von Ralf Fücks
Wird mit dem „rot-grünen Projekt“ auch die „multikulturelle Gesellschaft“ zu Grabe getragen? Das Totenglöcklein wurde ihr in den letzten Jahren schon oft geläutet. Die Anschläge vom 11. September 2001 riefen Ängste vor einem Kampf der Kulturen in den westlichen Gesellschaften wach. Ähnliche Wirkung hatte der Ritualmord an dem holländischen Filmemacher Theo van Gogh, begangen von einem Immigranten, der die Ehre des Islam durch die lästerlichen Äußerungen dieses Freigeists besudelt sah. Auch der periodisch aufflackernde Aufruhr in den Banlieus französischer Großstädte, in denen Arbeitslosigkeit und soziale Marginalisierung unter den Migranten eine brisante Mischung erzeugt haben, wird als Beleg für das „Scheitern der multikulturellen Illusion“ zitiert. Die Radikalisierung britischer Muslime im Gefolge des Irak-Kriegs nährte die Sorge vor einer ethnisch-religiösen Polarisierung in den europäischen Demokratien. Schließlich entzündete sich in Deutschland am Kopftuchstreit die Debatte um die Grenzen der Toleranz gegenüber Muslimen, die ihre religiösen Traditionen und Werte gegen die säkularisierte Mehrheitskultur behaupten wollen. Berlin-Kreuzberg wurde als Paradebeispiel für die Bildung von „Parallelgesellschaften“ entdeckt, in denen sich Migranten von der deutschen Gesellschaft abkoppeln.
Mehr oder weniger alle europäischen Einwanderungsgesellschaften plagen sich mit Konflikten und Problemen, die im Gefolge des raschen Anstiegs der Zuwanderung seit den 60er Jahren entstanden und allzu lange verdrängt wurden. Ist es also richtig, der multikulturellen Gesellschaft Adieu zu sagen – und was sollte an ihre Stelle treten?
Beginnen wir mit einigen Fakten, um die ganze Debatte etwas zu erden: In der Bundesrepublik leben heute rund 7,35 Millionen „Ausländer“, das sind knapp 9 Prozent der gesamten Bevölkerung. Dazu kommen etwa 5 Millionen Aussiedler aus Osteuropa und Zentralasien, die seit den 70er Jahren eingewandert sind, sowie rund 1, 5 Millionen Immigranten, die mittlerweile die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen haben. Insgesamt sind das knapp 14 Millionen Menschen mit „Migrationshintergrund“ bei einer Gesamtbevölkerung von 82, 5 Millionen – also fast ein Sechstel der hier Lebenden. In manchen Großstädten wie Frankfurt, München, Stuttgart liegt der „Ausländeranteil“ bei über 20% der Bevölkerung. In Berlin spricht heute ein Viertel der Schülerinnen und Schüler nicht Deutsch als Muttersprache, und in den Hochburgen der Immigration wie Kreuzberg, Neukölln und im Bezirk Mitte sind es über 70 Prozent.
Diese Zahlen beschreiben die Realität einer Einwanderungsgesellschaft, die das lange selbst nicht wahrhaben wollte. Sie fügen sich zum Bild einer ethnisch, religiös und kulturell vielfältigen Gesellschaft, die sich partout nicht mehr auf den gemeinsamen Nenner einer „deutschen Leitkultur“ bringen lässt. Weder ist die Mehrheitsgesellschaft der „Eingeborenen“ kulturell homogen noch sind es die Zugewanderten, die aus einer Vielzahl von Herkunftsnationen kommen und die unterschiedlichsten Lebensstile pflegen. Das gilt auch für die drei Millionen nomineller Muslime in Deutschland, die verschiedenen Glaubensrichtungen angehören und längst nicht alle einen „starken“, aktiven Glauben praktizieren.
Man kann mit guten Gründen sagen, dass das Zusammenleben einer solchen Vielzahl von Menschen unterschiedlichster Herkunft, Sprache und Kultur in der Bundesrepublik bisher überraschend konfliktarm funktioniert. Überraschend deshalb, weil Deutschland weder seiner Tradition nach auf diese Entwicklung vorbereitet war noch von der jahrzehntelang praktizierten Politik darauf vorbereitet wurde. Dennoch hat sich in vielen Stadtquartieren, Betrieben, Schulen und Hochschulen ein fast selbstverständliches Neben- und Miteinander entwickelt. Viele Kirchengemeinden pflegen den interreligiösen Dialog, in Sportvereinen wird gemeinsam trainiert, es gibt interkulturelle Wochen, Festivals und den Karneval der Kulturen. Von einer latenten Bürgerkriegssituation sind wir weit entfernt.
Weshalb ist die Rede von der multikulturellen Gesellschaft trotz dieser relativen Normalität des Zusammenlebens in Misskredit geraten? Zum einen wurde im links-grünen Milieu lange ein rosarotes Bild von „Multikulti“ gemalt, das lediglich die Vorzüge einer bunt gemischten Einwanderungsgesellschaft beschwor und ihre Konflikte, Reibungspunkte und Zumutungen ignorierte. Diese Zeit des naiven Multikulturalismus und der Schwärmerei von „offenen Grenzen“ ist allerdings schon Jahre vorbei, nicht erst seit ukrainische Menschenhändler und Zwangsprostituierte in die Schlagzeilen kamen. Es ist unübersehbar geworden, dass erfolgreiche Integration von Migranten kein Selbstlauf ist, sondern bewusste Bemühungen auf beiden Seiten erfordert. Das gilt umso mehr, wenn es sich – wie in unserem Fall – mehrheitlich um die Zuwanderung bildungsferner Schichten handelt, oft aus ländlichen Gebieten, die als billige Arbeitskräfte ins Land geholt wurden und große Probleme haben, Anschluss an die moderne Wissensgesellschaft zu finden.
Was als ethnischer oder kultureller Konflikt erscheint, entpuppt sich oft im Kern als soziale Frage. Migranten sind heute weit überdurchschnittlich arbeitslos und von Armut bedroht, ihre Kinder scheitern schon früh am deutschen Bildungssystem und geraten in das gleiche soziale Abseits wie ihre Eltern. Neu ist lediglich, dass ein Teil dieser Jugendlichen der zweiten und dritten Generation sich nicht mit der gleichen Demut in die soziale Deklassierung fügt wie ihre Eltern. Stattdessen entwickeln sie eine eigene Außenseiter-Identität und setzen sich bewusst von der deutschen Mehrheitsgesellschaft ab. Diese Tendenzen zur Selbst-Gettoisierung werden weiter zunehmen, wenn der soziale Teufelskreis nicht durchbrochen wird, in dem sich viele junge Migranten befinden. Erfolgreiche Einwanderungsgesellschaften ermöglichen einen sozialen Fahrstuhl-Effekt über die Generationen hinweg: Aufstieg durch harte Arbeit und Bildung. In Deutschland steckt ein Großteil der Migranten zwischen Keller und Erdgeschoss fest. Was die Präsenz von Immigranten in den Führungsetagen von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft betrifft, sind wir nachgerade ein Entwicklungsland.
Die deutsche Linke ist lange der Frage ausgewichen, was die multikulturelle Gesellschaft zusammenhält; was sie davor bewahrt, in einander befehdende ethnische und kulturelle Partikel auseinander zu fallen. Auch wenn die Forderung nach einer für alle verbindlichen Leitkultur in die Irre führt, verschwindet ja nicht die Herausforderung an jede Gesellschaft, eine „Einheit in der Vielfalt“ herzustellen. Die gängige Antwort auf diese Frage lautet: Alle müssen die „Werte des Grundgesetzes“ anerkennen, die verfassungsmäßigen Institutionen respektieren und sich an die geltenden Gesetze halten.
Dieses Postulat ist ebenso richtig wie banal. Reicht es hin, um ein politisches Gemeinwesen zu konstituieren, das auch auf ein Mindestmaß an gegenseitigem Vertrauen und Solidarität angewiesen ist? Dazu braucht es auch eine gemeinsame Sprache im elementaren Sinn – als Voraussetzung der Kommunikation und Verständigung. Deutsch zu lernen ist also nicht nur eine grundlegende Voraussetzung für den beruflichen Erfolg und die soziale Integration von Migranten, es ist auch Bedingung für ihre politische Integration als Bürger der Republik. Es war deshalb mehr als fahrlässig, dass die Sprachförderung von Kindern und Jugendlichen aus Einwanderungsfamilien erst so spät als dringliches Erfordernis der Bildungspolitik erkannt wurde.
Zur Bildung eines politischen Gemeinwesens gehört auch ein Mindestmaß der Kenntnis der Geschichte, der „großen Erzählungen“, die eine Nation konstituieren. Für das Selbstverständnis des heutigen Deutschland ist der Erfahrungshintergrund von zwei Weltkriegen, des Nationalsozialismus, der Teilung und Wiedervereinigung des Landes grundlegend. Dieses Wissen muss auch den Zuwanderern vermittelt werden, wenn sie Bürger dieses Landes sein sollen.
Sollen sie das überhaupt? Und wollen sie es? Die Antwort auf diese Frage ist keineswegs unumstritten – im Gegensatz etwa zu den USA und Kanada. Wer nach Kanada auswandert, will in der Regel auch kanadischer Bürger werden – und er wird als Neubürger willkommen geheißen, ohne seine Herkunftskultur beim Zoll abgeben zu müssen. Beides ist bei uns nicht selbstverständlich. Das auf ethnischer Abstammung fußende deutsche Staatsbürgerschaftsrecht wurde erst von der rot-grünen Koalition um das Geburtsrecht ergänzt – Deutscher kann jetzt werden, wer in Deutschland geboren ist, unabhängig von der Herkunft seiner Eltern. Im Denken vieler Deutscher ist diese Revolution noch keineswegs angekommen. Die Beispiele sind Legion, dass Deutsche türkischer Herkunft als „Türke“ angesprochen und behandelt werden: einmal Ausländer, immer Ausländer.
Umgekehrt beantworten viele Immigranten die Vorbehalte, versteckten Ressentiments und offene Ablehnung, mit der ihnen viele Einheimische begegnen, mit einer ausgeprägten Reserve gegenüber ihrem „Gastland“. Das gilt wohl im besonderen Maße für türkische Immigranten. Sie kommen aus einem Land, dessen Nationalismus noch nicht ausgeglüht ist, und im Zweifel fühlen sich die meisten immer noch als türkische Patrioten. Das wird nicht nur bei deutsch-türkischen Fussballspielen deutlich. Wenn der Bundestag über den Genozid an den Armeniern im ausgehenden osmanischen Reich diskutiert, protestieren die Verbände der türkischen Migranten. Türkische Medien beeinflussen die Meinungsbildung ihrer hiesigen „Landsleute“, zu Tausenden werden Bräute aus der Türkei für die hier lebenden jungen Männer importiert, der größte türkisch-muslimische Religionsverband in Deutschland ist eine Außenstelle des türkischen Staates.
Es geht nicht darum, die Bindungen der Einwanderer zu ihrem Herkunftsland, seiner Sprache und Kultur zu kappen. Aber es geht sehr wohl darum, sie für das Land zu gewinnen, in dem sie jetzt leben. Erfolgreiche Integration bedeutet die Verwandlung von Fremden in Bürger. Tatsächlich gibt es Anzeichen, dass die Entfremdung zwischen Migranten der zweiten und dritten Generation und der Mehrheitsgesellschaft wächst. Das ist ein Alarmzeichen. Wenn die Zuwanderer aus der Türkei sich nicht mit ihrer neuen Heimat identifizieren, werden sie eine nationale Minderheit in Deutschland bilden. Das mag man unter Berufung auf das zusammenwachsende Europa für undramatisch halten – darin kann aber für die Zukunft erheblicher politischer und sozialer Konfliktstoff stecken. Auch vor diesem Hintergrund sollten wir das Leitbild der multikulturellen
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Ralf Fücks ist Vorstand der Heinrich Böll Stiftung. Er war Mitglied der Zuwanderungskommission der Bundesregierung.