"mein horizont reicht vom ersten bis zum sechzehnten stock" oder die Entpolitisierung von Rap?

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von Sascha Verlan


Das große Wort von der Entpolitisierung des Rap ist längst zu einem Allgemeinplatz der verschiedensten HipHop-Diskurse geworden. Aber was heißt das eigentlich? Entpolitisierung von Rap? Nehmen wir ein aktuelles Beispiel: SIDO und das Aggro-Label aus Berlin. Sind die Raps aus dem Aggro-Umfeld nun jugendgefährdend oder nicht? Sind Indizierungsverfahren ein geeignetes Mittel dagegen vorzugehen? Oder wie könnte man sonst derlei Texten und Aussagen begegnen? Das waren die grundlegenden Fragen einer intensiven politischen Debatte um Kunst und Moral, Sprachverfall und Verantwortung … und letztlich auch um Migration und ihre Folgen. Ist Rap also politisch, weil er diese Debatte ausgelöst, möglich und nötig gemacht hat?

Aber sind die Aggro-Rapper deswegen politisch? Steckt hinter ihren Provokationen ein politisches Anliegen? Hat SIDO ein politisches Motiv? Bisher jedenfalls sind sie nicht durch konkrete politische Forderungen aufgefallen, haben nicht erkennen lassen, dass sie an den gegebenen Umständen etwas verändern wollen. Ist Rap also unpolitisch, weil sich seine Protagonisten um politische Fragen nicht mehr kümmern? Oder wird Rap vielleicht nur deshalb als unpolitisch bezeichnet, weil er nicht mehr unbedingt auf der richtigen Seite steht? Aber stand Rap jemals auf der richtigen Seite? Man denke nur an den offenen Antisemitismus im Umfeld von Public Enemy oder die Gewaltexzesse im Gangsta Rap.

Die Frage muss also genauer gefasst werden: Wer oder was hat sich entpolitisiert? Die Bewegung, HipHop an sich? Die Protagonisten der Szene? Die Texte der Rapper und ihre Aussagen? Oder vielleicht doch nur der Teil der HipHop-Szene, der kommerziell erfolgreich und öffentlich präsent ist? Und wenn diese Entpolitisierung von Rap tatsächlich stattgefunden hat, dann muss es davor einmal einen politischen Rap gegeben haben, möglicherweise sogar eine Politisierung von Rap.

"back to the roots" – Die Anfänge von Rap

Gehen wir zurück zum Anfang: der erste wirklich politische Rap-Text war 'The Message' von Grandmaster Flash & The Furious Five. Das war 1982, und zu einer Zeit, als die HipHop-Bewegung bereits mehrere Jahre existierte. Davor gab es sicher auch politische Texte auf den Block Parties, die Mehrheit der Rapper allerdings beschäftigte andere Themen. Und es waren auch nicht die Furious Five selbst, die diesen Text geschrieben haben, und auch keine anderen Vertreter der HipHop-Szene, sondern Ed Fletcher, Drummer bei der Sugarhill Band und hauptberuflich Geschichtsprofessor. Die Band hatte sich sogar lange dagegen gewehrt, diesen Song zu veröffentlichen. Sie konnten einfach nicht daran glauben, dass sich irgendjemand für die Probleme in ihrem Viertel interessieren würde. Mit 'The Message' wurde Rap gewissermaßen politisiert, und zwar aus kommerziellen Interessen, denn die treibende Kraft hinter all dem war Sylvia Robinson, Labelchefin von Sugarhill Records, die bereits 1979 mit 'Rapper's Delight' den ersten Rap-Hit möglich gemacht hatte.

"bring tha noise" – Der Sonderfall Public Enemy

Überspringen wir mal den WestCoast-Rap, der seit Mitte der 80er Jahre mit seinen Ghetto- und Gangstergeschichten aktuell und erfolgreich wurde. Überspringen wir auch die Frage nach der politischen Haltung und Wirkung von GangstaRap und setzen den Rückblick Ende der 80er Jahre fort mit einer Gruppe, die das Bild von Rap als einer politischen Bewegung prägen sollte wie keine andere: Public Enemy. Diese Gruppe ist in mehrerlei Hinsicht ein Sonderfall in der HipHop-Geschichte. Sie hat mit Chuck D einen einflussreichen Wortführer, der bald zum Ansprechpartner der Medien werden sollte (von ihm stammt die Bezeichnung, Rap sei das CNN der Schwarzen) und sie war musik-ästhetisch absolut neu und überwältigend. Wann hatte es das schon gegeben, dass man zu derart radikalen politischen Analysen und Forderungen tanzen konnte, tanzen musste? Public Enemy prägte vor allem auch das Bild von HipHop in Europa. Natürlich waren sie wegweisend für die aufstrebende HipHop-Szene, mehr aber noch für die ersten Journalisten und Zeitschriften, die sich mit HipHop zu beschäftigen begannen.

"ich weiß noch genau, wie das alles begann" – Die Anfänge von HipHop in Europa

Damit schien eines klar: Rap ist eine politische, eine widerständige Bewegung. Dabei wurde übersehen einerseits, dass Rap immer als Spiel funktioniert, als Zusammenspiel von respect und diss, von message und BlingBling.

Andererseits schien es kaum vorstellbar, dass Rap die Gesellschaft und das Zusammenleben der Jugendlichen verändern konnte, ohne dezidiert politische Inhalte zu vermitteln. Der Hamburger Rapper Dendemann hat es in einem Rap so ausgedrückt:

"vielleicht hab ich 'n stock im arsch und führ 'n spießerleben
aber mein zeige- und dein mittelfinger könnten peace ergeben"

Dieser Friede kann nur entstehen, wenn Zeigefinger (= teaching, message) und Mittelfinger (= fuck you, battle) im Gleichgewicht sind. Und dann braucht es auch keine dezidiert politischen Inhalte, dann wirkt HipHop allein und aus sich heraus.

Das gilt insbesondere für die frühen Jahre von HipHop in Europa: die einzelnen städtischen, aber auch die nationalen Szenen waren noch sehr klein, und so trafen sich HipHops aus ganz Europa auf den verschiedenen Jams Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre. Das geschah ganz selbstverständlich und ohne, dass dieser Zustand in Texten hätte thematisiert und propagiert werden müssen. Ähnliches gilt auch für die einzelnen Gruppe und die Sprachen, in denen gerappt wurde. Diese "pan-europäische HipHop-Szene" (Hannes Loh) zerbrach Mitte der 90er Jahre mit den ersten kommerziellen Erfolgen von Rap in Frankreich und bald darauf auch in Deutschland.

"und jetzt scheiß mal auf das gold an der wand" – Fazit

HipHop war und ist in Teilen immer politisch gewesen und in anderen entpolitisiert beziehungsweise nie politisch gewesen. Das gilt bis heute und hängt allein von der Sichtweise des Betrachters ab. Dass momentan so wenig politische Rap-Texte an die Öffentlichkeit kommen, hat weniger mit der Rap-Szene zu tun, als mit den Vorstellungen und den Erwartungen, die sich die Öffentlichkeit von Rap macht. Und da scheint momentan die Verbindung von Rap und Ghetto, Gangster, Gewalt und Geld unüberwindbar.

Andererseits sind es in Frankreich gerade und fast ausschließlich politische Texte, die öffentlich wahrgenommen werden. Ist die Rap-Szene in Frankreich damit nun politischer? Weil sie dieser öffentlichen Anforderung genügt und politische Texte produziert? Die aber, weil sie im Klischee verhaftet bleiben, weil sie keine wirklichen Analysen liefern, sondern nur reproduzieren, was bereits viele Male gesagt wurde, dennoch meist wirkungslos sind?

Die Rapper der österreichischen Gruppe Texta setzen sich in ihrem Song 'Text vs. Autor vs: Hörer' mit dem komplexen Verhältnis von Sender, Botschaft und Empfänger auseinander und kommen am Ende zu dem Schluss: "es gibt immer verschiedene Blickwinkel". Das scheint eine Binsenweisheit zu sein, und trifft dennoch den Kern der aktuellen Diskussionen. HipHop ist und war immer vielschichtiger, spannender, schwerer zu erfassen als die einzelnen Berichte, Dokumentationen und Diskussionen, als es Schlagwörter wie 'Entpolitisierung' glauben machen wollen.

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Sascha Verlan arbeitet als freier Journalist und Autor vor allem im Bereich Hörfunk.In seiner Magisterarbeit 1997 stellte er die literaturwissenschaftliche Relevanz von Rap-Texten unter Beweis.