagen seien im Augenblick nicht zu realisieren, aus aktuellen Gründen. Solidarisches Europa? Bitte warten.
Die Europäische Union besteht aus 27 Staaten. Um zu begreifen, welche Tragödie sich hier auf den griechischen Inseln abspielt, bedarf es ohnehin keiner EU-Mitgliedschaft. Wohlhabende Länder wie die Schweiz, wo sind sie? Wie viele unbegleitete Kinder soll es eigentlich geben? Werden Eltern ihre Kinder preisgeben, damit wenigstens diese eine Chance haben, aus den Lagern zu kommen? 513 Mio. Einwohner*innen zählen die EU und Großbritannien und 40 000 Menschen können nicht untergebracht werden?
Die 40 000 Menschen gehören vollständig evakuiert, sie sind eines legitimen Asylrechtsverfahrens beraubt, akut gesundheitlich gefährdet und nicht selten von Gewalt bedroht. Die österreichische Hotellerie steht still. Besser ausgelastete Hotels und die Geflüchteten können gerettet werden als Leerstand. Schon hat ein Reeder sein Kreuzfahrtschiff zum Selbstkostenpreis angeboten, eine österreichische Hotelkette bot an, zur Krankenstation umfunktioniert werden zu können. Dann kann die Umwidmung für Geflüchtete wohl auch möglich sein.
„Bürgermeister*innen mit Herz“
Es gibt Aufrufe über Aufrufe, Bürgermeister*innen verschiedener Länder, die aufnehmen wollen. Warum dürfen sie nicht endlich aufnehmen? Mehr als 9000 Menschen unterschrieben in Österreich einen offenen Brief Kulturschaffender an die Bundesregierung, in Deutschland unterschrieb der am eigenen Leibe durch den jugoslawischen Bürgerkrieg betroffene Saša Stanišić, es gibt einen Appell der Wissenschaftler*innen, unter ihnen Jürgen Habermas, ein Brief an Reiner Hoffmann, den Vorsitzenden des Deutschen Gewerkschaftsbundes, ist unterwegs.
In der Schweiz wurde der appel de la charte de la migration an die Regierung gerichtet.Eine Vertreterin des Tourismusgewerbes schreibt dagegen warnend, das Verständnis der breiten Bevölkerung bei gleichzeitig verlängerter stark eingeschränkter Bewegungsfreiheit und einem massiven Anstieg der Arbeitslosigkeit ohne absehbares Ende würde schwinden. Es gibt ja eine breite Öffentlichkeit, die sich äußert, trotz Einschränkung der Bewegungsfreiheit.
Das Youtube-Video zum Aufruf der Kulturschaffenden in Österreich mit mehr als 9000 Unterschriften ist deutlich und warum soll gerade ein arbeitsloser Mensch nicht verstehen, was eine Not-Evakuierung von Tausenden aus Dreck und Schlamm ist? Geht es nicht einfach darum, wie ich mir am Morgen in den Spiegel schauen kann, als einer in Not war und ich es sah? Mir fehlt hier das säkulare Vokabular: Aber kommen wir nicht alle in die Hölle, wenn wir die Katastrophe von Moria nicht beenden?
Geschlossene Grenzen heißt der Titel des im Juli 2018 herausgegebenen Bandes, der eine Ausstellung zur Internationalen Flüchtlingskonferenz von Évian 1938 dokumentiert. Wir sehen Mütter, die kleine Kinder an sich pressen, noch ein Spielzeug in der Hand, dazwischen die Koffer. Die Kindertransporte 1938/1939 gaben zehntausenden Kindern die Möglichkeit zu überleben und ließen die Eltern zurück. Die Konferenz, gedacht zur Einigung über die Aufnahme vor dem Nationalsozialismus fliehender jüdischer Menschen, scheiterte.
Das Buch liegt auf meinem Tisch neben diesen Atemschutzmasken, die jemand übersandte, manchmal an einem anderen Platz. Ich trage es von hier nach da und lege es neben die Zeitungsausschnitte von Moria. Hier ist ein Notstand.