Europäische Einwanderungspolitik: An den Grenzen des Gleichheitsversprechens

von Sabine Mannitz

 

Bei folgendem Text handelt es sich um einen Beitrag im "Friedensgutachten 2006" (FGA). Das FGA wird alljährlich herausgegeben von der Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) zusammen mit:  Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik  an der Universität Hamburg (IFSH), Bonn International Center for Conversion (BICC ), Institut für Entwicklung und Frieden (INEF) und der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST). In 2006 wurde das FGA am 1. Juni auf der Bundespressekonferenz vorgestellt und führenden Politikern öffentlich übergeben. Es erschien im Lit-Verlag Münster, mit dessen freundlicher Genehmigung wir den Beitrag von Sabine Mannitz hier veröffentlichen. (Quelle: (Hrsg.): Reinhard Mutz, Bruno Schoch, Corinna Hauswedell, Jochen Hippler und Ulrich Ratsch Friedensgutachten 2006, Münster: Lit-Verlag 2006 (ISBN 3825895114), S. 103-11)


Seltenheitswert haben Meldungen von den Opfern, die das europäische Grenzregime fordert, nicht mehr. Auf bestimmten Routen endet der Versuch, in die EU zu gelangen, regelmäßig tragisch. Dass die Küstenwachen in Portugal und Spanien, vor Lampedusa und Sizilien schiffbrüchige Flüchtlinge im offenen Meer auflesen, wenn sie sie nicht gar als Ertrunkene bergen müssen, ist beinahe zur gewohnten Nachricht geworden. Wiederholt starben auch Afrikaner in Folge der Verletzungen, die sie sich beim Überwinden der Befestigungen um die Städte Ceuta und Melilla zugezogen hatten. Im Herbst 2005 eskalierte die Situation dort: Unter dem Eindruck eines anhaltenden Ansturms auf die spanischen Exklaven schoss die Guardia Civil im Oktober scharf. Zugleich ging Spanien unter Berufung auf ein bilaterales Abkommen zur Rückführung von Drittstaatsangehörigen dazu über, illegal Eingewanderte nach Marokko auszuweisen. Dessen inhumane Abschiebepraxis rief weltweit Proteste hervor. Humanitäre Hilfsorganisationen stellten fest, dass marokkanische Sicherheitskräfte Hunderte Flüchtlinge ohne Wasser und Nahrung an den Landesgrenzen im Wüstengebiet ausgesetzt hatten. Kritik an diesem Vorgehen wies die marokkanische Regierung zurück: All das entspreche geltendem Recht.

Dieses Drama rief zum Handeln auf. Wenige Tage nach den Ereignissen in Nordafrika traten die Innenminister der 25 EU-Mitgliedstaaten zusammen und berieten darüber, wie der irregulären Einwanderung, insbesondere der aus Afrika, begegnet werden solle. Die Grenzanlagen der spanischen Exklaven wurden unterdessen ein weiteres Mal auf nunmehr sechs Meter erhöht. Dass diese Maßnahme höchstens mittelfristig, erfahrungsgemäß jedoch eher nur kurzfristig wirksam sein würde, war in der Ministerkonferenz kaum strittig. Die Notwendigkeit einer ressortübergreifenden Koordination wurde bekräftigt, wie sie mit dem Ziel eines Early Warning System zu großen Migrationsbewegungen und -ursachen auf EU-Ebene schon seit vielen Jahren im Gespräch ist.

Dass trotz des Konsens in dieser Frage auch das Frühwarnsystem erst in Ansätzen existiert, wirft indes ein Licht auf die Problematik europäischer Einwanderungspolitik: Sie ist ein Stiefkind der Union geblieben. Beim Thema Migration wurde eine Europäisierung mittels nationaler Souveränitätsvorbehalte – wie z.B. Nichtratifizierung internationaler Abkommen oder bilaterale Spezialvereinbarungen –beharrlich verhindert. Mit dem Maastrichter EU-Vertrag wurde die Einwanderungspolitik 1992 zur gemeinschaftlichen Angelegenheit erklärt. Faktisch ist sie aber weitgehend zwischenstaatliche Domäne geblieben, und die konkreten intergouvernementalen Einigungen sind über ordnungspolitische Maßnahmen kaum hinausgegangen. Dass es auch im Oktober 2005 wieder die Innenminister waren, die sich mit dem Thema befassten, ist Zeichen der Grundlinie, in Zusammenarbeit primär irreguläre Einwanderung zu bekämpfen und Ausweisungen illegal eingereister Personen in Herkunfts- oder Transitländer, sogenannte „sichere Drittstaaten“, zu erleichtern. Kurz, sie diente bislang dem Ausbau der „Festung Europa“.

Die Engführung der Perspektive auf eine Regulierung unerwünschter Einwanderung durch Abschottung wurde im Herbst letzten Jahres jedoch aufgebrochen: Während ihres Gipfeltreffens im November 2005 verabschiedeten die europäischen Staats- und Regierungschefs eine gemeinsame, ressortübergreifende Strategie, um nicht mehr nur die illegale Einreise, sondern auch Fluchtursachen zu bekämpfen. Dieser Beitrag beleuchtet zunächst, was das gemeinschaftliche Konzept vorsieht und bewertet es anschließend im Hinblick auf seine Umsetzungsperspektiven und den migrationspolitischen Impetus.

Steuerungskonzepte der Europäischen Union

In Deutschland erntete Innenminister Schily mit seinem Vorstoß, vor den Toren der EU – bevorzugt in Nordafrika – Auffanglager für Flüchtlinge einzurichten, damit diese sich nicht mehr in untüchtigen Booten auf Atlantik und Mittelmeer begeben, 2004 herbe Kritik. Flüchtlingsorganisationen kritisierten, unter einem Fürsorge-Vorwand würden die letzten Fluchtwege in die EU geschlossen. Auch weckte das Konzept ungute Erinnerungen. Wolfgang Schäuble warf dem damaligen Bundesinnenminister vor, „Internierungslager am Rande der Sahara“ errichten zu wollen. Schily konterte, die Empörung sei scheinheilig: „Sind die Asylbewerberunterkünfte in Lampedusa/Italien ‚Internierungslager‘? [...] Warum sind Asylbewerber-Anlaufstellen in Lampedusa/Italien, die nur unter Lebensgefahr zu erreichen sind, besser als solche in Nordafrika?“ Otto Schily betonte, dass es um die Verbesserung des Flüchtlingsschutzes gehe. Abgesehen davon, dass zahlreiche Menschen bei ihren Einreiseversuchen in Seenot gerieten, seien die dann Schiffbrüchigen nicht hinreichend durch internationales Recht geschützt und würden daher von vorbeifahrenden Schiffen auch nicht unbedingt gerettet: „Das Zurückweisungsverbot der Genfer Flüchtlingskonvention findet nach Staatenpraxis und überwiegender Rechtsauffassung auf Hoher See, die exterritoriales Gebiet ist, gegenüber Personen, die Verfolgungsgründe geltend machen, keine Anwendung.“

Beim Treffen der europäischen Innen- und Justizminister im September 2005 stellte Schily seine Überlegungen mit deutlich positiverem Echo vor. Großbritannien, Italien, Spanien und Frankreich begrüßten die Überlegung, in einwanderungsstrategisch bedeutsamen Regionen wie der Ukraine oder Nordafrika EU-Aufnahmeeinrichtungen zu installieren. Großbritannien hatte sich schon 2003 dafür stark gemacht, über Asylanträge und die aus den Bescheiden resultierenden Aufenthaltstitel bzw. Abschiebungen nicht erst auf EU-Territorium zu entscheiden, sondern in Transitländern oder den Herkunftsregionen. Prinzipielle Überlegungen der Art enthält auch das Haager Mehrjahresprogramm der EU zur Stärkung von Freiheit, Sicherheit und Recht vonm 13.12.2004.  Die Dynamik, die der politische Entscheidungsprozess im Herbst 2005 gewann, wurde jedoch von der Eskalation um die spanischen Exklaven deutlich vorangetrieben.

Im November 2005 einigten sich die europäischen Regierungschefs auf ein gemeinsames Vorgehen, wie die EU-Kommission es vorschlug: Die von der Kommission der Europäischen Gemeinschaften am 12. Oktober 2005 vorgelegte „Strategie für die Außendimension des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“1  fußt auf der Feststellung, dass der Binnenraum der Union in seiner Freiheit, seiner Sicherheit und seinem Recht durch organisierte Kriminalität, illegale Zuwanderung und Terrorismus herausgefordert sei und diesen Gefahren gemeinsam zu begegnen sei. Es gelte, Rechtsstaatlichkeit, Sicherheit und Stabilität außerhalb der EU voranzubringen und die Kooperation der Mitgliedstaaten bei der inneren Sicherheit und Einwanderungskontrolle zu verstärken. Mit Bezug auf die Entwicklungsziele, die der VN-Millenniumsgipfel im Jahr 2000 in New York definiert hatte, wurde im Oktober 2005 zudem eine Strategie für die beschleunigte Entwicklung Afrikas zur außenpolitischen Aufgabe der EU erklärt. Das Ziel ist eine Halbierung der Armut bis 2015.2  Die EU optiert damit für eine Politik, die nicht allein das Eintreffen oder den Verbleib von Flüchtlingen in der Union zu regulieren sucht, sondern bei der Bekämpfung der Fluchtursachen ansetzen soll.

Der im Oktober verabschiedete Katalog, der den genannten strategischen Zielen dienen soll, kombiniert Instrumente, wie sie von jeher Teil nationaler Migrationspolitiken sind, mit strukturellen und Entwicklungsinitiativen: 

  • Institutionalisierung der seit 1998 als Ad-hoc-Gremium eingerichteten „Lenkungsgruppe“ für die ressortübergreifende Zusammenarbeit auf europäischer Ebene,

  • Bekämpfung der irregulären Einwanderung an den EU-Seegrenzen (stärkere Kontrollen, finanzielle Unterstützung und logistische Kooperation mit Drittländern bei Ausreisekontrolle und der Rückführung illegal Eingereister),

  • Aufbau einer Verwaltungsagentur für das Management der EU-Außengrenzkontrollen und die Koordination der Zusammenarbeit mit den Anrainerstaaten,
    Entwicklung regionaler Schutzprogramme, die in Zusammenarbeit mit Herkunfts- und Transitländern Flüchtlinge wiedereingliedern sollen,

  • operative Hilfen und finanzielle Anreize für Drittstaaten, die mit der EU eine Rücknahme von irregulär eingereisten Personen vereinbaren,

  • Europäisierung des Asylverfahrens durch einheitliche Kriterien der Schutzbedürftigkeit und der Aufenthalts- bzw. Abschieberegelungen,

  • langfristige Entwicklungsstrategie für Afrika.

Zu den klassischen Negativanreizen zählt der weitere Ausbau der gemeinschaftlichen Grenzschutzaktivitäten, nun vor allem entlang der Seegrenzen der EU. Hinzu kommt die konzeptionelle und operative Koordination der Rückführung illegal Eingereister, die entsprechend einheitlicher Normen und Verfahren geregelt und von Abkommen mit den Anrainerstaaten flankiert werden soll.3 Ob es in diesem Zuge auch zur Einrichtung von Auffanglagern kommt, in denen über die Anerkennung von Einwanderungsbegehren, über Aufenthaltsgewährung oder Abschiebung entschieden wird, ist gegenwärtig noch offen.

Während die ordnungspolitischen Teilpakete unter den Innenministern der EU-Staaten schon seit längerem als wünschenswerte Instrumente anvisiert worden waren, ist die Initiative zur Beschleunigung der Entwicklung Afrikas ein Pilotprojekt. Der „Europa-Afrika-Pakt“4 soll herkömmlich unverbundene Politikfelder der wirtschaftlichen und Entwicklungszusammenarbeit, der Sicherheitspolitik, Migrationskontrolle und internationalen Rechtsberatung zu einem kohärenten Konzept verknüpfen, um den Druck zur Auswanderung aus afrikanischen Staaten nachhaltig zu senken. Das Anliegen, Armutsbekämpfung und die Förderung von good governance so anzugehen, dass sie über den Raum der EU hinaus eine Verantwortungsgemeinschaft mit Institutionen wie der Afrikanischen Union und anderen regionalen Akteuren herstellen kann, ist ein ambitioniertes Ziel. Migrationspolitisch betritt die EU damit Neuland.

Ressortübergreifende europäische Migrationspolitik: Ziele und Chancen

Dass ein Großteil des internationalen Wanderungsgeschehens auf die erheblichen  Wohlstandsgefälle zwischen Nord und Süd sowie weiterhin auch zwischen West und Ost, auf politische Instabilität, Menschenrechtsverletzungen, Gewaltkonflikte, ökologische Krisen, soziale und ökonomische Verelendung in den Herkunftsregionen zurückgeht, ist bekannt.

Auch ist der Vorschlag keineswegs neu, an der Beseitigung solcher Missstände anzusetzen, um Emigrationsdruck abzuschwächen. Das Hohe Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen UNHCR hat von jeher die Notwendigkeit internationaler Hilfe als Mittel zur Fluchtprävention betont, und bei allen Detailstreitigkeiten über die Abgrenzung berechtigter von nicht „wohlbegründeten“ Auswanderungsmotiven herrschte in der politischen und Fachöffentlichkeit stets weitgehende Einigkeit in der Diagnose anhaltender Schubkräfte: „Die Zahl von Migranten und Flüchtlingen wird weiter ansteigen, weil sich keine Lösungen für die Ursachen der Migrations- und Fluchtbewegungen abzeichnen“, konstatierte Franz Nuscheler schon 1992.5  Ist das Maßnahmenpaket der Europäischen Union also ein überfälliger Schritt in die richtige Richtung?

Der „Europa-Afrika-Pakt“

Gegen eine ressortübergreifende Politik, die die Umsetzung der VN-Millenniumsagenda vorantreibt, spricht nichts. Betrachtet man jedoch, was die Kommissare der EU zu diesem Zweck im Oktober letzten Jahres mit ihren Amtskollegen der Afrikanischen Union ins Auge gefasst haben, kommen Zweifel an den Erfolgsaussichten auf: Die Infrastruktur in Verkehr und Energieversorgung soll schneller aufgebaut, Verwaltungsstrukturen sollen reformiert und die Bekämpfung ansteckender Krankheiten forciert werden. Das gesamteuropäische Entwicklungshilfebudget für Afrika wird zunächst bis 2010 verdoppelt. EU-Kommissionspräsident Barroso pointierte den Pakt so: „Es gibt mehr Geld.“

An der schon in der Vergangenheit nicht sehr erfolgreichen Investitionslogik und Planungsbürokratie wird indes nichts Nennenswertes geändert. Den Vorschlägen des britischen Premiers folgend, sollen die Weichen praktisch noch schneller und drastischer als bisher auf eine wirtschaftliche Liberalisierung und Öffnung des afrikanischen Kontinents umgestellt werden. Dass die bisherigen Freihandels- und Strukturanpassungsprogramme einen Teil der Verelendung in den ärmsten Ländern noch verschärft und zu Economics of Failure beigetragen haben, wird im strategischen Konzept der EU nicht reflektiert. Kritiker halten die ausgerufene euro-afrikanische Partnerschaft daher für die Verschleierung einer Agenda zum Vorteil Europas. Schließlich verteidigt die EU in der effektiv zum Nachteil afrikanischer Erzeuger wirksamen Zoll- und Handelspolitik wie eh und je ureigene Interessen. UNO-Sonderberichterstatter Jean Ziegler meint: „Die europäische Agrardumpingpolitik ruiniert die einzigen Einkommensquellen, die diese afrikanischen Gesellschaften noch haben, nämlich die autochthone Landwirtschaft. Europa ist schwerstens kausal mitbeteiligt an der Kreation dieses Elends, das dann die Menschen in die Flucht treibt und zu unglaublich irrationalen, lebensgefährlichen Risiken zwingt.6

Das gemeinschaftliche Grenzregime

Selbst wenn der beschlossene Entwicklungsplan für Afrika das gewünschte Ergebnis einer Halbierung der Armut bis 2015 zeitigt, sind die Auswirkungen auf das Einwanderungsgeschehen in die EU unklar. Das erklärte migrationspolitische Ziel ist die möglichst nahtlose Einreisekontrolle und die Ausweisung illegal Eingereister. Der beschlossene Ausbau des gemeinsamen Grenzregimes sowie die teils bereits geschlossenen, teils als wünschenswert vorgesehenen Rücknahmeabkommen mit Anrainer- und Transitstaaten sollen diesem Ziel dienen. So legitim das Anliegen sein mag, stellt die Strategie zum (noch) effektiveren Grenzschutz sich doch als hoch problematisch dar: Die Schaffung einer Pufferzone von angeblich sicheren, zur Rücknahme von illegal eingereisten Personen verpflichteten Staaten, Transitländern und Auswanderungsregionen rings um die EU bedeutet letztlich, dass die europäische Asylpolitik an osteuropäische und nordafrikanische Staaten delegiert wird. Praktisch hieße ein solches Outsourcing, dass die EU substanzielle Schutz(selbst)verpflichtungen aufkündigt. Flüchtlinge würden in Länder ausgelagert oder bereits dort abgefangen, deren Regierungen nicht für die Einhaltung menschenrechtlicher Standards einstehen und die zum Teil die Genfer Flüchtlingskonvention nicht unterzeichnet haben. Auf Grund ihrer demokratischen Defizite selbst Auswanderungsländer, können etwa Marokko, Tunesien oder Libyen derzeit keine glaubwürdigen Vertragspartner einer menschenrechtskonformen Behandlung von Flüchtlingen und anderen Migranten sein.

Das Vorgehen der marokkanischen Exekutive im vergangenen Jahr hat das gezeigt: „Der Mangel an demokratischen Freiheiten und die Nichtachtung der Menschenrechte ist auch in den nordafrikanischen Staaten eine Migrationsursache, die ständig an Bedeutung gewinnt. Derzeit aber liegt der Schwerpunkt der Nordafrikapolitik der EU auf der Verringerung des Migrationsdrucks und nicht auf einer Förderung der Achtung der Menschenrechte.7 

Die an sich sinnvolle Überlegung, dass Flüchtlinge angesichts lebensgefährlicher Routen besseren Schutz genießen sollten, kann daher nicht überzeugend mit einer Auffanglager- und Abschiebelogistik in Ländern gelöst werden, deren Realitäten die Rede vom „sicheren Drittstaat“ Lügen strafen. Dass auch diese Staaten – möglichst in Kooperation mit dem UNHCR – zur Installierung funktionierender Schutzsysteme bewegt werden sollten, ist das Eine. Diesen Prozess zu unterstüzen, heißt jedoch vor allem, den politischen Dialog zu verstärken und auf der Einhaltung der Menschenrechte zu bestehen. Die EU verfolgt diese Anliegen seit 1995 im sogenannten „Barcelona-Prozess“ der EuroMediterranen Partnerschaft. Im November 2005 wurde unterstützend die „Europäische Nachbarschaftspolitik“ ins Leben gerufen, die substanzielle Reformanreize vorsieht. Dieselben Länder, denen die Achtung der Menschenrechte erklärtermaßen mit Nachdruck ins Stammbuch geschrieben werden soll, kurzerhand als sichere Gefilde zu deklarieren, weil es das eigene Grenzregime befestigt, unterläuft die Glaubwürdigkeit der EU.

Migrationspolitische Defizite

Kritikwürdig ist die Wagenburgmentalität auch aus anderen Gründen. So ist die angestrebte Kontrolle bis zur vollständigen Unterbindung illegaler Einwanderung schlicht unrealistisch. Der Grenzkontrollapparat der EU-Länder ist bereits auf einem sehr hohen Niveau installiert, und die Maschen sind eng. Illegale Einreise und illegaler Aufenthalt, ob in Deutschland oder anderen Mitgliedstaaten der EU, ist dennoch eine Tatsache und wird es bleiben. Statt die berüchtigte Grenzzaun-Politik der USA nachzuahmen, kann die EU aus dortigen Erfahrungen lernen: Die Abschottung erhöht die Kosten und Risiken zu Lasten der Menschen, die gefahrvolle Routen beschreiten (müssen), während das Untertauchen jener, die legale Einreisewege wählen (können), kaum kontrollierbar ist: „Solange es staatliche Einwanderungsbegrenzungen gibt, solange wird es auch Menschen geben, die aus sozialen, ökonomischen oder politischen Gründen eine illegale Migration wagen (müssen). Daher ist es dringend notwendig, [...] kleinteilige, passgenaue Ansätze zu entwickeln, um Illegalität zu vermindern, illegale Migranten zu schützen, ihnen Wege aus der Illegalität zu eröffnen und durch koordinierte internationale Politik die sozialen und politischen Ursachen illegaler Migration, insbesondere Armut und Krieg zu beenden.8

„Passgenaue Ansätze“ und „Wege aus der Illegalität“ sind kein Synonym für offene Grenzen oder generelle Aufenthaltslegalisierungen. Es geht darum, differenzierte Kategorien zu entwickeln, sowohl zur genauen Beschreibung weiterer Kriterien jenseits der Flucht vor Verfolgung, die zum Aufenthalt in der EU berechtigen sollen, als auch, um mehr Kenntnis über die diversen Phänomene zu erlangen, die sich hinter illegaler Einreise und illegalem Aufenthalt verbergen. Gegenwärtig dominiert eine kriminalistische Herangehensweise, die z.B. sowohl Menschenhändler als auch ihre Opfer bestraft – letztere mit der Abschiebung. Ein Perspektivenwechsel, der nicht Illegalität per se zum Ausweisungsgrund macht, sondern den Grundrechtsschutz auch illegal aufhältiger Personen betont, kann helfen, eine europäische Migrations- und Integrationspolitik zu entwickeln, die gemeinsamen Interessen und humanitären Normen entspricht. So raten nicht nur Flüchtlingsorganisationen, sondern auch das International Labour Office ILO zu einem abgestuften Vorgehen, das den Gegensatz von ordnungspolitischen Anliegen und dem Aufenthaltsbegehren illegaler Migranten überwindet, indem es z.B. die Bekämpfung der organisierten Kriminalität mit einem konsequenten Schutz der Opfer von Menschenhandel und Zwangsarbeit operationalisiert und die legalen Arbeits- und Aufenthaltsmöglichkeiten ausweitet.9

Eine mir Richtlinienkompetenz ausgestattete ressortübergreifende Migrationspolitik der Europäischen Union könnten diesen Zwecken dienen. Was die Regierungen der EU-Staaten in Einwanderungsfragen bisher an gemeinschaftlicher Politik mitzutragen bereit waren, zeichnet sich jedoch durch das Primat repressiver Instrumente aus. Darin kommt ein Festhalten an Territorialkontrolle zum Ausdruck, das die vielschichtige Realität der heutigen Wanderungsprozesse übersieht und einen Einstellungswandel zur Steigerung der Akzeptanz und konstruktiven Gestaltung von Einwanderung in Europa weiter blockiert. Darunter leidet auch das Bemühen um strukturelle Ursachenbekämpfung.

Politische Fehleinschätzungen

Fluchtursachenbekämpfung wird von Experten schon lange gefordert. Bei aller Skepsis gegenüber den Erfolgsaussichten des „Europa-Afrika-Pakts“ ist insofern ein Fortschritt, dass es zum Politikziel der EU erklärt wurde, in notorischen Auswanderungsregionen zur Schaffung befriedigender Lebensumstände beizutragen. Gleichwohl kann die Fixierung auf Fluchtphänomene europäischer Migrationspolitik nicht genügen. Die Mehrzahl der Menschen, die vor Elend, Diktatur oder ökologischen Katastrophen auf der Flucht ist, gelangt nicht an EU-Grenzen. Die suggestiven Bilder vom Sturm auf die nordafrikanischen Exklaven schüren Ängste. Sowohl vom Maß des Einwanderungsdrucks als auch von den Menschen, die so Zugang suchen, vermitteln sie aber einen irreführenden Eindruck. Die sich an den Toren der EU einfinden, sind überwiegend die „jungen, arbeitswilligen Menschen“10 , deren Zuzug im beiderseitigen Interesse läge. Sie oder – schlimmer noch – nach Jahren des illegalen oder gedulteten Aufenthalts heimisch gewordene, ausgebildete, landes- und sprachkundige Personen unterschiedslos abzuschieben, um dem Wortlaut eines eng gefassten Asylbegriffs zu genügen, ist irrational und unverhältnismäßig. Forschungsergebnisse zu Migration, Integration und den Auswirkungen des internationalen Wanderungsgeschehens werden in dieser Hinsicht zu wenig berücksichtigt.

Flucht und Migration haben komplexe Ursachen. Auch der gewollte sozial-ökonomische Wandel wird in Afrika und anderen Teilen der Welt weiterhin Migrationen auslösen. Die gut belegten Wirkungen der globalen Wanderungsbewegungen einschließlich der nicht legalen geben aber wenig Anlass, für eine weitere Abschottung der EU zu plädieren. Politisch wird noch kaum aufgegriffen, dass zu der allgemein angestrebten Fluchtprävention durch Armutsbekämpfung gerade auch die Auswanderung Einzelner ein probates Mittel ist. Die finanziellen Rücküberweisungen von Migranten in ihre Herkunftsländer haben sich als bedeutsame Entwicklungsfaktoren erwiesen, die die Finanzflüsse der regulären Entwicklungshilfe bei weitem übersteigen und verlässlichere sowie besser am lokalen Bedarf orientierte Investitionen darstellen als die internationaler Akteure. Dies wird seitens der GTZ, beim Institut für Entwicklungsforschung in Dakar und von Ökonomen der Weltbank ebenso eingeschätzt wie vom Generaldirektor der Internationalen Organisation für Migration Brunson McKinley: Es sei eine „Win-Win-Situation für alle Beteiligten“.11   So schaffen nach Berechnungen im Senegal jeder Emigrant und jede Emigrantin mit Transferzahlungen aus dem Exil vier Arbeitsplätze, von denen die Hälfte bei der Rückkehr wieder wegfalle. Eine Politik der konsequenten Rückführung von illegal Eingewanderten konterkariert demnach gerade den Entwicklungsprozess, der durch Transferleistungen von Migranten belebt wurde.

Europäische Paradoxien

Es zählt zu den spezifischen Paradoxien des Mehrebenensystems EU, dass auch die positive Wirkung von Einwanderung in Brüsseler Programmpapieren längst anerkannt ist. Im Nachgang zum Europäischen Rat von Tampere machte die Kommission dem Rat, dem Europäischen Parlament, dem Wirtschafts- und Sozialausschuss und dem zuständigen Ausschuss der Regionen schon 2003 Vorschläge zur Förderung von Einwanderung, Integration und Beschäftigung,  die dem Stand der Forschung Genüge tun. Die Kommission plädiert darin für eine offensivere Immigrationspolitik: „Zum Einen erhöht sie das Angebot an Arbeitskräften, zum Anderen wirkt sie sich positiv auf die Nachfrage nach Waren aus. Was die Beschäftigungsmöglichkeiten anbelangt, so gibt es kaum Hinweise darauf, dass die Einwanderung zu mehr Arbeitslosigkeit geführt hat. Außerdem verdrängen Einwanderer in der Regel Inländer nicht von ihren Arbeitsplätzen. Schließlich scheint sich die Einwanderung bislang kaum auf die öffentlichen Finanzen der Gastländer auszuwirken.“  EU-Kommissar Frattini legte der Innenministerkonferenz im Dezember 2005 erneut nahe, das ausgebaute EU-Grenzregime nun auch durch großzügigere Aufenthaltsgewährung und konstruktive Einwanderungs- und Integrationsangebote zu ergänzen.

Obwohl die EU-Kommissionen über die Jahre immer wieder Empfehlungen ausgearbeitet haben, nach denen die irreguläre Einwanderung mit einem koordinierten Ausbau der legalen Einwanderungsmöglichkeiten zu beantworten sei, bestimmen in dieser Frage Stagnation und nationale Verweigerungshaltungen das Bild. Auch bei den Einigungen im vergangenen Jahr wurde die aktive Immigrationspolitik wieder auffällig ausgespart, so dass weiterhin kaum andere Migrationsgründe als die Flucht vor Verfolgung zum Bleiberecht in der EU verhelfen. Mit Verweis auf sicherheitspolitische Überlegungen hat Frankreich seine Einwanderungsgesetze 2005 gar verschärft. Das alles nimmt sich seltsam unzeitgemäß aus, nicht allein in Anbetracht des viel zitierten Befundes, dass Einwanderung der EU demographisch und ökonomisch nütze. Die Austauschprozesse, die mit dem Schlagwort der Globalisierung gefasst werden, beruhen im Kern auf menschlicher Mobilität. Der dichte und beschleunigte weltweite Fluss von Waren, Kapital, Informationen und Dienstleistungen geht mit einer Wanderungsdynamik einher, die auch sozial und kulturell produktiv sein kann, wenn sie als Integrationsaufgabe angenommen wird. In dieser Hinsicht ist freilich nicht nur das Vorgehen an den Außengrenzen zu überdenken. Auch der Umgang mit Einwanderern im Innern der EU stellt dieser kein gutes Zeugnis aus.

Nur die besten Köpfe?

Führende deutsche Politiker propagieren migrationspolitisch ein „Werben um die besten Köpfe“, das erwünschte „Ausländer, die uns nützen“ von solchen unterscheiden soll, „die uns ausnützen“. Diese Zuspitzung ist nur vordergründig zweckdienlich. Abgesehen davon, dass es einen unlauteren „Wettbewerb um die Köpfe“ bedeutet, weit weniger potenten Auswanderungsländern die Ausbildungskosten für hiesige Marktlücken aufzubürden, ließe ein solcher Ansatz die EU-Staaten konkurrieren, statt eine von gemeinsamen Interessen geleitete, kohärente Migrationspolitik zu befördern. Zudem schürt der Diskurs ein Klima des Ressentiments und leistet sozialen Konflikten Vorschub.
Dass es menschenrechtlichen Grundsätzen widerspricht, Menschen nach Maßgabe des Nützlichkeitskalküls zu klassifizieren, ist in anderen Worten keine bloß akademische Feststellung. In der Praxis führt die Unterscheidung zu einer generellen Skepsis, ob und welche Immigration ausreichend nütze. Sie lastet ein Ausbleiben kurzfristig messbarer Erfolge Eingewanderten an, die im Zweifelsfall nicht die Richtigen waren – um ausgewiesen zu werden? Mit Ausnahme der Höchstgebildeten bzw. -bezahlten haben Immigranten in allen europäischen Ländern trotz differenter nationaler Immigrations- und Integrationskonzepte und trotz der belegten Positiveffekte der Einwanderung ohnehin mit Diskriminierung und Misstrauen zu kämpfen. Statt auch die Verantwortung für das Gelingen der Integration noch einseitig der Minorität anzulasten, wäre es friedenspolitisch ratsam, für Immigranten zu werben, für Integration als beiderseitigen Prozess einzutreten und diesen mit Qualifizierungsangeboten zu unterstützen.

Der ironischerweise parallel zu den EU-Konsultationen über Migrationsfragen stattgefundene Aufruhr in den französischen Vorstädten im November und Dezember 2005 hat vor Augen geführt, welches Gewaltpotenzial es birgt, soziale und ökonomische Ausgrenzung hinzunehmen und das Versprechen gleicher Lebenschancen Lippenbekenntnis sein zu lassen. In mancher Hinsicht – darin waren sich Kommentatoren schnell einig – war das alles sehr französisch. Was heißt das? Der Gewaltausbruch in den Banlieues war sehr französisch, weil die Ausgrenzung in kaum einem anderen Land der EU einen so expliziten sozialräumlichen Ausdruck findet wie in den französischen Vorstädten. Überdies war der Aufruhr so französisch, weil die Diskrepanz zwischen universalem Gleichheitscredo und partikularer Ungleichheitsrealität dort besonders massiv ausfällt: Es waren mehrheitlich französische Staatsbürger, die ihren Unmut über uneingelöste Integrationsversprechen entluden. Das kann lehrreich für die EU insgesamt sein, zeigt es doch, dass die Herstellung gleicher Chancen eine Integrationspolitik jenseits formeller Zugangsregeln braucht. Angesichts des Nachholbedarfs in diesem Politikfeld bleibt zu wünschen, dass die europäischen Regierungen die gemeinschaftlichen Institutionen in der Migrationspolitik nicht länger nur zur Schließung der Grenzen nutzen, sondern auch die Brüsseler Vorschläge für eine proaktive Einwanderungs- und Integrationspolitik der Union endlich aufgreifen.

 Downlaod den Beitrag als

1 Brüssel KOM (2005) 491
2 Strategie der Europäischen Union für Afrika: Wegbereiter für einen Europa-Afrika-Pakt zur Beschleunigung der Entwicklung Afrikas, Brüssel KOM(2005) 489. Vgl. Beitrag 2.2. zu den Millennium Development Goals.
3 Kommission der Europäischen Gemeinschaften: Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedsstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger, Brüssel KOM(2005) 391.
4 Brüssel KOM(2005) 489.
5 Franz Nuscheler: „Fluchtburg“ oder „Festung“?, in: Franz Nuscheler/Otto Schmuck (Hrsg.): Die Süd-Politik der EG, Bonn 1992, S. 264.
6 Interview mit Jean Ziegler, in: Die Zeit 41 (2005)
7 Steffen Angenendt/Sonia Benyoussef: Wanderungsbewegungen aus Nordafrika und Handlungsmöglichkeiten für die Europäische Union, in: Andreas Jacobs/Carlo Masala (Hrsg.): Hannibal ante portas?, Baden-Baden 2000, S. 141.
8 Norbert Cyrus: Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus in Deutschland, in: Migration und Soziale Arbeit 27(2005): 2, S. 139.
9 Vgl. ebd.
10 Interview mit Jean Ziegler, a.a.O.
11 Hubert Beyerle: Der lange Geld-Treck nach Süden, in: Die Zeit 30 (2004)

 


 

Bild entfernt.

Dr. phil. Sabine Mannitz wurde mit einer Studie über Integrationsprozesse bei Heranwachsenden aus Immigrantenfamilien an der Europa-Uni Viadrina promoviert. Sie ist Mitarbeiterin und im Vorstand der Hess. Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung.