Ein Land ist nicht nur stark, wenn es militärisch oder wirtschaftlich mächtig ist. Ein Land kann auch mit der Großzügigkeit seines Herzens und mit der Aufgeschlossenheit seines Geistes Einfluss gewinnen.
So lautete die Maxime des ehemaligen kanadischen Premierministers Pierre Eliot Trudeau, als er vor 35 Jahren die multikulturelle Republik in Kanada ausrief und den Multikulturalismus zur Leitlinie der staatlichen Minderheitenpolitik erhob.
Heute, in der post 9/11 Welt, scheint diese Maxime schlicht unvertretbar geworden zu sein. Multikulturalismus ist in der Defensive - nicht nur in Kanada. Die Angst vor terroristischer Unterwanderung der "Parallelgesellschaften", die Sorge um Loyalitäten und Bindungen zwischen „uns“ und die Angst vor den „Anderen“ außerhalb und innerhalb der eigenen Grenzen überlagert heute auch die positive Wahrnehmung und ressourcenorientierte Würdigung von kultureller Vielfalt der Einwandergesellschaft.
Obwohl Multikulturalismus mit Ausnahme Großbritanniens und der Niederlande in den meisten Ländern Europas gar kein offizielles Politikkonzept darstellt, wird er für gescheitert erklärt. Auch hierzulande war Multikulturalismus niemals erklärtes Ziel der offiziellen Integrationspolitik. Auch nicht unter Rot-Grün, deren großes Verdienst es ist, ab 1998 die Politik der Ausländerabwehr und Realitätsleugnung beendet und erstmals eine einwanderungsorientierte Integrationspolitik auf die politische Agenda gesetzt zu haben.
Wenn sich auch nachvollziehen lässt, dass „Multikulti“ in der öffentlichen Debatte außer Kurs ist, bleibt doch die Frage, ob dies auch gerechtfertigt ist. Ist denn die oft behauptete Naivität der Multikulturalisten etwa schuld an der zunehmenden Marginalisierung und Radikalisierung von MigrantInnen und ihren Kindern? Ist zuviel oder zuwenig „Multikulti“ verantwortlich für die hohen Arbeitslosenquoten, für steigende Gewalt und Kriminalität in und außerhalb der Schulen, für die Spirale wechselseitigen Misstrauens und zunehmender Abschottung? Geht es um Polemik gegen politische Gegner und die Diskreditierung liberal-demoratischer Werte wie Gleichstellung, Diskriminierungsfreiheit und Minderheitenrechte, Respekt und Anerkennung fremder Kulturen als Bedingung und Utopie des friedlichen und freundschaftlichen Zusammenlebens von Menschen unterschiedlicher Herkünfte und kultureller Prägungen?
Sicher – gerade weil Multikulturalismus in Deutschland nie der Politik als Leitlinie gedient hat, musste er auch den Praxistest nicht bestehen. So blieb er akademisch, oft sogar empirielos, blieb Utopie und war nicht gesättigt mit Erfahrungen, zu denen notwendig auch Erfahrungen mit Konflikten, Unvereinbarkeiten und fehlenden oder falschen Prioritäten gehören.
Mit diesem Dossier wollen wir zur Klärung und auch zur notwendigen Weiterentwicklung des Multikulturalismus beitragen. In Zeiten zunehmender Verunsicherung und Ängste vor den „Anderen“, die die Debatten über „Parallelgesellschaften“, „Leitkultur“ oder „Kampf der Kulturen“ bestimmen, dürfen Brücken nicht einreißen, sondern müssen auf- und ausbaut werden. Deshalb werfen einige Beiträge des Dossiers einen kritischen Blick auf die Erfahrungen anderer Einwanderungsländer, andere fragen nach einer Neubestimmung multikultureller Politik in der demokratischen und pluralistischen Einwanderungsgesellschaft, die mit der nicht mehr wegzudenkenden kulturellen Diversität produktiv – nicht konfliktfrei! – umgeht.
Schließlich haben wir unsere Autoren und Autorinnen gebeten, das von der Grünen Bundestagsfraktion im Mai diesen Jahres verabschiedete Grundsatzpapier „Gesellschaftlicher Integrationsvertrag - Perspektive Staatsbürgerin und Staatsbürger“ zu bewerten. Führt der hier eingeschlagene Weg über einen Integrationsvertrag zum angestrebten Ziel einer multikulturellen Demokratie?
Das Dossier wurde von den Politologinnen Annie Verderosa und Marla Luther zusammengestellt und redigiert.
Verantwortlich: Olga Drossou, MID-Redaktion
August 2006